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Alter Flusslauf: Die Pyramiden lagen wohl einst am Nil

Viele Königsgräber stehen auffällig weit vom Nil entfernt am Wüstenrand. Haben die Ägypter sie wirklich ohne Zugang zum Wasser erbaut? Antwort liefert der Blick in den Untergrund.
Sphinx und Pyramiden von Giseh
Wo heute vor der Sphinx von Giseh Sandmassen liegen, befand sich einst ein Hafenbecken. Das ergaben Grabungen und die Analyse von Erdbohrkernen. Laut aktuellen Forschungen standen vermutlich die meisten Pyramiden des alten Ägypten nahe dem Nil.

Aufgereiht wie die Perlen einer Kette, säumen zahlreiche ägyptische Pyramiden den Rand der Libyschen Wüste. Vom berühmten Giseh bis hinunter ins Dorf Lischt, auf einer Strecke von rund 70 Kilometern, errichteten die alten Ägypter mindestens 30 kolossale Grabbauten für ihre Könige. Eines hat Fachleute dabei seit Langem verwundert: Die Monumente stehen teils kilometerweit entfernt von der Lebensader des Landes, dem Nil. Wurden die Pyramidenfelder vor Jahrtausenden tatsächlich ohne Zugang zum Wasser gebaut? Nein, sagen nun Wissenschaftler um die Geologin Eman Ghoneim von der University of North Carolina Wilmington. Sie wollen nachgewiesen haben, dass die allermeisten Grabmäler der Könige tatsächlich per Schiff erreichbar waren. Ihre Forschungen veröffentlichten sie im Fachblatt »Communications Earth & Environment« von »Nature«.

Die Pharaonengräber aus der Epoche des Alten Reichs (zirka 2700–2181 v. Chr.) und des Mittleren Reichs (2055–1650 v. Chr.) waren keine toten Städte: Priester hielten den Tempelbetrieb und den Totenkult aufrecht, Menschen siedelten an diesen Orten und Arbeiter werkelten jahrzehntelang auf den Baustellen. Gerade für den Bau der Pyramiden war eine reibungslose Versorgung mit Materialien nötig. Konnten die Kernblöcke für die Giseh-Pyramiden, die zwischen 2600 und 2500 v. Chr. entstanden, noch im nahen Umfeld der Baustelle gebrochen werden, mussten der weiße Kalkstein für die Fassade aus Tura und der Granit für die Kammern aus Assuan herbeigeschafft werden, hunderte Kilometer von Giseh entfernt. Papyri und Texte aus Beamtengräbern bezeugen, dass die tonnenschweren Blöcke mit Schiffen an die Baustellen verbracht wurden. Aber wie überbrückte man die Distanz zwischen dem Fluss und dem Wüstenrand? Sehr wahrscheinlich nicht viel anders als auf dem Nil selbst: mit Schiffen.

Dass die Pyramidenkomplexe nicht nur vom Land, sondern auch vom Wasser her zugänglich waren, vermuten Ägyptologen schon seit einigen Jahrzehnten. Dafür haben sie auch konkrete Hinweise entdeckt, wie Mark Lehner von den Ancient Egypt Research Associates in seinem Buch »Geheimnis der Pyramiden« erklärt: Unweit der großen Sphinx von Giseh beispielsweise, wo heute weit und breit nur Wüstensand ist, stießen Ausgräber bereits in den 1990er Jahren auf die Überreste eines Hafenbeckens mit Kanälen.

Inzwischen haben Archäologen um Mark Lehner weitere Hafenanlagen bei Giseh nachgewiesen. Schiffe konnten so direkt an den so genannten Taltempeln anlegen. Denn die Königsgräber bestanden nicht nur aus Pyramiden. Es waren regelrechte Komplexe: Vom Taltempel führte ein gebauter Aufweg zum Totentempel am Fuß der Pyramide. Um das Königsgrab erstreckten sich zudem Friedhöfe mit den Gräbern von Königinnen und Beamten.

Hinweise auf alte Nilarme

Was befand sich zwischen den Hafenbereichen und dem Nil? Mehrere Studien legen inzwischen nahe: Zur Zeit des alten Ägypten standen die Pyramiden anders als heute in der Nähe von Gewässern. Zuletzt erschien dazu 2022 ein Fachartikel in »PNAS«. Forschende um Hader Sheisha, die heute an der Universität Bergen arbeitet, werteten Erdbohrkerne aus. Eine Analyse der Sedimente und der darin eingebetteten Pollen ergab, dass mindestens von vor 8000 Jahren bis vor gut 2000 Jahren ein Arm des Nilflusses nach Giseh geführt hat.

Eman Ghoneim und ihr Team haben nun den Fokus erweitert und alle Pyramiden des Alten bis Mittleren Reichs sowie der Zweiten Zwischenzeit in den Blick genommen. Welche Wasserwege verliefen einst in deren Nähe? Bekannt ist bereits, wie die Forscher in »Communications Earth & Environment« berichten, dass damals eine ausgeprägte Feuchtperiode in Ägypten allmählich zu Ende ging. Es wurde trockener, die sumpfige Nilebene versandete zusehends, und immer mehr Menschen ließen sich im Flusstal nieder. Dennoch führte der Nil vor rund 5000 Jahren deutlich mehr Wasser als heute. Dadurch bildete der Fluss mehrere Arme aus, die durch die Ebene mäanderten.

Von Lischt bei der Oase Fajum, wo vor allem die Königsgräber des Mittleren Reichs stehen, bis zum nördlich davon gelegenen Giseh rekonstruieren Ghoneim und ihre Kollegen einen längst verlandeten Nilarm, den sie Ahramat-Arm tauften (von arabisch »al-ahram«, die Pyramide). Für ihre Studie werteten sie Satellitenbilder, Erdbohrkerne und geophysikalische Daten aus. Die Forscher nutzten vor allem das Georadar und elektromagnetische Messverfahren, um Unterschiede in der elektrischen Leitfähigkeit des Bodens zu bestimmen und so verschiedene Sedimentschichten im Untergrund zu trennen. Demnach soll der Ahramat-Arm unterhalb des Plateaurands der Libyschen Wüste verlaufen sein und auch Buchten mit Wasser gefüllt haben – dort, »wo die Mehrzahl der Pyramiden liegt«, heißt es in der Studie.

Der alte Flusslauf lag weiter westlich

Dieser Nilarm bahnte sich demnach zweieinhalb bis zehn Kilometer weiter westlich seinen Weg nach Norden als der heutige Fluss. Die Fachleute können den Altarm auf einer Länge von insgesamt 64 Kilometern nachverfolgen. Das Flussbett habe sich mit einer Breite von 200, stellenweise sogar 700 Metern in die Ebene geschnitten. Der moderne Nil und der Ahramat-Arm wären demnach ähnlich breit gewesen.

Sicher war bisher, dass die Pyramidenkomplexe über Häfen bei den Taltempeln zugänglich waren. Wie Ghoneim und ihre Kollegen schreiben, sind bei fünf Königsgräbern die Überreste von Taltempeln erhalten – so bei Pyramiden in Dahschur, Sakkara, Abusir und Giseh. Sie alle befinden sich in nächster Nähe zum rekonstruierten Lauf des Ahramat-Arms, waren also direkt an den Nil angebunden.

Für die Forscher ist damit klar, dass alle Pyramiden zwischen Lischt und Giseh am Nil lagen. Allerdings zeige die genaue Lage der Königsgräber, dass der Altarm nicht immer gleich viel Wasser führte und sich nicht stets denselben Weg durch die Ebene bahnte. Vielmehr wanderte er allmählich gen Osten, bis er während des Neuen Reichs (1550–1069 v. Chr.) vollständig versiegte. So hätten die ersten Pyramiden des Alten Reichs weiter westlich gelegen als etwa die späteren Bauten des Mittleren Reichs, die schon weiter nach Osten gerückt errichtet wurden.

Der Ahramat-Arm verlandete im Lauf der Jahrhunderte. Nicht nur der Fluss selbst trug stetig Sedimente an seine Ufer, sondern auch aus der Sahara wehte es Staub und Sand ins Niltal. Zudem dürfte der Nil weniger Wasser geführt haben, da die Niederschläge zurückgingen und das Klima trockener wurde, wie Studien ergaben.

Einige Fachleute gehen davon aus, dass derartige Entwicklungen auch die so genannte Erste Zwischenzeit (2181–2055 v. Chr.) ausgelöst haben, eine politische Umbruchphase ohne pharaonische Zentralregierung, die sich an das Alte Reich anschloss. Wie Ghoneim und ihr Team referieren, gingen damals die alljährlichen Nilüberschwemmungen für einige Jahrzehnte zurück. Sie schleppten normalerweise fruchtbaren Schlamm ins Niltal, der für den Ackerbau unentbehrlich war. Ohne eine ausreichende Nilflut könnte das Pharaonenreich leicht in eine existenzielle Krise geraten sein.

Denn dank des Flusses war die alte Zivilisation der Ägypter erst entstanden. Der Nil ermöglichte ihr den Bau der monumentalen Königspyramiden. Er war ihre Lebensader.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel wurde am 28. Juni 2024 geringfügig ergänzt.

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