Selbstwahrnehmung: Blinde Flecke
Jeder hat sie, niemand sieht sie: blinde Flecke. Kognitive Blackouts trotz nächster Nähe, Aussetzer der Erkenntnis, ausgerechnet wenn es um einen selbst geht. Beispiele dafür gibt es viele: Der Bischof, der zur Armut aufruft, aber selbst in Saus und Braus lebt. Die Krankenschwester, die vorgibt, barmherzig zu sein, ihre wehrlosen Patienten jedoch wie eine Gefängniswärterin anherrscht. Journalisten, die andernorts Seilschaften anprangern, aber nur durch heimliche Absprachen in ihre Position gekommen sind. Immer wieder missachten wir, ohne dass wir es bemerken, ausgerechnet die Werte, in deren Namen wir angetreten sind.
Bei anderen Menschen fallen uns solche logischen Brüche in ihrem Verhalten viel eher auf als bei uns selbst. Schon in der Bibel benennt Jesus diese nur allzu menschliche Schwäche und fragt: »Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders, doch den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?« (Matthäus 7,3). Erstaunlich ist, dass auch Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater nicht vor blinden Flecken gefeit sind. Ihr »fremdanalytisch« scharfer Blick scheint sie genauso wenig vor großen Fehltritten im privaten Leben zu bewahren wie den psychologischen Laien.
Ein besonders eindrückliches Beispiel hierfür lie ferte vor ein paar Jahren der Psychotherapeut Martin Miller in seinem Buch »Das wahre ›Drama des begabten Kindes‹«, das von der schwierigen Beziehung zu seiner Mutter handelt, der berühmten Psychologin Alice Miller. Er erzählt darin die Geschichte eines blinden Flecks, der massiver kaum sein könnte: Ausgerechnet die große Kindheitsforscherin, die sich wie keine andere mit den Themen Gewalt und Missbrauch von Kindern befasste, soll, glaubt man den Schilderungen ihres Sohns, jahrelang vollkommen tatenlos geblieben sein, als ...
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