Frühmenschengeschichte: Als die West-Neandertaler in den Osten kamen
Die Neandertaler starben vor ungefähr 40 000 Jahren aus. Zuvor erlebten die Frühmenschen aber offenbar eine wechselhafte Populationsgeschichte. Wie Forscher um Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig im Fachmagazin »PNAS« beschreiben, haben sie das Erbgut einer Neandertalerin in hoher Qualität sequenziert. Deren 60 000 bis 80 000 Jahre alte Überreste fanden sich in der russischen Tschagyrskaja-Höhle im Altai-Gebirge. Der Vergleich mit bislang bekannten Genomdaten habe gezeigt, dass die Neandertaler-Frau enger mit Artgenossen aus Mitteleuropa verwandt war als mit sibirischen Vorläufern dieser Frühmenschen. Vermutlich hatten Gruppen aus dem europäischen Westen vor rund 80 000 bis 120 000 Jahren die sibirischen Neandertaler im Osten ersetzt.
Die ersten fossilen Reste eines Neandertalers kamen 1856 im namengebenden Neandertal ans Licht. Mehr als 150 Jahre später entzifferten Paläogenetiker erstmals die Kern-DNA des Frühmenschen. Inzwischen liegen zwei Erbgutsätze von Neandertalern in hoher Qualität vor, das heißt, die Genomsequenzen ließen sich mehrfach auslesen und somit die Zahl möglicher Sequenzierfehler minimieren. Das eine Genom extrahierten Forscher aus Knochen, die in der Vindija-Höhle im heutigen Kroatien ans Licht kamen. Der Fund wird auf ein Alter von zirka 50 000 Jahren datiert. Das andere Genom stammt aus einem fossilen Zehenknochen aus der Denisova-Höhle im Altai-Gebirge und ist deutlich älter als die Überreste aus der nur 106 Kilometer entfernten Tschagyrskaja-Höhle: Das Denisova-Knochenstück ist zirka 110 000 Jahre alt.
Je weiter im Osten, desto kleiner die Population
Der Vergleich der drei Genome ergab, dass die sibirische Neandertalerin enger mit dem Neandertaler vom kroatischen Fundplatz verwandt war als mit dem räumlich näher gelegenen Frühmenschen aus der Denisova-Höhle. Wie Pääbo und sein Team annehmen, hatten wohl westliche Gruppen die Population im östlichen Eurasien irgendwann ersetzt. Aus den drei Genomen berechneten Pääbo und seine Kollegen zudem die ungefähre Populationsgröße. Sie vermuten, dass die Tschagyrskaja-Neandertalerin in einer Gruppe von nicht mehr als 60 Individuen lebte. Der Neandertaler aus der Vindija-Höhle dürfte Teil einer wenig größeren Gruppe gewesen sein. Der anatomisch moderne Mensch hatte hingegen ebenso wie der Denisovaner – ein enger Verwandter der Neandertaler, der zeitgleich Asien besiedelte – mit mehr als 100 Artgenossen die Landschaft durchstreift. Auch die Gendaten des älteren Neandertalers aus der Denisova-Höhle lassen laut den Forschern auf eine kleine Gruppengröße schließen. »Die Neandertaler der Altai-Region lebten möglicherweise in kleineren und isolierteren Populationen als die Neandertaler anderswo«, schreiben Pääbo und seine Kollegen. Der mögliche Grund: »Diese Region liegt an der Peripherie ihrer geografischen Verteilung und war womöglich ein Gebiet, in dem überdies auch durchgängig Denisovaner lebten.« Ob die geografische Lage und die Nähe zu den Denisovanern tatsächlich Einfluss auf die Gruppengröße hatte, müssten aber noch weitere Untersuchungen bestätigen, betonen die Paläogenetiker.
Sicher ist jedoch, dass sich die Neandertaler und die Denisovaner trafen und auch Nachkommen zeugten. In der Denisova-Höhle entdeckten Archäologen ein Knochenstück, das sich bei Genanalysen als Überrest eines Mischlings herausstellte. Das zirka 90 000 Jahre alte Fossil stammte von einem Mädchen, das im Alter von ungefähr 13 Jahren gestorben war. Seine Mutter war eine Neandertalerin gewesen, der Vater ein Denisovaner.
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