Altern: Ist 70 wirklich das neue 60?
Oft heißt es, 60 wäre das neue 50 und 70 das neue 60. Es ist eine Binsenweisheit, die Fotos zu bestätigen scheinen. Schauen Sie sich einfach Bilder Ihrer Großeltern oder Urgroßeltern – je nach Alter – an und achten Sie auf deren gebeugte und weiche Körper, auf die faltigen Gesichter und, wie sie schon als 60-Jährige an ihren Stuhl gefesselt zu sein scheinen. Was für ein Kontrast zu den kräftigen, ins Fitnessstudio gehenden »Sexagenarians« von heute!
Doch das sind bloß oberflächliche Beobachtungen. Um herauszufinden, ob Menschen besser altern, sich Generationen also wirklich physisch und mental unterscheiden, haben Forscherinnen und Forscher Populationen verglichen, die in verschiedenen Jahrzehnten geboren wurden. Manche Werte haben sich demnach verbessert. Die Veränderungen sind jedoch nicht flächendeckend, sondern könnten von sozialen, verhaltensbezogenen und wirtschaftlichen Faktoren abhängen.
Zwei aktuelle Studien aus Finnland – eine zur körperlichen und eine zur kognitiven Alterung – zeigen eindrucksvoll Details des Generationswechsels. Die von der Gerontologin Taina Rantanen von der Universität Jyväskylä geleitete Studie vergleicht Erwachsene, die in den Jahren 1910 und 1914 geboren wurden, mit solchen, die ungefähr 30 Jahre später zur Welt kamen. Die beiden Altersgruppen wurden in den Jahren 1989 und 1990 beziehungsweise 2017 und 2018 untersucht.
Das Schöne an dieser Arbeit ist, dass das Autorenteam beide Geburtskohorten persönlich im Alter von 75 Jahren und erneut im Alter von 80 Jahren mit den gleichen umfangreichen sechs körperlichen Tests und fünf kognitiven Messungen untersucht hat. Die meisten Kohortenstudien betrachten hingegen bloß eine engere Auswahl an Messwerten, und viele von ihnen verlassen sich auf Selbsteinschätzungen.
Die später geborene Gruppe konnte demnach schneller gehen, griff fester zu und konnte mehr Kraft mit ihrem Unterschenkel ausüben. Solche Messwerte sind zuverlässige Prädiktoren für Behinderung und Sterblichkeit. Bei kognitiven Tests zeigten sich die später geborenen Probandinnen und Probanden wiederum verbal gewandter, reagierten schneller bei einer komplexen Fingerbewegungsaufgabe und erzielten eine höhere Punktzahl in einem Test, bei dem es darum ging, Zahlen und Symbole zuzuordnen.
Das Kurzzeitgedächtnis scheint gleich geblieben
Aber nicht alles hat sich über die Generationen hinweg verändert: Messergebnisse der Lungenfunktion fielen bei den Vergleichsgruppen ähnlich aus. Auch in einer Kurzzeitgedächtnis-Aufgabe, bei der man eine Reihe von Ziffern abrufen musste, zeigten sich keine Unterschiede – möglicherweise, weil das Auswendiglernen in der Schule und im täglichen Leben früher einen höheren Stellenwert hatte, vermuten die Forscher.
Viele der Ergebnisse passen zu anderen Kohortenstudien. Eine niederländische Arbeit zum kognitiven Altern aus dem Jahr 2018 ergab zum Beispiel, dass Erwachsene, die zwischen 1931 und 1941 geboren wurden, in einer Reihe von kognitiven Messungen besser abschnitten als Gleichaltrige, die bereits in den 1920er Jahren zur Welt gekommen waren – allerdings wiederum nicht beim Kurzzeitgedächtnis. Und 2013 hat eine dänische Studie gezeigt, dass durch das Geburtsjahr bedingte Unterschiede bis ins hohe Alter bestehen bleiben können: 95-Jährige des Jahrgangs 1915 übertrafen 93-Jährige, die 1905 geboren wurden, in einem kognitiven Test.
Die später geborene dänische Kohorte schnitt bei der Messung der Ganggeschwindigkeit und der Griffstärke nicht besser ab, aber ihre Mitglieder waren bei den Aktivitäten des täglichen Lebens – wie Baden und Anziehen – geschickter, was vielleicht an ihrer besseren kognitiven Verfassung lag.
Eine längere Schulbildung kann helfen, besser zu altern
Es gibt viele Gründe dafür, warum Menschen besser altern. So ist beispielsweise die medizinische Versorgung in den vergangenen Jahren vielerorts besser geworden, und es gibt weniger Raucher. Doch laut Kaisa Koivunen, der Hauptautorin der finnischen Studie, fielen in Sachen physischer Fitness andere Faktoren stärker ins Gewicht: Die später geborenen Erwachsenen waren körperlich aktiver und hatten größere Körper. Das lasse auf eine bessere Ernährung schließen.
Finnland war 1943 das erste Land der Welt, das ein kostenloses Mittagessen in der Schule eingeführt hat. Für die Hirnfunktion scheint der Schlüssel eine längere Schulbildung zu sein. Sowohl in der finnischen als auch in der niederländischen Studie verschwanden die kognitiven Unterschiede zwischen den Kohorten weitgehend, als die Forscher diesen Faktor berücksichtigten.
Bildung hat einen starken Einfluss auf Altern und Gesundheit, sagt Luigi Ferrucci, wissenschaftlicher Direktor des U.S. National Institute on Aging: »Mit mehr Bildung haben Sie vermutlich ein höheres Einkommen, was bedeutet, dass Sie eher zum Arzt gehen, sich gut ernähren und einen Job haben, der Ihren Körper nicht auszehrt.« In wohlhabenden Ländern haben diese Vorteile nicht nur das Leben verlängert, sondern höchstwahrscheinlich auch dafür gesorgt, dass die Menschen mehr Jahre in guter Gesundheit verbringen.
In den USA, sagt Ferrucci, seien die Vorteile des Wohlstands weniger gleichmäßig verteilt als in Finnland oder Dänemark. Er weist darauf hin, dass die durchschnittliche Lebensspanne in einem armen Bundesstaat wie Mississippi sieben Jahre kürzer ist als in einem reicheren wie Kalifornien. »Hier gibt es immer noch viele Menschen, die nicht die Medikamente nehmen können, die sie brauchen, weil sie sie nicht bezahlen können.« Außerdem fehlten ihnen vielleicht der Zugang zu gesunder Ernährung und Möglichkeiten für Bewegung und Lernen, die zu einem längeren Leben beitragen. Kurz gesagt: 70 mag für viele von uns das neue 60 sein, aber nicht für alle.
Dieser Artikel ist ursprünglich unter dem Titel »Is 70 Really the New 60?« im Magazin »Scientific American« erschienen.
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