Titelthema: Paläoanthropologie: Unsere unübersichtliche Verwandtschaft
"Na, was halten Sie davon?", fragt mich Lee Berger. Eben hat er die Deckel von zwei großen Holzkisten abgenommen. Darin liegen sorgsam arrangiert fossilisierte Knochen zweier Skelette – von menschenähnlichen Individuen, die vor rund zwei Millionen Jahren in Südafrika lebten. Berger ist Paläoanthropologe an der University of the Witwatersrand in Johannesburg. Die Fossilien, die er mir zeigt, stammen von dem erst 2008 entdeckten Fundort Malapa nicht weit von dort. Jene Homininen, inzwischen als Australopithecus sediba bezeichnet, sorgten unter den Fachleuten in den letzten Jahren für einige Aufregung – und das nicht nur, weil es so selten vorkommt, dass vom selben Individuum mehr als einzelne Knochen auftauchen, geschweige denn größere Teile eines Skeletts. Völlig anders als sonst bereitete es zudem bei diesen beiden Exemplaren wenig Mühe, festzustellen, welche nah beieinander gefundenen Fossilien zum selben Individuum gehören.
Schlagzeilen machte vielmehr Bergers These, es handele sich hierbei womöglich um Repräsentanten einer Population, die zu den direkten – und nahen – Vorläufern der Gattung Homo zählte, welche ungefähr in jener Zeit entstanden sein muss. Hierzu will er nun meine Einschätzung hören. Statt die beiden Skelette und Details der Zähne und Kiefer anzustaunen, soll ich lieber sagen, ob ich mir vorstellen kann, dass dies tatsächlich Urahnen des Menschen gewesen sein könnten, also Vorfahren der menschlichen Gattung. Oder halte ich sie eher für Angehörige einer mit unseren Vorfahren eng verwandten Seitenlinie dicht an der Wurzel der Gattung Homo, von der wir nicht direkt abstammen?
In den 1960er Jahren begann ich in Ostafrika menschliche Fossilien zu erforschen. Nach der damaligen Lehrmeinung hatten die Homininen im Wesentlichen nur eine einzige große Entwicklungslinie gehabt – an deren Ende der Homo sapiens auftrat. Die meisten ausgestorbenen, schon mehr oder weniger menschenähnlichen Wesen hielten wir für seine direkten Vorfahren, die umso affenähnlicher ausgesehen hatten, je weiter man zurückblickte. Jenes übersichtliche Bild haben die Forscher inzwischen gründlich revidiert. Mittlerweile ist, nicht zuletzt auch dank genetischer Studien, klar, dass unsere Ahnen diesen Planeten in den letzten Jahrhunderttausenden mit Angehörigen verschiedener anderer evolutionärer Linien teilten, die mit der unseren mehr oder weniger eng verwandt waren – etwa den Neandertalern oder den Denisovamenschen. ...
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