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Anhedonie: Keine Lust

Manche Menschen mit psychischen Erkrankungen fühlen sich nicht nur niedergeschlagen, sondern empfinden auch keinerlei Freude mehr. Wie kann man ihnen helfen?
Frau spiegelt sich in Fenster

»Als ich meinen Partner kennen gelernt habe, hatte ich die glücklichsten sechs Monate meines Lebens. Ich hatte gerade meinen ersten Job bekommen und konnte meine Familie unterstützen.« Für die junge Frau, die sich auf der Internet-Plattform Reddit Sarisa nennt, scheint dieses Gefühl mittlerweile Welten entfernt. Seit Monaten, so schreibt sie weiter, habe sie jede Lebensfreude verloren. »Wenn ich mir vorstelle, dass ich mich den Rest meines Lebens so fühlen könnte, spiele ich mit dem Gedanken, mich umzubringen.« Mit ihrer Verzweiflung und Hilflosigkeit ist Sarisa auf Reddit nicht allein: Unter dem Schlagwort »Anhedonie« schildern hunderte Nutzer des Forums ihre Unfähigkeit, etwas zu empfinden. Sie berichten sich gegenseitig, was sie bereits versucht haben, um die Lebenslust wiederzufinden, und machen einander Mut.

Der Begriff Anhedonie ist das Gegenstück zum griechischen Wort »hēdonē´«, das so viel wie Freude oder Vergnügen bedeutet. Der französische Psychologe Théodule Armand Ribot prägte den Begriff für eine krankhafte Freudlosigkeit Ende des 19. Jahrhunderts. Eine solche betrifft zahlreiche Menschen mit psychischen Störungen und belastet die Betroffenen mitunter extrem. Der moderne Begriff bezieht sich nicht mehr nur auf einen Verlust der Freude an angenehmen Erlebnissen, sondern auch auf ein vermindertes Interesse, entsprechende Erlebnisse herbeizuführen.

Freudlosigkeit grenzt sich damit klar von Traurigkeit ab. Die Hirnforschung zeigt, dass positive und negative Emotionen nicht einfach zwei Seiten einer Medaille sind. »Vielmehr scheint es sich um zwei unterschiedliche Dimensionen zu handeln, die jeweils auf eigenen neuronalen Systemen beruhen«, erklärt Henrik Walter. Er ist Professor für Psychiatrie, psychiatrische Neurowissenschaft und Neurophilosophie an der Berliner Charité und leitet den Forschungsbereich Mind and Brain an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie.

Mit seiner Arbeitsgruppe erforscht er die Grundlagen der Lebensfreude und ihrer Abwesenheit. Ihr aktuelles Projekt namens ELAN soll dazu beitragen, die neuronalen Mechanismen der Anhedonie besser zu verstehen. Diese ist kein einheitliches Beschwerdebild, sondern kann verschiedene Funktionen des Denkens, Fühlens und Handelns und damit unterschiedliche neuronale Schaltkreise betreffen. Grob lässt sie sich in zwei Subtypen einteilen: antizipatorische Anhedonie, die durch das Fehlen von Vorfreude gekennzeichnet ist, und konsumatorische Anhedonie, die mit einem tatsächlichen Mangel an Freude und Genuss einhergeht. Henrik Walter und seine Kollegen gehen gar von vier Komponenten aus: Neben dem Vergnügen im Moment des Erlebens kann die Vorfreude gestört sein, die Motivation, eine potenziell angenehme Situation aufzusuchen, sowie die nachträgliche Bewertung, wie lohnend das Erlebnis war.

Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie möchten ins Kino gehen. Um den Entschluss zu fassen, braucht es zunächst freudige Erwartung. Sie sind neugierig auf den Film und hoffen, dass er Ihnen gefallen wird. Dann muss die Motivation ausreichen, um einen gewissen Aufwand in Kauf zu nehmen. Schließlich muss man den Besuch organisieren, sich fertig machen, das Haus verlassen und Geld in die Karten und eventuell in überteuertes Popcorn investieren. Während des Films ist man im besten Fall erheitert, gespannt auf die nächste Wendung oder ergriffen von der Tragik der Geschichte. Am Ende wägt man – meist unbewusst – ab, ob das Erlebnis die Mühe wert war und ob man es demnächst wiederholen möchte. Sind eine oder mehrere dieser Funktionen gestört, kommt es zur Anhedonie: Der Spaß bleibt auf der Strecke, das Leben verliert seine Würze.

Ein Aspekt vieler Krankheiten

Anhedonie ist neben gedrückter Stimmung und Antriebsmangel eines der drei Kernsymptome der Depression. Darüber hinaus entwickeln auch Menschen mit Schizophrenie sowie jene mit einer bipolaren Störung häufig Anhedonie. Vermindertes Lustempfinden kann zudem bei Posttraumatischer Belastungsstörung, Essstörungen, Angststörungen und Suchterkrankungen auftreten. Selbst bei einigen neurologischen Erkrankungen kommt Anhedonie vor, allen voran bei Patienten mit einer Alzheimerdemenz, Parkinson und gelegentlich bei jenen mit Hirnverletzungen.

Wie Anhedonie und Depression zusammenhängen, ist gut untersucht. Wem es an Lebensfreude mangelt, der hat ein erhöhtes Risiko, an einer Depression zu erkranken. Patienten mit ausgeprägter Anhedonie haben zudem eine schlechtere Prognose. Das belegten unter anderem Daten eines Teams um die Psychologin Dana McMakin, damals an der University of Pittsburgh. An ihrer Studie nahmen 334 depressive Jugendliche teil. Sie alle hatten ein Antidepressivum erhalten, das zur Wirkstoffklasse der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) gehört. Bei keinem von ihnen hatte das Medikament angeschlagen. Die Wissenschaftler wiesen die jungen Patienten deshalb nach dem Zufallsprinzip einer neuen Therapie zu: Sechs Monate lang erhielten sie entweder ein anderes SSRI, oder sie bekamen die Arznei und absolvierten zusätzlich eine kognitive Verhaltenstherapie. Knapp 40 Prozent der Teilnehmer ging es am Ende so viel besser, dass sie die Diagnosekriterien einer Depression nicht länger erfüllten. Der Rest unterschied sich von den Genesenen vor allem in einem Merkmal: Anhedonie. Als einziges Symptom sagte sie einen schlechteren Verlauf vorher. Probanden, bei denen die Freudlosigkeit besonders ausgeprägt war, erholten sich langsamer. Zudem hatten Betroffene weniger depressionsfreie Tage, und im Schnitt war ihre Erkrankung schwerer. Weitere Untersuchungen deuten darauf hin, dass anhedonische Depressive häufiger Rückfälle erleiden und ein höheres Sterberisiko haben. So empfinden Jugendliche, die tatsächlich einen Suizidversuch unternehmen, stärkere Anhedonie als jene, die lediglich darüber nachdenken.

Manche Menschen scheinen von Natur aus anfälliger für Anhedonie zu sein. Wahrscheinlich existiert eine erbliche Komponente. Auch belastende Lebensumstände tragen zur Entstehung von Freudlosigkeit bei. So kann chronischer Stress das mesolimbische System im Gehirn beeinflussen. Dieses wirkt über den Neurotransmitter Dopamin auf durch Belohnung gesteuerte Motivation und Lernvorgänge ein. Fehlfunktionen finden sich bei depressiven Menschen sowie bei Gesunden, die in der Vergangenheit an Depressionen litten, und bei jungen Erwachsenen mit traumatischen Erfahrungen in der Kindheit. Die so genannte Negativsymptomatik der Schizophrenie, die sich oft auch durch Anhedonie auszeichnet, geht laut einer verbreiteten Hypothese auf einen Mangel an Dopamin im mesokortikalen Teil des Belohnungssystems zurück, also in Verbindungen zur Großhirnrinde. Mesolimbische wie mesokortikale Bereiche sind nach aktuellem Wissensstand an der Anhedonie beteiligt.

Das Belohnungssystem | Wenn wir etwas als angenehm empfinden, sind in unserem Kopf ganz bestimmte Hirnregionen aktiv, die vor allem über den Neurotransmitter Dopamin miteinander kommunizieren. Drei neuronale Bahnen sind von besonderer Bedeutung: Ausgehend von einer Nervenzellgruppe im Mittelhirn, der Area tegmentalis ventralis, führen dopaminerge Verbindungen über den mesokortikalen Pfad in das Stirnhirn und über den mesolimbischen Pfad zum Nucleus accumbens. Dieses mesokortikolimbische System ist die Triebfeder unseres Handelns: Es erzeugt positive Gefühle, das Verlangen nach mehr und motiviert uns, Glück verheißende Taten zu wiederholen. Der nigrostriatale Pfad führt von der ebenfalls im Mittelhirn gelegenen Substantia nigra zum Striatum und ist in erster Linie an der Kontrolle von Bewegungen beteiligt, trägt aber auch zum Belohnungslernen bei. Dieses neuronale Netz wirkt mit bei Lernprozessen und Entscheidungsverhalten und vermittelt grundlegende Bedürfnisse – etwa nach Nahrung und Sex. Eine Besonderheit des dopaminergen Systems ist seine verzögerte Reifung. Es entwickelt sich bis ins junge Erwachsenenalter und ist erst mit etwa 20 Jahren ausgereift. Jugendliche sind deshalb anfälliger für Versuchungen.

Depressionen, die mit Anhedonie einhergehen, lassen sich oft nicht mit den üblichen Medikamenten lindern. Bei der Behandlung der Depression steht nämlich die gedrückte Stimmung im Vordergrund. Antidepressiva zielen meist auf den Neurotransmitter Serotonin ab. Da Anhedonie aber offenbar mit Veränderungen in den dopaminergen Signalwegen im Gehirn einhergeht, erproben Wissenschaftler mittlerweile entsprechende Arzneien. Pramipexol, ein Wirkstoff, der bei der Parkinsonkrankheit eingesetzt wird, bindet an Dopaminrezeptoren und ahmt damit die Wirkung des Botenstoffs nach. Dabei stimuliert er selektiv Rezeptoren vom Typ D2 und D3, die im Nucleus accubens und im Striatum vorkommen. Bei Parkinsonpatienten verringert Pramipexol nicht nur die motorischen Symptome. Die Arznei erwies sich zugleich als wirksam gegen Ängste, Depressionen und Freudlosigkeit, unter denen die Patienten oft leiden. In einer ersten Behandlungsreihe mit chronisch depressiven und bipolaren Patienten mit ausgeprägter Anhedonie zeigte das Medikament Wirkung: Hoch dosiertes Pramipexol zusätzlich zur bisherigen Medikation verbesserte bei drei Vierteln der Teilnehmer die Symptome. Diese vorläufigen Erfolge müssen jedoch weitere klinische Studien bestätigen.

Mit Arznei zum Genuss?

Dass Medikamente, die in das Dopaminsystem eingreifen, möglicherweise besser zur Behandlung der Anhedonie geeignet sind als klassische Antidepressiva, hält Henrik Walter für plausibel. »Gängige Antidepressiva steigern die Genussfähigkeit nicht, sondern können sie sogar senken. Sie beeinträchtigen beispielsweise die Libido und die Fähigkeit, einen Orgasmus zu haben.« Die Studienlage sei aktuell allerdings zu dünn, um eine Empfehlung aussprechen zu können. Und die Medikamente bergen auch Gefahren. »Dopamin-Agonisten können eine Depression möglicherweise verschlechtern und im schlimmsten Fall eine Psychose auslösen«, mahnt Ulrich Hegerl, Psychiater und Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. »Allein in Deutschland leben über vier Millionen Menschen mit Depressionen; da sollte man keine falschen Hoffnungen wecken.« Der Psychiater und Chefarzt der Klinik Königshof in Krefeld Jan Dreher sieht das ähnlich. »Es ist möglich, dass Medikamente, die auf das Dopaminsystem wirken, die Anhedonie verbessern«, erklärt er. »Da sie sich aber für die allgemeine depressive Symptomatik als unwirksam erwiesen haben, ist damit meiner Meinung nach nicht viel gewonnen. Im klinischen Alltag betrachten wir das Krankheitsbild als Ganzes.«

In einer 2019 veröffentlichten Überblicksarbeit widmete sich ein Team um Bing Cao von der Universität Peking dem Thema, mit welchen Arzneien man der Anhedonie entgegenwirken kann. Die Autoren sichteten 17 Studien zur Wirkung von insgesamt 14 Medikamenten bei Erwachsenen mit Depressionen. Die meisten Antidepressiva linderten die Symptome nur geringfügig. Stoffe, die den Botenstoff Melatonin und somit auch den Schlaf-wach-Rhythmus beeinflussen, schnitten vergleichsweise gut ab. Das Narkosemittel Ketamin, das in Deutschland als ergänzende Behandlung bei therapieresistenten Depressionen »off label« zum Einsatz kommt, wirkte in einer der betrachteten Studien besonders schnell gegen Anhedonie: In den ersten drei Tagen nach der Infusion war die Verbesserung am deutlichsten.

Ebenen der Freudlosigkeit

Neben den verschiedenen Komponenten unterscheidet man auch Domänen der Anhedonie. Grob lassen sie sich in physische und soziale Ausprägungen einteilen. Bei der sozialen Anhedonie liegt ein vermindertes Vergnügen an Gesprächen, Treffen und sonstigen Kontakten vor. Betroffene ziehen sich mitunter vollkommen zurück. Physische Anhedonie besteht hingegen im Unvermögen, körperliche Reize – etwa eine Massage, Sex oder gutes Essen – zu genießen. Ein gängiger Fragebogen, der beide Aspekte erfasst, ist die Social Anhedonia Scale/Physical Anhedonia Scale. Über Zustimmung oder Ablehnung gegenüber Aussagen wie »Ich lache gerne mit anderen über Witze« oder »Wenn ich an einer Bäckerei vorbeigehe, macht mich der Geruch von frischem Brot oft hungrig« misst er, welche Domäne bei dem einzelnen Patienten im Vordergrund steht.

Untersuchungen zeigen, dass die beiden Aspekte einzigartige Anteile widerspiegeln, die jedoch häufig gemeinsam auftreten. Menschen mit Schizophrenie haben zuweilen langfristig Probleme, beständige zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen, und genießen auch körperliche Freuden weniger. Depressive mit Anhedonie-Symptomen leiden öfter unter Appetitlosigkeit und sozialem Rückzug als solche, bei denen eine gedrückte Stimmung im Vordergrund steht. Manche wiederum verlieren nur das Vergnügen an bestimmten Lebensbereichen. Forscher hoffen, dass die Identifikation solcher Subtypen der Depression in Zukunft eine gezieltere Behandlung ermöglicht.

Ketamin hilft manchen Menschen mit Depressionen selbst dann, wenn gängige Antidepressiva versagen. Wie es das schafft, ist noch weitgehend unklar. Entscheidend könnte seine Wirkung in den Habenulae sein, zwei dünnen Nervenfaserbündeln im Zwischenhirn. Bei Experimenten mit Affen brachten Belohnungen das dopaminerge System in Schwung, zugleich sank die neuronale Aktivität in den Habenulae. Umgekehrt verhielt es sich, wenn eine erwartete Belohnung ausfiel: Die dopaminergen Neurone feuerten weniger, während die Zellen der Habenulae aktiver wurden. »Die Habenulae sind eng mit dem Belohnungssystem verbunden. Sie bilden offensichtlich ein Gegengewicht, eine Art Antibelohnungssystem«, so der Psychiater Volker Arolt vom Universitätsklinikum Münster. Bei Depression gerate dieses System wohl aus dem Takt, und Ketamin trage zu einer Normalisierung überaktiver Habenulae bei. »Ketamin kann allerdings abhängig machen. Deshalb darf es nur unter ärztlicher Aufsicht verabreicht werden«, merkt Ulrich Hegerl an. Zudem hält die Wirkung nicht lange an, weshalb die Behandlung regelmäßig wiederholt werden muss. Die Autoren der Überblicksarbeit weisen darauf hin, dass die Aussagekraft wegen der geringen Anzahl und der unterschiedlichen Methodik der betrachteten Studien begrenzt ist. Sie sehen sie als Ausgangspunkt zur weiteren Erforschung wirksamer Medikamente gegen Anhedonie.

Ein Programm, das positive Gefühle fördert

Und wie sieht es mit dem zweiten Standbein der Behandlung der Depression aus, der Psychotherapie? Etablierte Psychotherapien gegen Depressionen versuchen vor allem, dunkle Gedanken und Gefühle zu vertreiben und die Stimmung zu heben. Laut einer 2015 in Belgien durchgeführten Umfrage setzen Behandler sich meist die Bekämpfung negativer Empfindungen zum Ziel. Die befragten Patienten hingegen wünschten sich mehrheitlich die Wiederherstellung eines positiven Lebensgefühls. Einen Ansatz, der dem Rechnung trägt, testete ein Team um Michelle Craske von der University of California in Los Angeles 2019. Die Forscher verglichen ein psychotherapeutisches Programm, das darauf abzielt, positive Emotionen zu fördern, mit einem, das vor allem negative vertreiben soll. Ersteres, das »Positive Affect Treatment«, sollte bei Depressions- und Angstpatienten drei Komponenten verbessern: Vorfreude, Genuss und Belohnungslernen.

Die Anfangsphase des Programms dient dazu, freudige Erwartung zu wecken. Sie basiert auf dem »Verstärker-Verlust-Modell« der Depression, das der US-amerikanische Psychologe Peter Lewinsohn in den 1970er Jahren aufstellte. Demnach entsteht die Krankheit durch einen Mangel an positiven Erlebnissen und wird durch einen Teufelskreis aus Lethargie und sozialem Rückzug aufrechterhalten. Hier kann man therapeutisch ansetzen. Der Patient soll, selbst wenn ihm gar nicht danach ist, Dinge unternehmen, die ihm früher Freude bereitet haben: Freunde treffen, im Chor singen oder einen Kuchen backen. Diese Technik kommt auch in der kognitiven Verhaltenstherapie zum Einsatz und zeigt gute Erfolge. Das erlernte Vermeidungsverhalten wird abgebaut, und der Patient erhält die Chance, wieder angenehme Erfahrungen zu machen. Das ebnet den Weg aus der Depression; nach und nach kehrt die Lebensfreude zurück, so die Grundidee. Der Patient soll beim Positive Affect Treatment seine Stimmung vor und nach dem Erlebnis genau protokollieren. In der darauf folgenden Psychotherapiesitzung beschäftigt er sich noch mal mit den emotionalen Facetten des Geschehenen: Wie fühlt es sich an, einen guten Freund zu umarmen? Was löst der Klang des Lieblingslieds in mir aus? Macht mich das gelungene Backwerk vielleicht sogar ein wenig stolz? Dadurch lernt er, seine Aufmerksamkeit mehr und mehr auf positive Aspekte des Erlebens zu richten.

Im Anschluss trainiert der Patient, solche Lichtblicke im Alltag zu entdecken und eigene Verhaltensweisen zu identifizieren, die zu angenehmen Momenten führen. Er soll spüren, dass er sein Schicksal – zumindest ein Stück weit – selbst in der Hand hat. Imaginationsübungen, bei denen man sich ein bevorstehendes Ereignis in den schillerndsten Farben ausmalt, sollen Vorfreude und Begeisterungsfähigkeit schulen. Das letzte Modul ist angelehnt an eine Meditationstechnik, die als liebende Güte bezeichnet wird. Dabei stellt man sich einen geliebten Menschen vor und wünscht ihm im Geist alles Gute für sein Leben, etwa mit der Formulierung »Mögest du glücklich und gesund sein«. Diese Art der Meditation hebt Studien zufolge die Stimmung, erhöht die Lebenszufriedenheit und verbessert die Beziehung zu sich selbst und anderen. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass sie bei Patienten mit Schizophrenie, Posttraumatischer Belastungsstörung, bipolarer Störung und Depressionen wirkt. Neben dem Meditieren wird der Patient dazu angehalten, seinen Mitmenschen regelmäßig einen kleinen Gefallen zu erweisen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. In einem Tagebuch hält er zudem jeden Tag fünf bis zehn Dinge fest, für die er dankbar ist.

Die Genussfähigkeit wie einen Muskel stärken

Das Ergebnis der Studie: Das Positive Affect Treatment war nicht nur geeigneter, angenehme Gefühle bei den Patienten hervorzurufen als die Standardtherapie, es reduzierte zur Überraschung der Autoren sogar negative Emotionen effektiver. »Das Ziel des neuen therapeutischen Ansatzes ist es, die Genussfähigkeit der Patienten wie einen Muskel zu stärken«, sagt Alicia Meuret. Die Leiterin des Anxiety and Depression Research Center der Southern Methodist University in Dallas hat an der Studie mitgewirkt. »Es ist toll mitzuerleben, wie diese Menschen wieder Freude empfinden können.« Die Forscher plädieren dafür, das therapeutische Potenzial solcher Interventionen intensiver zu untersuchen. »Bei leichten und mittelschweren Depressionen und in der Rückfallprophylaxe sind psychotherapeutische Ansätze, die das positive Erleben stärken, viel versprechend«, meint Henrik Walter. »In schweren Fällen reichen sie jedoch womöglich nicht aus«, gibt er zu bedenken. Er hofft, dass in den nächsten Jahren neue Erkenntnisse zeigen, wie man Menschen wie Sarisa besser helfen kann.

Diese hat offenbar noch keine Lösung für ihre belastende Freudlosigkeit gefunden. Mit ihrem Leid ist sie allerdings nicht länger allein. »Als ich in deinem Alter war, litt ich drei Jahre lang unter Anhedonie«, antwortet ihr ein User, der sich Cyrano nennt. Er habe einen Suizidversuch hinter sich, sei nun aber froh, dass er noch lebt. »Mit den Jahren habe ich viele Dinge gelernt. Heilsam ist für mich, für andere da zu sein. Ich weiß, wovon ich spreche, wenn ich dir sage: Gib nicht auf.«

Wege aus der Not

Denken Sie manchmal daran, sich das Leben zu nehmen? Erscheint Ihnen das Leben sinnlos oder Ihre Situation ausweglos? Haben Sie keine Hoffnung mehr? Dann wenden Sie sich bitte an Anlaufstellen, die Menschen in Krisensituationen helfen können: an den Hausarzt, niedergelassene Psychotherapeuten oder Psychiater oder die Notdienste von Kliniken. Kontakte vermittelt der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der Telefonnummer 116117.

Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei: per Telefon unter den bundesweit gültigen Nummern 0800 1110111 und 0800 1110222 sowie per E-Mail und im Chat auf der Seite www.telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden auch Hilfe unter der Nummer 0800 1110333 und können sich auf der Seite www.u25-deutschland.de per Mail von einem Peer beraten lassen.

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  • Quellen

Auerbach, R. P. et al.: Toward an improved understanding of anhedonia. JAMA Psychiatry 76, 2019

Craske, M. G. et al.: Positive affect treatment for depression and anxiety: A randomized clinical trial for a core feature of anhedonia. Journal of Consulting and Clinical Psychology 87, 2019

Pizzagalli, D. A.: Depression, stress, and anhedonia: Toward a synthesis and integrated model. Annual Review of Clinical Psychology 10, 2014

Rømer Thomsen, K. et al.: Reconceptualizing anhedonia: Novel perspectives on balancing the pleasure networks in the human brain. Frontiers in Behavioral Neuroscience 9, 2015

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