Soziobiologie: Warum gibt es Großmütter?
Weshalb beim Menschen im Unterschied zu anderen Primaten helfende Großmütter vorkommen, ist umstritten. Familien brachten sie wohl nicht immer Segen - zumindest in einer früheren deutschen Bauernbevölkerung.
Kinder wissen, wozu Großmütter da sind: Zum Spielen, Trösten, Verwöhnen. Auch junge Eltern zögern gewöhnlich nicht mit der Antwort: Die Oma hilft, wenn man sie braucht. Anthropologen fällt die Erklärung schwerer. Seit langem rätseln sie darüber, warum beim Menschen die helfende Großmutter existiert.
Sicher wissen die Forscher nur, dass Menschen ein doppelt so hohes Alter erreichen können wie die Menschenaffen. Warum aber gerade Frauen in der zweiten Lebenshälfte unfruchtbar sind, ist umstritten. Schließlich gehen die übrigen physiologischen Funktionen nur sehr langsam zurück, ebenso die Zeugungsfähigkeit von Männern. Manche Forscher vermuten den Zweck der verlängerten menschlichen Lebensspanne tatsächlich in der Großmutter. Dank ihrer Unterstützung würden jüngere Paare mehr Kinder großziehen können. Und zumindest früher konnten Frauen normalerweise den Familien ihrer erwachsenen Söhne oder Töchter erst dann ihre Zeit und Kraft schenken, wenn sie selbst keine weiteren Kinder mehr bekamen.
Aus evolutionsbiologischer Sicht müsste eine Großmutter der nächsten Generation vielerlei Vorteil bringen. Sie müsste auch ein tief begründetes Interesse am Wohlergehen ihrer Enkelkinder zeigen. Schließlich bemisst sich daran letztlich auch ihr eigener Fortpflanzungserfolg. Dass von ihrer Mutter unterstützte jüngere Frauen mehr Kinder zur Welt bringen und dass die Kinder dank der Großmutter besser ernährt werden, haben Anthropologen in einigen traditionellen Wildbeuter- und Ackerbaugesellschaften auch nachgewiesen. Inwieweit dies grundsätzlich für menschliche Familien gilt oder überhaupt für beide Großmütter, haben die Forscher allerdings bisher nicht erfasst. Unsere eigenen Untersuchungen einer historischen norddeutschen Bevölkerung bringen hier einige Überraschungen.
Mit der Großmutter trat auch die Schwiegermutter in die Familie. Kinder lieben Großmütter. Aber nicht jede Schwiegertochter liebt ihre Schwiegermutter – und umgekehrt. Die beiden »können sich nicht riechen«. So umschrieb um 160 vor Christus der römische Komödiendichter Publius Terentius Afer – genannt Terenz – in dem Stück »Hecyra« (»Die Schwiegermutter«) die Spannungen, über die viele Betroffene seit alters her klagen.
Dennoch müssten selbst Schwiegermütter nach der soziobiologischen Evolutionstheorie der jungen Familie zum Segen gereichen. Noch mehr eigene Kinder großzuziehen wäre für eine Frau zwar wahrscheinlich in der Aufrechnung günstiger, als Sohn oder Tochter bei der Kinderpflege zu helfen, doch angesichts der Alterssterilität einer Frau lohnt sich der Einsatz für die Enkelkinder durchaus.
Ob solche biologischen Überlegungen generell stimmen, können nur Vergleiche vieler Menschengruppen aus unterschiedlichsten Kulturen zeigen. Erst dann dürfte sich auch herausstellen, wieso es Großmütter wirklich gibt. Wie auch bei anderen Fragen über die Evolutionshintergründe menschlichen Verhaltens interessiert Soziobiologen die Variabilität des Phänomens. Sie möchten herausfinden, inwieweit sich der Beitrag von Großmüttern in einzelnen Kulturen und Lebensnischen unterscheidet und welche Folgen dies für ihre Kinder und Enkel hat. Ob ältere Frauen ihre Nachkommen unterstützen, auch auf welche Art und in welchem Umfang sie dies leisten, kann zum Teil von Traditionen, von der wirtschaftlichen Situation oder der Gesellschaftsschicht abhängen. Um die Evolution solchen Verhaltens zu erkennen, müsste man den gemeinsamen Kern herausarbeiten.
Zu diesem Puzzle wollte unsere Arbeitsgruppe ein Stück beitragen. Wir untersuchen Reproduktionsstrategien unserer nahen Vorfahren. Mit dem Begriff Reproduktionsstrategie meinen Soziobiologen unbewusste Entscheidungen – genauer gesagt festgelegte Vorgaben für Handlungsrichtungen –, deren Grundlage in der Evolution entstand. Die Forscher vermuten, dass bestimmte bewährte soziale Verhaltensstrategien, wie sie dies nennen, eine genetische Basis haben.
Kinderreichtum nicht erwünscht
Seit längerem analysieren wir die vormoderne Bevölkerung der Krummhörn, der ostfriesischen Küstenmarsch nordwestlich von Emden. Dazu werten wir Kirchenregister und andere historische Quellen aus. Für das 18. und 19. Jahrhundert haben wir aus ungezählten Einträgen in den Kirchenbüchern zu Geburten, Hochzeiten und Todesfällen individuelle Lebensläufe Tausender von Personen nachgezeichnet. Aus diesen Einzelschicksalen rekonstruierten wir mit massivem Computereinsatz die Geschichten von über 23000 Familien aus bisher 19 Kirchspielen (siehe Spektrum der Wissenschaft 6/1995, S. 70).
Wir hofften, aus diesen Daten auch etwas über Großeltern und das Schicksal ihrer Kinder und Enkel zu erfahren. Wir erwarteten nichts anderes, als auch für die Altvorderen Ostfrieslands zweifelsfrei das segensreiche Wirken von Großmüttern dokumentieren zu können.
Als Erstes wollten wir wissen, ob die Familien in Pilsum, Pewsum, Rysum und den anderen Dörfern der Krummhörn mehr Kinder bekamen, wenn eine Großmutter zur Stelle war. Wir erfassten dabei zunächst nur, ob eine oder beide Mütter des Paares noch lebten. Unsere Hypothese: Großmütter sollten durch ihren Einsatz die Anzahl der Enkelkinder steigern. Insbesondere sollten sie engere Geburtenabstände ermöglichen, weil sie die junge Frau bei der Alltagsarbeit, wie der Nahrungsbeschaffung und -zubereitung, entlasteten.
In tropischen Wildbeutergesellschaften betragen die Abstände zwischen den Geburten im Mittel drei bis vier Jahre, bei Schimpansen dagegen fünf bis sechs Jahre. Menschenfrauen stillen ihre Kinder deutlich früher ab, als Schimpansenweibchen dies tun. Dies gelingt ihnen, so die Annahme der Anthropologen, weil die Großmütter ihnen etwa bei der Nahrungsbeschaffung hilfreich zur Seite stehen.
Die Befunde zur Kummhörn waren ernüchternd. In dieser fruchtbaren Küstenmarsch hatte eine Großmutter anscheinend keinen Einfluss darauf, wie rasch hintereinander die Kinder erschienen. Mit und ohne Oma betrugen die Geburtenabstände durchschnittlich knapp drei Jahre.
Zu unserer Überraschung hatten ältere Frauen gleichfalls so gut wie keinen Einfluss darauf, wie viele Enkelkinder geboren wurden. Nur die wenigen Familien mit über vier noch lebenden Kindern bekamen etwas öfter ein weiteres, wenn beide Großmütter noch lebten. Um die Kinderzahl zu begrenzen, haben viele Paare offenbar verhütet. Soweit die historischen Quellen aufzeigen, hätten die meisten Familien durchaus mehr Kinder bekommen können, und dies wohl auch ohne Unterstützung.
Hatten wir die falsche Frage gestellt? Vielleicht wirkte sich die Hilfe der Großmütter nicht auf die Fruchtbarkeit der Familien aus, sondern auf das Wohlergehen der Enkel – also nicht auf die Anzahl geborener Kinder, sondern darauf, wie viele von ihnen früh starben. Besonders für Krisenzeiten könnte das gegolten haben, wie bei Krankheiten oder in kritischen Lebensabschnitten von Säuglingen und Kleinkindern. Auch die Menschen der Krummhörn hatten mit einer hohen Kindersterblichkeit zu kämpfen. Durchschnittlich rund zwölf Prozent der Säuglinge überlebten das erste Jahr nicht. Das heißt, etwa jedes achte Kind starb vor dem ersten Geburtstag. Fast jedes vierte erlebte seinen fünfzehnten Geburtstag nicht. Half eine Großmutter, dass mehr Kinder groß wurden, etwa indem sie der jungen Familie in besonders kritischen Phasen der ersten Jahre beistand?
Diese These fanden wir in den Daten endlich bestätigt. Wenn beide Großmütter noch lebten, starben die Kinder wirklich etwas seltener als ohne eine Großmutter. Weil wir annahmen, dass zwei Omas besser sein würden als eine, fragten wir als Nächstes nach dem Einfluss von nur einer noch lebenden Großmutter. Dazu entschlüsselten wir die Daten getrennt nach der Großmutter väter- und mütterlicherseits.
Was nun herauskam, hatten wir keinesfalls erwartet: Die höhere Überlebenswahrscheinlichkeit junger Kinder schien in dieser Statistik lediglich auf die Großmütter von mütterlicher Seite zurückzugehen. Mit dieser Oma allein starben sogar noch etwas weniger Kinder als mit beiden Omas. Lebte aber nur noch die Mutter des Vaters, sank die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Kindes bis zum fünften Geburtstag sogar unter den Wert, als wenn es gar keine Großmutter mehr gehabt hätte.
Wohlgemerkt sind dies Durchschnittszahlen aus Tausenden von Familien, und die Verschiebungen der Prozentwerte sind klein. In vielen Einzelfällen mögen die Verhältnisse völlig anders gewesen sein. Wie diese Menschen jeweils miteinander umgingen und wie ihr Alltag aussah, wissen wir natürlich nicht. Doch was könnte der drastische Befund besagen? Warum war es für ein Kind oft besser, gar keine Großmutter mehr zu haben als die von väterlicher Seite? Kümmerten sich die Frauen wirklich weniger gern um die Kinder ihres Sohnes? War die Ursache eventuell eine Schwiegermutter-Schwiegertochter-Dissonanz, die so krass durchschlug? Oder handelte es sich gar um Ausbeutung der Kindesmutter?
Auf der Suche nach einer Erklärung prüften wir die einzelnen Altersabschnitte der Kinder. Diese Berechnungen brachten ein klares, auf den ersten Blick aber nicht weniger verblüffendes Muster: Ein erhöhtes Sterberisiko bei vorhandener Großmutter väterlicherseits bestand nur im ersten Lebensmonat. Ohne diese Großmutter starben im ersten Monat rund ein Drittel Säuglinge weniger. Auf tausend Kinder umgerechnet starben ohne eine Großmutter väterlicherseits etwa 38 Säuglinge in den ersten Wochen, dagegen rund 57, wenn sie noch lebte. Auch später erhöhte diese Oma das Sterberisiko eher, als dass sie es verringerte. In den Zahlen schlägt sich dies aber kaum nieder, weil die Sterblichkeit dann insgesamt viel geringer war. Doch im Ganzen drückten diese Effekte die durchschnittlichen Überlebenszahlen bis zum fünften Geburtstag herunter.
Dagegen wirkte sich die Großmutter mütterlicherseits fast durchgehend günstig aus. Im Durchschnitt erlebten von tausend Kindern etwa 126 nicht den ersten Geburtstag. War diese Oma vorhanden, starben im ersten Lebensjahr etwa 93. Am deutlichsten zeigte sich der Effekt in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres. In diesem Altersabschnitt starben ohne sie fast 34 anstatt etwa 17 von tausend Kindern. Die Großmutter mütterlicherseits half sozusagen mit, allein in diesem Lebensabschnitt etwa jedes zweite Kind zu retten, das sonst gestorben wäre.
Dieses Ergebnis konnte eigentlich nur bedeuten, dass beide Großmütter mit der jungen Familie völlig unterschiedlich gestaltete Kontakte unterhielten. Falls das zutraf, dürfte es keineswegs egal gewesen sein, ob die Großmutter so nah lebte, dass sie die junge Familie beinahe täglich sah, oder ob sie diese nur gelegentlich besuchte.
Wir verglichen also die Sterbewahrscheinlichkeit für Kinder mit einer Oma im eigenen Dorf mit der, wenn diese in einer anderen Gemeinde lebte. Den Daten ließ sich nur entnehmen, ob die Oma im selben Ort wohnte. Wann sie auch zum selben Haushalt gehörte, wissen wir leider nicht. Nun bestätigte sich, dass die beschriebenen Effekte beider Art sich abschwächten, wenn die betreffende Großmutter einen anderen Wohnort hatte. Lebte die Mutter der Kindesmutter im selben Ort, half das den Kindern statistisch in beinahe allen untersuchten Altersklassen noch mehr als im Gesamtdurchschnitt.
Noch krasser spitzten sich die Verhältnisse hinsichtlich der anderen Linie zu. Falls die Großmutter väterlicherseits in einem der Nachbardörfer lebte, starben im ersten Monat von den Kindern im Schnitt »nur« etwas über die Hälfte (59 Prozent) mehr als dann, wenn diese Oma schon gestorben war. Wohnte die Mutter des Kindesvaters hingegen im selben Dorf, starben von den Neugeborenen statistisch fast zweieinhalb mal so viele (also 150 Prozent mehr als ohne diese Großmutter).
Die Bilanz einer Großmutter
Der günstige Einfluss einer Großmutter mütterlicherseits auf das Kindeswohl dürfte evolutionspsychologisch einfach zu deuten sein. Im eigenen Interesse unterstützten ältere Frauen ihre verheirateten Töchter, wenn diese Kinder hatten. Auf diese Weise steigerten sie über das Wohl ihrer Enkel letztlich auch ihren eigenen Fortpflanzungserfolg. Wie die Hilfe aussah, wissen wir nicht. Vielleicht nutzte schon kluger Rat aus eigener Erfahrung.
Auffälligerweise half die Anwesenheit dieser Großmutter am stärksten im zweiten Lebenshalbjahr des Kindes, in dem sicherlich viele der Kleinkinder abgestillt wurden. Erfahrungsgemäß ist die Ernährungsumstellung oft nicht einfach und war es in Zeiten ohne vorgefertigte Kindernahrung, Schnuller und Desinfektionsmittel wohl noch weniger.
Der Effekt der Großmütter väterlicherseits lässt sich schwerer verstehen. Es scheint gerade so, als ob diese Frauen der jungen Familie eben nicht mit Rat oder Tat zur Seite standen. Zu keiner Zeit in den ersten fünf Lebensjahren der Kinder stiegen deren Überlebenschancen deutlich, wenn nur diese Oma noch lebte. Wir wissen nicht, ob ihre Hilfe nicht erwünscht war oder ihr Rat nicht angenommen wurde, oder ob sie Unterstützung verweigerte.
Nach einer Erklärung verlangt vor allem der erschreckende Befund, dass so viel mehr der Kinder schon im frühesten Säuglingsalter starben, wenn nur noch die Großmutter väterlicherseits lebte und ganz in der Nähe wohnte. Woran diese – lebend geborenen – Säuglinge starben, lässt sich den Quellen nicht zuverlässig entnehmen. Wir haben den Verdacht, dass die offenbar strenge calvinistische Grundhaltung der Mehrheit dieser Bevölkerung einen Einfluss hatte. Wenigstens zwei Deutungen erscheinen in dieser Hinsicht möglich.
Zum einen wäre nahe liegend, als Hintergrund für die so deutlich höhere Sterberate sehr angespannte Schwiegermutter-Schwiegertochter-Verhältnisse anzunehmen. Möglicherweise beeinträchtigten die Missstimmungen oft schon die Schwangerschaft oder den Geburtsverlauf, sodass die werdenden Mütter unter der hohen psychischen Belastung überdurchschnittlich oft weniger lebensfähige Kinder zur Welt brachten. Vielleicht kamen betroffene junge Frauen auch nach der Niederkunft selbst langsamer wieder zu Kräften und es fiel ihnen deswegen schwerer, den Säugling zu nähren und zu versorgen.
Aus soziobiologischer Sicht erscheint die erhöhte Säuglingssterblichkeit allerdings wenig plausibel. Selbst wenn Schwiegermutter und -tochter sich schlecht vertrugen, müsste eine Großmutter eigentlich trotzdem ihre Enkel lieben und um sie Sorge tragen. Verhaltensprogramme, die den Kindern des Sohnes schaden, dürften nicht entstanden sein.
Allerdings könnten die Krummhörner Schwiegermütter Opfer eines in Maßen durchaus sinnvollen Misstrauens gegen die Schwiegertöchter geworden sein. Der Satz »Pater semper incertus« (frei übersetzt: »Über die Vaterschaft bleibt immer ein Rest von Unsicherheit«) bewährt sich auch in vielen soziobiologischen Studien. Meist ziehen die Forscher ihn allerdings heran, um eine ambivalente Haltung von Männern gegenüber Frau und Kindern zu deuten. In der Krummhörn könnte aus solcher Unsicherheit gespeister Argwohn die Einstellung von Schwiegermüttern zu ihren Schwiegertöchtern beeinträchtigt haben. Schließlich wäre es evolutionsbiologisch gesehen Verschwendung, sich für nicht genetisch verwandte Säuglinge abzumühen. Außerdem handelten die Frauen auch im Interesse ihres erwachsenen Sohnes, wenn sie sich nicht zu sehr für Kinder einsetzten, die vielleicht doch nicht seine waren.
In diesem Sinne mögen Schwiegermütter der vormodernen Krummhörn auf die jungen Frauen generell Druck ausgeübt haben, um eheliche Treue zu erzwingen. Kamen ihnen gar Zweifel an der Tugendhaftigkeit der Schwiegertochter, benahmen sie sich wohl noch härter. Vielleicht hielten sie viele der früh gestorbenen Kinder gar nicht für eigene Enkel, ob zu Recht oder nicht. Auffällig ist, dass die Sterberate im späteren Säuglings- und im Kleinkindalter unter ihrem Einfluss nicht mehr höher war als im Durchschnitt. Das wirkt, als hätten sich die Familienbeziehungen später entspannt.
Die böse Schwiegermutter
Sofern diese Erklärung zutrifft, hätten die »mobbenden« Schwiegermütter mit ihrem strengen Regiment gewaltig überzogen. In dieser calvinistischen Bevölkerung dürfte man es mit der Ehemoral sehr genau genommen haben. Sicherlich fühlten sich gerade die älteren Frauen dafür zuständig, dass diese Moral in der eigenen Familie befolgt wurde. Wie überall mögen Seitensprünge vorgekommen sein, doch waren dies sicherlich Ausnahmen. Vergleichbar der Entwicklung in anderen Gegenden Europas dürften sich die Sitten erst im ausgehenden 19. Jahrhundert ein wenig gelockert haben.
In ihrer Härte gingen die Großmütter väterlicherseits das Risiko ein, auch leibliche Enkel zu schädigen. War sozusagen der evolutionär eingebaute »Schwiegertochter-Überwachungssensor«, der im Falle ehelicher Untreue von Schwiegerkindern sofort Alarm meldet, aufgrund der kulturellen Bedingungen überscharf eingestellt? Uns erscheint dies möglich. Wenn denn ein solcher Melder für Fehlverhalten existiert, hätte die überaus strenge calvinistisch geprägte Sexualmoral jener Zeit zu häufigem Fehlalarm beigetragen oder sogar einen Daueralarm gegeben, der nur Schaden anrichtete. Von Seiten der Soziobiologie müsste man fragen, was für eine ältere Frau letztlich ungünstiger ist: Gelegentlich ein fremdes Kind jahrelang mit durchfüttern zu helfen, oder ein eigenes Enkelkind zu verlieren – wo doch vermutlich in wenigen Jahren das nächste zur Welt kommen wird. In der Krummhörn scheint dieses Gleichgewicht nicht mehr ausbalanciert gewesen zu sein.
Noch eine zweite Erklärung für die erhöhte Säuglingssterblichkeit im ersten Lebensmonat erscheint möglich oder könnte die erste ergänzen. Auch sie stützt sich auf Verhaltensstrategien, die evolutionstheoretisch plausibel sind. Nach dieser These wären Schwiegermütter der Strategie gefolgt, ihre Schwiegertöchter im Interesse der eigenen Familie vor allem auszubeuten, also über Gebühr zur Arbeit in Haus und Garten anzutreiben.
Schonung der Schwiegertochter wäre dann nicht angesagt gewesen, auch nicht in einer Schwangerschaft oder nach einer Geburt. Sonderlich tragisch mag es nicht aufgenommen worden sein, wenn die Arbeitslast manchmal die Kraft der jungen Frau überstieg und dies auch einmal das Leben eines neugeborenen Enkelkindes forderte. Gewöhnlich war bald weiterer Nachwuchs zu erwarten. Möglicherweise wurde Fruchtbarkeit genauso selbstverständlich eingefordert wie die Arbeitsleistung. Und auch Schwiegertöchter waren ersetzbar. So zynisch dies alles klingt – in der sozialen Evolution des Menschen spielte die Verfolgung von Einzel- und Familieninteressen immer eine große Rolle.
Großmutterdasein als Kompromiss
Leider gibt es hierzu bisher keine Vergleichsstudien aus anderen Bevölkerungen oder sogar anderen Kulturen. Darum können wir noch nicht sagen, in welchem Maße diese Deutungen zutreffen oder vielleicht eine noch andere. Eine amerikanische Arbeit über das Dorfleben im Japan des 18. und 19. Jahrhunderts weist zumindest ebenfalls auf, dass die Großmütter väterlicherseits eher schadeten als nützten. Frauen lebten dort länger, wenn die Schwiegermutter früh gestorben war.
Als der amerikanische Zoologe George Williams vor fast fünfzig Jahren das Großmutter-Phänomen zu erklären versuchte, überlegte er, dass die Alterssterilität von Frauen eine biologische Anpassung sei. Sie helfe, den Lebensreproduktionserfolg zu steigern, der sich – neben der Zahl der überlebenden Kinder – auch aus der Anzahl weiterer Nachfahren bemisst. Weil Geburten im Alter zunehmend riskanter seien, würde es sich für eine Frau von einem bestimmten Zeitpunkt an mehr lohnen, ihre Lebenskraft für die schon vorhandenen eigenen Kinder und deren Nachwuchs einzusetzen. Darum sei die Menopause entstanden, während Männer bis ins Alter Kinder zeugen können.
Heutige Evolutionstheoretiker zweifeln an Williams’ »Großmutter-Hypothese«. Nach allen Modellen bringen eigene Kinder stets den größeren Fortpflanzungsgewinn. Die Forscher vermuten, dass es einfach nicht möglich war, wesentlich mehr Eizellen anzulegen. Die Eierstöcke werden schon vor der Geburt mit ihrem Vorrat ausgerüstet. Vielleicht stellt der Einsatz von Großmüttern für ihre Enkel und erwachsenen Kinder nur einen Kompromiss dar, sodass Frauen ihren Lebensreproduktionserfolg nach der Menopause indirekt doch noch etwas steigern können.
Auch wenn die helfende Großmutter eine Notlösung sein mag (und nicht der Anlass dafür, dass der Mensch so viel älter werden kann als seine Vorfahren, wie die amerikanische Anthropologin Kirsten Hawkes behauptet): Nach der Theorie sollte eine ältere Frau normalerweise das Wohlergehen der Familien ihrer Kinder stärken. Das hatten wir auch für die Krummhörn erwartet. Allenfalls könnte eine Großmutter sich neutral verhalten, doch schaden dürfte sie nicht.
Die Ergebnisse lehren uns etwas anderes. Immer vorausgesetzt, unsere Annahmen zu den Ursachen der Sterblichkeitszahlen treffen zu: Uneingeschränkt unterstützten die Frauen offenbar nur die Familien von Töchtern. Im Falle der Söhne dagegen übten sie nicht nur Zurückhaltung, sondern oft störten sie sogar. Wieweit beides tief wurzelnde, weltweit verbreitete menschliche Verhaltensstrategien sind, müssen weitere Studien klären. Möglicherweise handelt es sich um ein psychisches Muster, das nur in der abgelegenen ostfriesischen Marsch unter den damaligen kulturellen Voraussetzungen auftrat.
Doch genauso könnten die Befunde von der Krummhörn sozusagen die motivationale Ausstattung von Großmüttern und Schwiegermüttern überhaupt widerspiegeln. Dann wäre zu prüfen, welche Beweggründe ihr Verhalten vorrangig bestimmen. Zielt es darauf ab, Schwiegertöchter auszunutzen, also sowohl deren volle Arbeitskraft als auch deren Gebärfähigkeit einzufordern? Oder folgt es eher dem Motto: In der Familie von Töchtern darfst du unbegrenzt helfen, in der von Söhnen nur bedingt und mit Vorbehalt.
Was besagt dies über die Bedeutung der Großmutter für die Menschenevolution? Hätten ältere Frauen bei ihren Kindeskindern in der Gesamtbilanz mehr Schaden als Nutzen angerichtet, dann hätte die Evolution wahrscheinlich einer Verlängerung der Lebensspanne über die fruchtbare Zeit hinaus entgegengewirkt.
Dennoch passen einige Vorstellungen und Befunde bisher nicht zusammen. Viele Anthropologen glauben, dass bei den eiszeitlichen Wildbeutern der vergangenen Jahrzehntausende die Männer in der angestammten Gemeinschaft blieben, während die Frauen zu einer anderen Gruppe wechseln mussten. Dort konnte die eigene Mutter sie nicht unterstützen. Falls schon die Vorfahren des Menschen ähnliche soziale Regeln befolgten wie die Frauen der Krummhörn, kann seine lange Lebensspanne nicht den hilfreichen Großmüttern von Mutterseite zu verdanken sein. Aber vielleicht irren sich die Anthropologen in dieser Sache.
Literaturhinweise
Opposite Effects of Maternal and Paternal Grandmothers on Infant Survival in Historical Krummhörn. Von Eckart Voland und Jan Beise in: Behavioral Ecology and Sociobiology, Bd. 52, S. 435, 2002.
A Multilevel Event History Analysis of the Effects of Grandmothers in Child Mortality in a Historical German Population (Krummhörn, Ostfriesland, 1720–1874). Von Jan Beise und Eckart Voland in: Demographic Reasearch, Bd. 7, Article 13, 2002.
In Kürze
- Die Soziobiologie gilt seit vierzig Jahren als wichtiger Zweig der Verhaltensforschung. Sie untersucht soziale Erscheinungen bei Mensch und Tier auf evolutionstheoretischer Grundlage.
- Verhaltensstrategien heißen in der Evolution entstandene, also genetisch beeinflusste, komplexe Verhaltensprogramme. Soziobiologen nehmen an, dass sich auch Menschen abhängig von ihrer Lebenssituation oft nach solchen eher unbewussten Strategien verhalten.
– Der Fortpflanzungserfolg ist sozusagen die Währung, auf die es bei der Wahl einer Verhaltensstrategie ankommt. Den höchsten Wert für den Gesamterfolg haben eigene Kinder. Doch auch Kindeskinder und andere sehr nahe Verwandte zählen mit.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 2003, Seite 48
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