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Russisches Tagebuch: Andere Welten

Ein beengtes Privatinstitut und eine weitläufige Universität, ein amerikanisch geschulter Virologe und eine russische Erklärung zu den Problemen des Kommunismus.
St. Petersburg
Mittwoch, Vormittag

Am Morgen fahren wir in ein Hotel. Der Chef des "Nansen International Environmental and Remote Sensing Center", Leonid Bobylew, will uns sein Forschungsprogramm vortragen. Wir treffen uns in dem abscheulichen Sowjetbetonkasten, weil das Institut selber keinen Seminarraum hat, um auch nur unsere 20-köpfige Gruppe aufzunehmen. Das kleine Privatinstitut existiert seit 1992, unter anderem mitbegrĂĽndet durch Hartmut GraĂźl vom Max-Planck-Institut fĂĽr Meteorologie in Hamburg, der Universität Bergen in Norwegen und der Staatsuniversität von St. Petersburg. Die Idee: in Zeiten versiegender Staatsgelder unabhängige Forschungseinheiten zu schaffen, die flexibel agieren können – bei der Beschaffung von Drittmitteln aus dem Westen, frei von den BĂĽrokratiezwängen der Staatsuniversität. 30 Mitarbeiter, 67 Doktoranden und einen Etat von 250 000 Euro hat das Institut, nach meinen Begriffen eher ein größerer Lehrstuhl.

Leonid Bobylew
Leonid Bobylew | Leonid Bobylew, Leiter des "Nansen International Environmental and Remote Sensing Center"
Was machen die Nansen-Forscher? Bobylew berichtet: Schwerpunkt ist die Erforschung der Arktis, ihr Klima, das Eis, Fernerkundung, Ă–lverschmutzung und Schadstoffausbreitung in der Barentssee. Klimamodelle beziehen sie aus dem Westen. Neu fĂĽr mich: Die arktische Eisdecke schrumpft pro Jahrhundert um 3,2 Prozent. Wenn der Trend anhält, wird die Arktis laut den Rechnungen mit der Klimamodellen aus Hamburg bis zum Jahre 2090 im Sommer bereits eisfrei sein.

Anders verhält sich offenbar Grönland: Sein Eis schmilzt an den Rändern der Insel, wächst aber seit dem Jahr 2000 im Innern. Den Messungen der Umweltsatelliten ERS-1 und ERS-2 zufolge wächst die Eisschicht oberhalb von 1500 Metern jährlich um fĂĽnf Zentimeter, in der Nettobilanz ein Zuwachs. Ăśber dieses Resultat wird aber noch gestritten. Die Modelle der Nansenforscher sagen noch etwas anderes: Steigt die mittlere Erdtemperatur etwa durch Treibhauseffekt um weitere drei Grad, wĂĽrde alles Eis der Arktis innerhalb von tausend Jahren schmelzen und den Meerspiegel um sieben Meter anheben.

Die russischen Forscher streiten offenbar mit ihren Kollegen, ob die Klimaerwärmung von Menschen verursacht oder lediglich eine natĂĽrliche Schwankung darstellt – bei uns gilt ersteres ja weit gehend als Gelehrtenkonsens. Etwas Geld verdienen die Nansenforscher durch Routenberechnungen fĂĽr die Eisbrecher, die auf der Murmanskstrecke fahren. Das haben sie wohl bitter nötig. Als wir anschlieĂźend das Institut besuchen, finden wir an die 20 Forscher eingepfercht in einen Raum von kaum 50 Quadratmetern, der einstöckige Bau ist eine Bruchbude. Im Sommer soll in ein Gewerbegebiet umgezogen werden, mit etwas mehr Platz.

Mittwoch, Nachmittag

Staatliche Universität St. Petersburg
Staatliche Universität St. Petersburg | Der lange Flur der Staatlichen Universität St. Petersburg
Eintritt in eine andere Welt. Der Vizedirektor der Staatlichen Universität St. Petersburg empfängt uns in seinem Sitzungssaal. Der Weg zum BĂĽro von Vladimir Troyan fĂĽhrt im ersten Stock ĂĽber den längsten Flur, den ich je betreten habe. Schnurgerade ĂĽber vielleicht hundert Meter ziehen sich gegenĂĽber der endlosen Fensterzeile Wandschränke, ĂĽberwiegend gefĂĽllt mit alten Gelehrtenjournalen aus dem 19. Jahrhundert. Dazwischen Statuen berĂĽhmter Gelehrter: etwa von Michail Wassiljewitsch Lomonossow. Der russische Aufklärer studierte im 18. Jahrhundert in Marburg und an der Bergakademie Freiberg bei Dresden, war einer der ersten Studenten St. Petersburgs und half später die Staatliche Universität in Moskau mitzubegrĂĽnden, die heute seinen Namen trägt. Als Peter der GroĂźe 1724 die Universität in St. Petersburg grĂĽndete, waren der erste Präsident, die ersten Studenten und Professoren Deutsche (darunter der Mathematiker Leonard Euler), heute sind es 27 000 Studenten. Das deutsche Hochschulsystem wird uns immer wieder als groĂźes Vorbild hochgehalten. Das verblĂĽfft mich.

Vladimir Troyan
Vladimir Troyan | Vladimir Troyan, Vizedirektor der Staatlichen Universität St. Petersburg
Vladimir Troyan nimmt kein Blatt vor den Mund: Die Akademie der Wissenschaft – in Russland allein zuständig fĂĽr Forschung, die Universitäten widmen sich ausschlieĂźlich der Lehre – ist von ĂĽberalterten Mitgliedern besetzt, Durchschnittsalter 70, durchschnittliches Einkommen 200 Dollar. Diese mĂĽssen sich zwar im FĂĽnfjahrturnus wieder wählen lassen. Das ist jedoch zumeist eine Formalie, sodass die "Akademiker" zumeist "mit der Kreide an der Tafel" sterben. Die rund 500 Akademie-Institute (und 2000 weitere im Lande) betreiben häufig kaum noch Forschung. Nach dem Vorschlag der Putin-Regierung sollen bis 2008 davon alle bis auf 250 geschlossen werden. Das bringt die 1200 Akademiker natĂĽrlich in Rage, es gilt PfrĂĽnde – Dienstwagen, Chauffeur, Dienstwohnung – zu verteidigen. Auf den Unitoiletten fehlt es an Papier.

Mittwoch, Spätnachmittag

Biomedical Center St. Petersburg
Biomedical Center St. Petersburg | Biomedical Center St. Petersburg
Bustransfer durch die staureiche Innenstadt. Ein länglicher Flachbau ist unser Ziel: das Biomedical Center St. Petersburg. Andrei Koslow, der Chef, führt uns vor, was ein Chef à la russe ist. Der Aids-Forscher hat als Postdoc in den USA bei Robert Gallo gearbeitet, einem der Entdecker des Aids-Virus. Koslow präsentiert amerikanisch dynamisch und gibt etwas zwanghaft den am amerikanischen National Institutes of Health gelernten Verkäufer seiner Sache. Dazwischen lässt er seine Mitarbeiter und Doktoranden "vorsingen", im Zehnminutentakt, als wäre es eine Prüfung.

Was der Virologe berichtet, klingt gleichwohl dramatisch und ist es vermutlich. Es geht um Aids und HIV in der ehemaligen Sowjetunion und im heutigen Russland – und die Perspektiven erschrecken. 1987 diagnostizierte sein Institut in St. Petersburg den ersten Aids-Toten. "Das war politisch unerwĂĽnscht", berichtet der Institutsleiter und deutet die Probleme nur an, die ihm das einbrachte. "Wir sollten das, wurde uns bedeutet, doch bitte nicht an die groĂźe Glocke hängen."

Andrei Koslow
Andrei Koslow | Andrei Koslow, Leiter des Biomedical Center St. Petersburg.
Seine Testmethoden werden angezweifelt, worauf Koslow ein groĂźes Screeningprogramm entwirft. Es beweist: 90 Prozent seiner Positivtests auf HIV waren korrekt. Zwischen 2001 und 2004 werden Drogenabhänge sowie Bewohner von Studentenheimen untersucht. Ein Drittel der DrogensĂĽchtigen, im Schnitt 23 Jahre alt, erweisen sich als HIV-positiv, zumeist von HIV-Subtyp B, während im Westen der Subtyp A dominiert. Das beweist fĂĽr Koslow den Ausbreitungsweg: von Afrika ĂĽber Odessa in die Sowjetrepubliken.

Dann die Katastrophe: Um 1995 beobachtet Koslow, dass sich das HI-Virus mit einem Mal explosionsartig ausbreitet. Tauchten vorher jährlich gerade tausend neue Aids-Fälle auf, waren es nun 300 000 Neuerkrankungen pro Jahr. Bis 2008 erwartet er fĂĽnf Millionen HIV-Positive, unter denen bis 2010 eine Million sterben könnten. Der Grund fĂĽr diese "Aids-Explosion": Bis 1995 brauten sich SĂĽchtige aus Mohnkapseln ein primitives Gebräu, das sie tschornaja (die Schwarze) nannten. Die Methode scheint, glaubt Koslow, das Virus abgetötet zu haben. Dann wurde, fast ĂĽber Nacht, die Szene kommerziell mit reinem Heroin ĂĽberflutet – ĂĽber die Spritzen konnte sich das Aids-Virus nun ungebremst ausbreiten. "Es wird hundert Jahre dauern, die HIV-Epidemie einzudämmen", prognostiziert Andrei Koslow und fĂĽgt dĂĽster hinzu: "Nachdem wir einen Impfstoff haben."

Abends beim Essen

Newa-Ufer
Newa-Ufer | Gelbe Barockpaläste entlang der Newa
Mit einem Boot schippern wir ĂĽber die breite Newa zu dem Restaurantschiff "Flagman". In der blau ausgeschlagenen KapitänskajĂĽte bietet sich das Panorama von St. Petersburg: die Moschee, ein Nachbau der tartarisch-mongolischen Moschee von Samarkand, der alte Handelshafen mit seinen zwei LeuchttĂĽrmen, die Zeile der gelben Barockpaläste entlang dem Flussufer. Noch um halb elf abends steht die Sonne ĂĽber den Horizont, lässt die goldenen Spitzkuppeln russischer Kirchen aufblitzen und taucht die Architekturzeile in magische gelb-rosa Beleuchtung; Dostojewskis "WeiĂźe Nächte" vor unseren Augen. Auf der Fahrt zum Flughafen am nächsten Morgen versucht uns Raissa nochmals mit Witzen aufzuwecken: "Der Kommunismus hatte vier Probleme", sagt sie gut gelaunt. "Im Winter war es zu kalt, im Sommer zu heiĂź, im FrĂĽhjahr gab es Reformen und im Herbst bekamen wir die Krise."

Morgen geht's weiter mit der Higher School of Economics in Moskau:
"Einfach um zu ĂĽberleben"

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