150. Geburtstag von Albert Schweitzer: Der »gute Deutsche« und sein Mythos
Die Antwortsuche führt zu einem Literaturfestival in die USA, nach Colorado. Genauer gesagt, in das idyllische Rocky-Mountains-Örtchen Aspen. Dort hatte im Frühsommer 1949 der deutschstämmige Geschäftsmann und Philanthrop Walter Paepcke zahlreiche Literaten von Rang und Namen versammelt, um den 200. Geburtstag Goethes gebührend zu würdigen – und zugleich die frisch gegründete Bundesrepublik in Szene zu setzen. Die Veranstalter suchten für diesen Zweck nach einem »guten Deutschen«, der als Hauptredner das neue demokratische Deutschland repräsentieren sollte.
Albert Schweitzer war der ideale Kandidat: Geboren 1875 im damals deutschen Elsass, ein Kosmopolit, der sowohl auf Französisch wie auf Deutsch schrieb und eine gelungene Brücke zwischen den bis in die unmittelbare Vergangenheit verfeindeten Ländern schlug. Schweitzer war hochgebildet – mit Promotionen in Philosophie, evangelischer Theologie und Medizin –, dazu ein großer Kenner des Werks von Johann Sebastian Bach und selbst passionierter Organist, vor allem aber Arzt. 1913 hatte er sein berühmtes Urwaldkrankenhaus im damaligen Französisch-Äquatorialafrika gegründet. Kurzum: Er verkörperte alles, was man sich von einem Prototyp aus dem Volk der Dichter und Denker wünschte – Toleranz und Tradition, Philosophie und Musik, liberale Theologie und Humanismus. Während des Zweiten Weltkriegs hatte er auch jüdischen Ärzten in Afrika Zuflucht gegeben. Eine unbescholtene Persönlichkeit, die eine neue Grundlage für ein positives Deutschlandbild legen konnte.
2000 begeisterte Menschen begrüßten den 73-jährigen Urwalddoktor in den Bergen Colorados. Dies war die Stunde null des internationalen Schweitzer-Kults. Die Medien formten aus seiner Biografie schnell eine Heiligenlegende: den Moment der Berufung – als der 30-jährige Akademiker beschloss, den Ärmsten der Welt zu dienen. Die Prüfung – der Verzicht auf eine Karriere als Theologieprofessor zu Gunsten eines Lebens unter einfachsten Bedingungen. Die Erleuchtung – als ihm im afrikanischen Dschungel seine Ethik der »Ehrfurcht vor dem Leben« aufging: dass alles Leben unabhängig von seiner Form heilig, gleichwertig und der Erhaltung würdig ist. Und die Wunder des Alltags – der Arzt, der tagsüber Kranke heilte und abends Bach-Kantaten interpretierte.
Das Deutschland der Nachkriegszeit griff den entstehenden Mythos begierig auf. Lambarene, der Ort im heutigen Gabun, in dessen Nähe Schweitzers Krankenhaus lag, wurde vielen Deutschen ein Begriff. Schulkinder schrieben Schweitzer zu Tausenden Briefe. Damen spendeten beschädigte Strümpfe, die in Afrika noch als elastische Verbände für Leprakranke Verwendung finden sollten. Selbst die Verleihung des Friedensnobelpreises im Jahr 1952 wurde als deutsche Leistung gefeiert, obwohl der Laureat noch vor der Nazizeit die französische Staatsbürgerschaft angenommen hatte.
Schweitzers Heiligsprechung hatte freilich eine Vorgeschichte: Schon in der Weimarer Republik hatte er sich als Religionsphilosoph und Kirchenmusiker einen Namen gemacht. Seine Arbeit als Urwaldarzt wurde bereits 1928 mit dem Goethe-Preis für gelebten Humanismus gewürdigt. Doch erst nach der Katastrophe des Nationalsozialismus nahm sein Kult beinahe religiöse Züge an.
Die Projektion des unbefleckten Deutschen
Wie das geschehen konnte, dazu gibt Schweitzers Biografin Caroline Fetscher eine überzeugende Antwort: Viele Deutsche wollten in ihm erkennen, wie der »wahre Deutsche« ohne die Sünden des Nationalsozialismus aussah. Ein Deutscher, der die europäischen Werte sogar in den fernen Tropen unversehrt bewahrte und der durch seine Hilfe für die unter dem Kolonialismus leidenden Afrikaner stellvertretend die deutsche Schuld wieder gutzumachen schien.
Umso merkwürdiger erscheint es, dass der Kult um Albert Schweitzer auch ein genaues Enddatum hat: Als der Nobelpreisträger 1965 im Alter von 90 Jahren in Lambarene starb, kam die Euphorie in Deutschland fast schlagartig zum Erliegen. Warum?
So seltsam es klingt: Der Grund lag vor allem in den Fortschritten des Transportwesens. In den 1950er Jahren gelangten immer mehr Journalisten nach Lambarene, 150 Kilometer vor der Mündung des Flusses Ogowe in den Atlantik. Doch was sie dort vorfanden, war weit entfernt vom viel beschworenen Humanitätsideal.
Die Hospitaloase mit 70 Gebäuden, 350 Betten und einem Lepradorf für 200 Menschen erschien vielen Besuchern als ein verwahrlostes Gelände. Die Hütten waren stickig und dunkel, überfüllt mit Kranken und von Unrat umgeben. Sanitäre Anlagen? Fehlanzeige. Ganze Familien kochten auf offenem Feuer, dazwischen graste das Vieh. Die medizinischen Geräte waren veraltet. Weiße Patienten wurden getrennt von den Einheimischen auf einer Anhöhe untergebracht.
Inmitten der Slums bewegte sich der »große weiße Doktor« mit seinem altmodischen Kolonialhelm. In all den Jahren hatte er es nicht für nötig befunden, die gabunischen Sprachen zu lernen, hatte nicht mit Afrikanern am selben Tisch gegessen und kein einheimisches medizinisches Personal ausgebildet.
Zwischen dem realen und dem utopischen Lambarene klaffte eine Lücke. Und diese wurde, wie so oft, nicht mit Tatsachen, sondern mit einem neuen Mythos ausgefüllt – diesmal mit einem negativen, der sich 1964 in dem Buch »Verdict on Schweitzer« des britischen Publizisten Gerald McKnight zu einem desillusionierenden Bild zusammenfügte: er ein patriarchalischer Despot, sein Hospital ein koloniales Relikt, das nur seiner narzisstischen Selbstdarstellung diente.
Um den idealisierten Schweitzer mit dem Anti-Schweitzer zu versöhnen, fand sich ein Kompromiss: Schweitzer als »Mann seiner Zeit« – zukunftsweisend im Denken, aber in seinem Handeln noch den Mustern der Vergangenheit verhaftet. Seine afrikanische Saga trat verschämt in den Hintergrund, während nun sein musikalisches und theologisches Werk in den Mittelpunkt der Betrachtung rückte: sein wegweisendes Bach-Buch, sein Einsatz für die historische Aufführungspraxis, sein virtuoses Orgelspiel und seine bahnbrechende Forschung zur historischen Gestalt Jesu.
Doch so bewundernswert diese geisteswissenschaftlichen Leistungen sind, entscheidend für das Verständnis Schweitzers bleibt sein Wirken als Krankenhausdirektor. Und dies lässt sich tatsächlich jenseits der beiden Mythen erforschen: Ein umfangreich erhaltenes Archiv seines Hospitals – 80 000 Briefe, Fotografien und Krankenakten – ermöglicht es, die Anatomie des Spitaldorfs und die Rolle des Urwalddoktors zu ergründen.
Das Hospital war wie ein traditionelles afrikanisches Dorf organisiert, in dem die Kranken mit ihren Angehörigen lebten und nach Belieben kamen und gingen. Eine passende Lösung für Patienten, die von weit her kamen und keine festen Termine vereinbaren konnten. Die Anwesenheit der Angehörigen schuf Vertrauen – ein besonders wichtiger Faktor in einer Region, in der viele Menschen nach Jahren des Kolonialismus Angst vor westlicher Medizin hatten, so dass sogar Notamputationen mitunter abgelehnt wurden. Manche Afrikaner verdächtigten die weißen Ärzte, mit inneren Organen zu handeln.
Doch da war noch etwas. Das Spital gewährte bemerkenswerte Freiheiten. Einheimische Bräuche wie Polygamie oder magische Geburts- und Taufriten wurden respektiert. Niemand versuchte, den einheimischen Patienten neue Vorstellungen von Gesundheit und Gesellschaft aufzuzwingen. In dieser Hinsicht unterschied sich Lambarene von den meisten Krankenhäusern in Europas Kolonien. Hilfe sollte bei Schweitzer weder Kontrolle noch Bevormundung bedeuten.
Paradoxerweise führte gerade diese authentische Struktur dazu, dass afrikanisches Personal hier eben nicht systematisch ausgebildet wurde.
Die Ärzte ihres Vertrauens
Den Hauptgrund für seine Erfolge sah Schweitzer neben den fachlichen Qualitäten in der Kontinuität seines medizinischen Personals, das über einen langen Zeitraum konstant blieb und so das Vertrauen der Einheimischen gewann. Bei der Auswahl der Ärzte ließ er sogar Handschriftanalysen anfertigen – er suchte zuverlässige Leute, die sich für mindestens zweieinhalb Jahre verpflichteten. Nur wenige erfüllten diese strengen Kriterien.
Für durchschnittlich 400 Patienten arbeiteten nur drei bis vier Ärzte und sieben bis acht Schwestern im Krankenhaus. Unter dieser enormen Belastung war eine systematische Ausbildung einheimischer Hilfskräfte schlicht unmöglich. Lediglich improvisierte, arbeitsbegleitende Schulungen ließen sich bewerkstelligen. Ehemalige Patienten und deren Angehörige, die spontan in die medizinische Pflege einbezogen wurden, konnten sich so nach und nach medizinische Grundkenntnisse aneignen.
Als Schweitzers Verehrer, der US-amerikanische Arzt und Philanthrop William Larimer Mellon, 1956 in Haiti ein ähnliches Krankenhaus eröffnete und dabei gezielt lokales Personal schulte, unterstützte Schweitzer dies jedoch, als er ihm schrieb: »Deine Aktivität ist größer als meine, die nur medizinisch ist. Du bist ein Reformer, der groß denkt.« Er selbst dachte in dieser Hinsicht klein.
Schweitzers Ziel war nicht, das Gesundheitssystem zu verändern oder die Gesellschaft weiterzuentwickeln. Er wollte Geburten begleiten, Leistenbrüche operieren, Wunden nähen
Schweitzers Ziel war es nicht, das Gesundheitssystem zu verändern, eine medizinische Ausbildung zu etablieren oder die Gesellschaft weiterzuentwickeln. Er wollte Geburten begleiten, Leistenbrüche operieren, Wunden nähen – im Kleinen helfen, soweit es im Hier und Jetzt möglich war. Er war kein Reformer. Und schon gar kein Kämpfer gegen den Kolonialismus.
Selbst Züge der Rassentrennung waren in Lambarene deutlich sichtbar. Weiße und Schwarze lebten und aßen getrennt, sowohl die Patienten als auch das Personal. Schweitzer unternahm keine Versuche, diese überkommene Praxis zu überwinden, da sie die Arbeit nicht behinderte. Während der Arbeitszeit bewegten sich alle frei auf dem Gelände und kooperierten reibungslos.
Ähnliche Prioritäten wurden auch bei den Hygienestandards gesetzt. Nur die Abfälle aus künstlichen Stoffen – Verpackungsmaterial, Chemikalien, medizinische Reststoffe – wurden fachgerecht entsorgt. Die Präsenz natürlicher Ausscheidungen von Mensch und Tier, die Schweitzers westliche Besucher vielfach schockierte, bereitete dem weltberühmten Mediziner wenig Sorgen. Wie unästhetisch sie auch sein mochten, die Behandlungsergebnisse schienen sie nicht zu beeinträchtigen. Die Infektionsraten seines Krankenhauses, so attestierten Experten, standen denen europäischer Einrichtungen in nichts nach.
So spontan, ja impulsiv Schweitzers Handlungen mitunter auch erscheinen – in ihnen lässt sich ein klarer Plan erkennen. Mit 21 zu beschließen, sich bis zum 30. Lebensjahr der Wissenschaft und Musik zu widmen und dann, nach seinen Worten, »einen Dienst am unmittelbaren Mitmenschen« zu beginnen – für einen Pfarrerssohn war das nichts Außergewöhnliches. Aber es war ein Mann wie Schweitzer nötig, um diese abstrakte Idee in einen genau geplanten Ablauf zu bringen:
Als bereits etablierter Akademiker das kirchliche Vikariat aufzugeben und noch Medizin zu studieren, um mit Taten statt mit Worten zu helfen.
Das koloniale Äquatorialafrika als Einsatzort zu wählen, wo Tausende jene elementare Hilfe brauchten, die ein Arzt auch mit bescheidener Ausbildung leisten konnte.
Gleichsam aus dem Nichts mitten im Urwald ein Krankenhaus entstehen zu lassen, um dort nach eigenen Vorstellungen zu arbeiten.
Auf teure medizinische Geräte zu verzichten – zu Gunsten von Lebensmitteln und Medikamenten, die eine wachsende Zahl von Patienten dringend benötigte.
Selbst gute Ärzte als Mitarbeiter abzulehnen, wenn ihr missionarischer Eifer die praktische Hilfe in Predigten zu verwandeln drohte.
Fundraiser in eigener Mission
Dass Schweitzer so tatkräftig am Aufbau seines eigenen Kults mitwirkte, überrascht angesichts seines gewählten Lebenswegs: Ruhm und Ansehen hätte er sich als Musiker oder Theologe bequemer verdienen können. Anders aber wäre sein Vorhaben kaum zu verwirklichen gewesen. Noch vor seiner ersten Abreise nach Afrika musste er Geld für das Projekt bei deutschen Professoren einsammeln, und auch danach lebte sein Lambarene von privaten Spenden. Mit der Zeit brauchte er für seine ursprünglich kleine Idee ein immer größeres Netzwerk von Unterstützern, vor allem in Europa und den USA. Um seine Fundraising-Ziele zu erreichen, musste Schweitzer selbst zu einem weltweiten Symbol werden.
So entstand ein zweites Lambarene – ein »globales Spital«, wie es der Medizinhistoriker Hubert Steinke von der Universität Bern nennt: ein Idealbild in der öffentlichen Wahrnehmung, ein Objekt von Erwartungen, Projektionen, aber auch von Enttäuschungen und Kritik. Für Afrika war der Nutzen genau so, wie Schweitzer es sich gewünscht hatte, ganz direkt und unmittelbar. Rund ein Drittel der Bevölkerung Gabuns wurde in seinem Krankenhaus medizinisch versorgt, wobei für Medikamente mehr ausgegeben wurde, als alle anderen Kolonialkrankenhäuser des Landes zusammen aufbringen konnten.
Doch Kritiker, wie der afroamerikanische Bürgerrechtler William Du Bois (1868–1963), warfen Schweitzer vor, seinem Projekt fehle das Bewusstsein für den Kolonialismus als Geisteskrankheit. Er hätte, statt die Körper der Afrikaner zu behandeln, die Seelen der Weißen in Europa heilen sollen.
Womöglich hat Schweitzer einfach beides getan. In Deutschland jedenfalls wirkte sein Mythos heilend. Der jungen Bundesrepublik half er bei ihrer Identitätsfindung. Und vielleicht fällt es deshalb heute so schwer, sich seinen Beitrag in Erinnerung zu rufen – wie den Namen eines Medikaments, das vor langer Zeit einmal wunderbar geholfen hat.
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