Prinz-William-Sund: Aufstieg und Fall
An einem kalten Junitag lehnt sich Scott Pegau an das Seitenfenster eines Cessna-Wasserflugzeugs und späht prüfend auf das blaugrüne Wasser des Prinz-William-Sunds. Eine schützende Kette zerklüfteter Inseln trennt die von Gletschern eingerahmte Meeresfläche an der Südküste Alaskas vom offenen Ozean. Die Landschaft wirkt düster und zugleich verlockend. Dichte Wolken umhüllen die verschneiten Berggipfel und lösen sich an den bewaldeten Hängen fransenartig auf. Die eiskalte See liegt völlig still da, bis auf ein einzelnes Wellenband, das an die Felsenküste schlägt.
Pegau richtet seinen Blick auf den Flachwasserbereich hinter der Brandungszone. Nachdem er minutenlang über den Gewässern einer tief ins Land ragenden Bucht an einer der äußeren Inseln Ausschau gehalten hat, findet er schließlich das, was er sucht: einen Schwarm junger Heringe. Anhand ihres unverwechselbaren Glitzerns, das durch die Reflexion des Sonnenlichts auf den silbernen Flanken der Fische entsteht, wenn sich diese zusammenscharen und auf charakteristische Weise fortbewegen, kann Pegau die Heringe von anderen Schwarmfischen unterscheiden. Aber so sehr ich mich auch anstrenge, ich kann keinerlei Funkeln im Wasser ausmachen; ich erkenne nur einen dunklen Klecks, der aus einigen Tonnen winziger, dicht unter der Wasseroberfläche wimmelnder Fische besteht.
"Kleine H1", spricht Pegau in das unter seinem buschigen grauen Schnurrbart klemmende Kopfbügelmikrofon – das Kürzel für einen kleinen Schwarm einjähriger Heringe. Er gibt die Position in seinen Computer ein, während ich zusammengekauert auf der Rückbank sitze und die entsprechende Kennziffer auf einer Liste abhake. Es ist der erste eines Dutzends von Heringsschwärmen, die wir auf unserem Flug zu Gesicht bekommen werden.
Jedes Jahr führt Pegau diese Bestandsaufnahmen durch – in der Hoffnung, die zukünftigen Entwicklungen der Heringspopulation im Prinz-William-Sund besser abschätzen zu können. Die Jungfische reifen heran und schließen sich ab einem Alter von drei Jahren dem Laicherbestand an; die Zählungen liefern Wissenschaftlern und Verantwortlichen im Fischereimanagement daher einen Hinweis auf die Anzahl der in den kommenden Jahren potenziell zu erwartenden ausgewachsenen Heringe. Sowohl Forscher als auch Fischer hoffen immer, dass es möglichst viele Exemplare sein werden. Doch in den vergangenen 25 Jahren wurden sie in dieser Hinsicht jedes Mal aufs Neue enttäuscht.
Zusammenbruch vor einem Vierteljahrhundert
Im Jahr 1993 brachen die Heringsbestände im Prinz-William-Sund zusammen, nur vier Jahre, nachdem die Havarie der "Exxon Valdez" knapp 42 Millionen Liter Rohöl in diese Gewässer gespült hatte. Der Kollaps bedeutete das Ende einer Fischerei, die pro Jahr etwa acht Millionen US-Dollar (etwa 6,8 Millionen Euro) erwirtschaftet hatte, und ließ eine klaffende Lücke im marinen Nahrungsnetz zurück. Jahrelang haben Wissenschaftler versucht, die mögliche Rolle der Ölkatastrophe beim Verschwinden des Herings zu ergründen, und die Ergebnisse ihrer Studien sind äußerst heftig diskutiert worden. Als im Jahr 2015 schließlich sämtliche Gerichtsverfahren eingestellt und der Hering als eine durch das Unglück betroffene Art eingestuft wurde, fühlten sich allerdings nur die wenigsten Heringsfischer in angemessener Weise für die Folgen der Ölpest entschädigt.
Noch weitaus besorgniserregender ist die Tatsache, dass sich der Hering im Gegensatz zu den meisten anderen Tierarten bis heute nicht vollständig von der Ölverschmutzung erholt hat. Es ist allgemein bekannt, dass Bestände von Beutefischen regelmäßig Phasen des Auf- und Abschwungs durchlaufen, und viele Wissenschaftler nahmen daher an, es sei nur eine Frage der Zeit, bis die Heringspopulation im Prinz-William-Sund wieder zu ihrer früheren Stärke zurückfinden würde. Doch selbst heute, 25 Jahren später, ist noch immer kein Zeichen einer Erholung in Sicht.
"Es kann durchaus sein, dass das Ökosystem einen kritischen Punkt erreicht hat, der es letztlich zum Kippen brachte", mutmaßt Pegau, der als Koordinator des Heringsprogramms am Prince William Sound Science Center tätig ist. Das unabhängige Forschungsinstitut finanziert die Arbeiten seiner Wissenschaftler zum Teil mit Hilfe von Geldern, die die Firma Exxon als Straf- und Entschädigungszahllungen wegen der ergangenen Gerichtsurteile leisten musste. Eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren, die Forscher noch immer zu analysieren versuchen, könnte für die von Pegau beschriebene Entwicklung verantwortlich sein – von hungrigen Walen bis zu Infektionskrankheiten. "Es ist nicht nur ein einziger Umstand, der die Heringsbestände niedrig hält", betont Pegau. "Ich glaube, davon ist so ziemlich jeder hier überzeugt."
Das Mysterium des Herings ist ein rasend machendes Beispiel für die oft abstrakten Verflechtungen in der Natur, die Ökosystemen Widerstandsfähigkeit verleihen, sie zuweilen jedoch auch irgendwie rebellisch werden lassen. Gerät ein natürliches System in irgendeiner Weise aus dem Gleichgewicht, etwa durch eine vom Menschen verursachte Katastrophe oder veränderte Umweltbedingungen, kehrt es nicht zwangsläufig in seinen Ausgangszustand zurück. Stattdessen kann sich innerhalb des Ökosystems eine neue Normalität einstellen, die die von diesem Lebensraum abhängigen Lebewesen und Wirtschaftszweige völlig durcheinanderbringt.
Vielleicht liefert der Hering im Prinz-William-Sund aber auch Hinweise, wie es dazu kommt, dass Ökosysteme sich verändern und Fischbestände prächtig gedeihen oder vollständig zusammenbrechen. Nach 25-jähriger Forschungsarbeit haben Wissenschaftler Unmengen von Daten über den Hering zusammengetragen und ein halbes Dutzend Hypothesen zu seiner misslichen Lage aufgestellt. Selbst wenn diese Daten momentan noch keine zufrieden stellenden Antworten liefern, könnten die bisherigen Erkenntnisse über die Resilienz von Ökosystemen und den wahren Wert einer Art möglicherweise Konsequenzen haben, die weit über die Küsten Alaskas hinausreichen.
Nach mehrstündiger Bestandsaufnahme landet unser Wasserflugzeug schließlich auf dem Eyak Lake im ypsilonförmigen Tal, das die Stadt Cordova von den drohend aufragenden Gipfeln der Chugach Mountains trennt. "Wir haben es wieder einmal überlebt", scherzt unser Pilot, während wir auf ein Schwimmdock zusteuern und anschließend das Flugzeug entladen. Für den kommenden Tag hat Pegau einen weiteren Flug geplant, und wir lassen uns in die abgenutzten Sitze seines weißen Ford F-250 fallen, um die kurze Strecke in die Stadt zurückzulegen.
Abhängig vom Hering
Cordova ist eine unspektakuläre Gemeinde im äußersten Osten des Prinz-William-Sunds, die bereits etliche Höhen und Tiefen überstanden hat. Im Jahr 1906 gründeten Siedler den Ort als Hafen zur Verschiffung der gewaltigen Kupfermengen, die in dem 320 Kilometer weiter im Inland gelegenen Bergwerk von Kennecott abgebaut wurden. Nach Stilllegung der Kupfermine im Jahr 1938 besann sich Cordova wieder auf seinen Ruf als selbst ernannte "Hauptstadt" der Pazifischen Rasiermessermuschel. Diese Industrie erlitt jedoch am 27. März 1964, einem Karfreitag, einen Totalschaden, nachdem ein Erdbeben der Stärke 9,2 die Muschelbänke zwei Meter über den Meeresspiegel angehoben hatte.
Nach diesem Ereignis stellten Fischerei und Konservenherstellung, die sich im Wesentlichen um den Fang und die Verarbeitung von Lachs und Hering drehten, die beiden wichtigsten noch verbliebenen Einnahmequellen für die einheimische Bevölkerung dar. Da der vergleichsweise kleine Hering nur selten Längen von mehr als 25 Zentimetern erreicht, wird er neben seiner Verwendung als Nahrungsmittel und Köder vor allem wegen seines Rogens geschätzt.
Im Jahr 1989 wurde jedoch die Zukunft Cordovas durch das Unglück des Öltankers "Exxon Valdez", das sich ebenfalls an einem Karfreitag ereignete, erneut in Frage gestellt. Viele Einwohner betrachten die Ölverschmutzung als den härtesten Schlag, der ihrer Stadt je versetzt wurde. "Es gibt Naturkatastrophen und solche, die von Menschen verursacht werden", meint die in Cordova geborene erfahrene Fischerin Sylvia Lange, die heute ein Hotel im Ort betreibt. Sie hat beide Formen des Desasters am eigenen Leib erfahren, und sie fühlten sich vollkommen verschieden an, so Lange.
Die ökologischen Folgen der Ölpest sind längst zur Legende geworden. Trotz der Bemühungen mehrerer tausend Hilfskräfte gingen wilde Tiere wie Seevögel und Otter in Scharen zu Grunde. Und auch die finanziellen Folgen wurden bald darauf spürbar. Zwar boten die Aufräumarbeiten vielen Menschen eine Beschäftigungsmöglichkeit, doch die Einnahmen aus dem Tourismus gingen zurück, und Verantwortliche im Fischereimanagement ordneten eine vorläufige Schließung der Fischerei an, bis man sich über die Wirkung des Öls auf die Fischbestände im Klaren war. Zu allem Überfluss führten andere Umstände dazu, dass die Preise für Buckellachs dramatisch in den Keller gingen. "Cordova befand sich in einer äußerst schweren Depression", bestätigt Lange, "nicht nur in psychologischer, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht."
Zunächst schien es, als habe der Hering das Unglück ohne größeren Schaden überstanden. 1990 gab das Alaska Department of Fish and Game die Fischerei wieder frei, und in den beiden darauf folgenden Jahren verzeichneten die ortsansässigen Heringsfischer zwei ihrer erfolgreichsten Fangperioden. Aber als der Frühling des Jahres 1993 Einzug hielt, verschwand plötzlich ein Großteil der Heringe aus den Gewässern des Prinz-William-Sunds; der Bestand verringerte sich von 100 000 Tonnen Biomasse auf weniger als 30 000 Tonnen.
Dieser Zusammenbruch hatte verheerende Auswirkungen auf eine Gemeinde, die noch immer mit den Folgen der Ölkatastrophe kämpfte. Das erklärt John Renner, ein alteingesessener Fischer aus Cordova und Vorsitzender des Bereichs Heringsfischerei bei Cordova District Fishermen United, einer ehemaligen Gewerkschaft und heutigen gemeinnützigen Interessenvertretung: Die Ernte des Frühjahrsheringsrogens sei ein wichtiges Standbein der lokalen Wirtschaft gewesen. "Ganz Cordova war auf diese ersten Einnahmen zu Saisonbeginn angewiesen", ergänzt Renner. "Die Menschen zahlten ihre Steuern, beglichen ihre Schulden und so weiter." Für viele Einheimische stellte der Heringsrogen einen zentralen Bestandteil ihrer Lebensgrundlage dar; Renner erzielte damit einst ein Viertel seines Jahreseinkommens, und allein das Gespräch über den Kollaps der Heringsbestände macht ihn immer noch wütend. Laut Schätzungen eines vorläufigen vom Prince William Sound Science Center in Auftrag gegebenen Berichts hat der Verlust des Herings die Stadt Cordova nahezu 200 Millionen US-Dollar (etwa 170 Millionen Euro) und die gesamte Region fast eine Milliarde US-Dollar (etwa 850 Millionen Euro) gekostet.
Warum verschwanden die Fische?
In all den Jahren, die seit dem Tankerunglück vergangen sind, konnten die Auslöser des Zusammenbruchs der Heringsbestände nicht hinreichend geklärt werden. Viele Wissenschaftler hegten anfangs Zweifel, dass die Ölkatastrophe für einen Rückgang der Heringspopulationen vier Jahre später verantwortlich gewesen sein könnte, zumal erste Untersuchungsergebnisse darauf hindeuteten, dass das Öl nur geringe Umweltschäden verursacht hatte. Zu jenen frühen Studien zählen auch die von der Firma Exxon finanzierten Forschungsarbeiten des Fischereibiologen Walt Pearson, der damals am Battelle Marine Sciences Laboratory tätig war. Pearson fand heraus, dass ausgewachsene Heringe nur für kurze Zeit geringen Ölkonzentrationen ausgesetzt gewesen sein konnten und dass es zwischen den ölverschmutzten Stränden und den Laichgründen der Fische wenige Überlappungen gegeben hatte. "Die Effekte ließen sich räumlich sehr gut eingrenzen", unterstreicht Pearson. Der Forscher zog daraufhin die Schlussfolgerung, dass der für den Zusammenbruch der Heringspopulation verantwortliche entscheidende Faktor auf der Tatsache beruhte, dass es als Folge einer natürlichen Veränderung der ozeanischen Lebensbedingungen auf einmal zu viele Heringe und nicht genügend Nahrung gab.
Doch viele Fischer kauften ihm diese Erklärung nicht ab. "Jeder, der auch nur halbwegs bei Verstand ist, wäre darauf gekommen, dass das Öl die Ursache war", empört sich Jerry McCune, der Vorsitzende von Cordova District Fishermen United. Nur wenige Wochen nach der Ölkatastrophe begannen die Heringe im Prinz-William-Sund zu laichen. McCune, Renner und andere sind daher der Ansicht, das Öl habe die Kohorte der 1989 geborenen Heringe vernichtet, und das Fehlen dieser Fische im Jahr 1993 sei für den Kollaps des Heringsbestands verantwortlich.
Daten von Bestandsaufnahmen im Jahr des Zusammenbruchs hätten allerdings gezeigt, dass nicht nur Jungtiere, sondern Fische aller Altersklassen betroffen waren, wendet Pegau ein. Und in einer erst kürzlich durchgeführten statistischen Analyse konnten keine unmittelbaren Wirkungen des ausgetretenen Öls nachgewiesen werden. Stattdessen vermuten Pegau und andere Wissenschaftler, die potenzielle Rolle der Ölkatastrophe beim Verschwinden des Herings habe darin bestanden, die Tiere selbst oder ihre Nahrungsorganismen derartig zu schwächen, dass irgendetwas anderes ihnen daraufhin leicht endgültig den Garaus machen konnte.
Nach Pegaus Einschätzung zählt die Krankheit virale hämorrhagische Septikämie (VHS) in diesem Zusammenhang zu den Hauptverdächtigen. Obgleich es damals noch kein entsprechendes Monitoring-Programm gab, konnten Fischer und Wissenschaftler bereits 1993 Anzeichen eines Ausbruchs von VHS feststellen. "Es kann eine Population innerhalb kürzester Zeit vernichten", konstatiert Pegau. Wie der Name impliziert, kommt es bei an VHS erkrankten Fischen zu Blutungen, die durch Organversagen zum Tod führen können. Die Krankheit verbreitet sich rasend schnell in den dichten Heringsschwärmen oder wenn Fischer die Tiere zur Rogengewinnung in eine im Wasser installierte Einzäunung treiben – ein Verfahren, das auch die Fischer von Cordova zur Zeit des Tankerunglücks praktizierten. Nach Ansicht einiger Forscher hat diese als "pounding" bezeichnete Fangmethode in Verbindung mit einer hohen Bestandsdichte der Heringe vor dem großen Zusammenbruch zu einem tödlichen Ausbruch von VHS beigetragen.
War es eine Seuche?
Doch auch die eigentliche Ölkatastrophe könnte das Risiko einer VHS-Epidemie verschärft haben. Selbst wenn Fischembryonen bei einem Kontakt mit Öl nicht gleich sterben, können sie dennoch Schäden in ihrem Erbgut davontragen, insbesondere in einem speziellen Gen, das für den Aryl-Hydrocarbon-Rezeptor kodiert. "Wir haben festgestellt, dass dieses Gen in den überlebenden Fischen komplett ausgeschaltet war", berichtet der Ökologe und Spezialist für Fischkrankheiten Paul Hershberger vom U.S. Geological Survey. Eine Beeinträchtigung des Ah-Rezeptorgens könnte das Immunsystem der Fische schwächen und sie eventuell anfälliger gegenüber Krankheiten machen – ein Effekt, den Hershberger und seine Mitarbeiter in experimentellen Untersuchungen am Blaubandkärpfling nachweisen konnten und den sie zurzeit am Hering überprüfen.
Werden Heringsembryonen ölhaltigem Meerwasser ausgesetzt, kann es zudem zu Fehlbildungen des Herzens kommen, die sich generell nachteilig auf die betroffenen Tiere auswirken. Diese Fische könnten weniger schnell und ausdauernd schwimmen, was die Wahrscheinlichkeit erhöhe, gefressen zu werden, erklärt John Incardona, Toxikologe am Northwest Fisheries Science Center der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) und Erstautor einer im Jahr 2015 zu diesem Thema veröffentlichten Studie. In seinen Laborexperimenten stellte der Forscher fest, dass schon eine Umweltbelastung, die weit unter den im Allgemeinen als schädlich erachteten Werten liegt, die Embryonalentwicklung der Heringe beeinträchtigt. "Vermutlich haben wir alle den ursprünglichen Schaden, der der Heringspopulation zugefügt wurde, bei Weitem unterschätzt", meint Incardona.
Der erst kürzlich pensionierte Fischereiwissenschaftler Richard Thorne vom Prince William Sound Science Center widerspricht jedoch der Auffassung, dass der Heringsbestand zeitlich verzögert einbrach. Der Nachweis einer kontinuierlich hohen Populationsdichte des Herings bis zum Kollaps im Jahr 1993 wurde durch Bestandsabschätzungen des Alaska Department of Fish and Game erbracht; diese basierten auf Modellen zur Bestandsbewertung, die der Bundesstaat Alaska für ein verantwortungsbewusstes Fischereimanagement und zur Festlegung nachhaltiger Fangquoten verwendete. Aber als Thorne im Jahr 1993 mit dem Einsatz akustischer Methoden zur Bestandsaufnahme von Heringspopulationen begann, fiel ihm auf, dass seine Zahlen viel besser mit einem anderen Datensatz des Department of Fish and Game im Einklang standen: den Beobachtungen, wie viele Kilometer Küstenlinie von Heringslaich bedeckt waren. Jene Aufzeichnungen über die Menge des früher vorhandenen Heringslaichs brachten den Wissenschaftler auf eine alternative Theorie der Populationsentwicklung, der zufolge sich die Zahl der Heringe bereits unmittelbar nach der Ölkatastrophe verringert haben musste. Thorne vermutet, dass die Tiere wegen der Wirkung des aufgenommenen Öls starben und es schließlich zu dem Kollaps kam – falls es ihn tatsächlich gab –, weil man den Fischern in den frühen 1990er Jahren gestattete, einen Heringsbestand zu befischen, von dem die verantwortlichen Fischereimanager noch nicht ahnten, dass er bereits im Rückgang begriffen war.
Pegau jedenfalls glaubt nicht daran, dass Forscher je herausfinden werden, was damals wirklich geschah. "Wir werden niemals sagen können, dass es auf diese oder jene Weise passiert ist, denn keiner hat während des Tankerunglücks Daten erhoben", bemerkt der Wissenschaftler. Und im Grunde genommen gilt sein eigentliches Interesse auch nicht den Ursachen des großen Zusammenbruchs. Die weitaus dringlichere Frage, so Pegau, sei nämlich, warum der Hering bis heute nicht zurückgekehrt ist.
Kehrt er je wieder?
Ich treffe John Platt auf einem Schwimmdock im alten Hafen und während wir zur Begrüßung Hände schütteln, fragt er mich als Erstes: "Warum reden wir nach 25 Jahren eigentlich immer noch über den Hering?" Platt ist ein in Cordova ansässiger Fischer in der dritten Generation mit einem wettergegerbten Gesicht und der untersetzten Statur eines ehemaligen Ringers. Und ihm sitzt der Schalk im Nacken, denn wir beide wissen nur zu gut die Antwort auf seine Frage.
Platt fing seine Heringe für gewöhnlich mit einer so genannten Ringwade und erntete anschließend ihren Rogen. Bereitwillig nimmt er mich auf eine zehnminütige Autofahrt mit, um mir sein Netz zu zeigen, das er außerhalb des Orts lagert und bei dem es sich – soweit ich das beurteilen kann – vermutlich um das einzige in ganz Cordova noch vorhandene Heringsfanggerät handelt. "Ich habe immer geglaubt, sie würden wiederkommen", gesteht der frühere Heringsfischer. Während wir auf einen von Unkraut überwucherten, rostigen weißen Pick-up zusteuern, deutet Platt auf den traurigen Anblick vor unseren Augen und bemerkt: "Dies ist also die Zusammenfassung der Heringsfischerei." Er steigt aus dem Wagen und beginnt, von der Ladefläche des Kleintransporters eine ramponierte blaue Plane zu entfernen, unter der sich ein unförmiges Gebilde verbirgt. Nach einigem Ziehen und Zerren hält er eine Schlinge aus schwarzem Netzgewebe in den Händen, die er mir zeigt. Auch nach all den Jahren macht das Netz, das neu etwa 20 000 US-Dollar (knapp 17 000 Euro) kostet, noch immer einen funktionstüchtigen Eindruck. Das überrascht allerdings nicht. Schließlich wurde es kaum benutzt.
Wie viele ortsansässige Fischer wurde Platt durch den Zusammenbruch der Heringsbestände ebenfalls beinahe in den Ruin getrieben. In Alaska werden gewerbliche Fanglizenzen wie Aktien gehandelt; der Staat erteilt eine begrenzte Anzahl von Fanggenehmigungen, und die Fischer kaufen und verkaufen diese zu Preisen, die üblicherweise den Wert der jeweiligen Fischerei widerspiegeln. Die Ringwadenfischerei war ein Glücksspiel mit hohem Risiko. Heringsrogen stellte eine begehrte Ware dar, und Platt und seine Fischerkollegen rangelten regelmäßig um die besten Fangpositionen in der Nähe von Heringsschwärmen, um die Tiere nach Freigabe der Fischerei sofort an Bord hieven zu können – manchmal nur für ein kurzes, adrenalinpralles Zeitfenster von 15 Minuten. Vor dem großen Zusammenbruch, als auch Platt seine Fangerlaubnis für die Ringwadenfischerei erwarb, betrug der Marktpreis einer Lizenz für den Heringsfang fast eine Viertelmillion US-Dollar (rund 215 000 Euro); heute dagegen ist dieselbe Fanggenehmigung lediglich 31 000 US-Dollar (26 000 Euro) wert.
Dennoch empfinden einige diesen Preis als außergewöhnlich hoch, insbesondere angesichts der Tatsache, dass der Markt für Rogen stark geschrumpft ist und seit dem Zusammenbruch der Bestände nur zweimal bescheidene Mengen an Heringseiern im Prinz-William-Sund geerntet wurden – in den Jahren 1997 und 1998, als Verantwortliche in der Fischereiwirtschaft noch an eine mögliche Rückkehr der Fische glaubten.
Einem Menschen wie Platt, der seine Fanglizenz mit einem staatlichen Kredit finanziert hatte und der hart kämpfen musste, um ohne einen einzigen gefangenen Hering weiterhin seine Tilgungsraten und Steuern zahlen zu können, nützt der unerschütterliche Wert der Fangerlaubnis allerdings herzlich wenig. Laut einer kürzlich veröffentlichten wirtschaftlichen Analyse haben die Besitzer von Heringsfanggenehmigungen im Prinz-William-Sund durch den Wertverlust ihrer Lizenzen finanzielle Einbußen in Höhe von insgesamt 50 bis 60 Millionen US-Dollar (42 bis 51 Millionen Euro) erlitten.
Für seine Hilfe bei den Aufräumarbeiten unmittelbar nach der Ölkatastrophe erhielt Platt von der Firma Exxon zwar eine Entlohnung, doch dieses Geld floss direkt in die Abzahlung seiner Boote und Fanggeräte. Um die Schulden aus dem Erwerb der Fanglizenz begleichen zu können, musste der Fischer schließlich sein Boot für den Lachsfang verkaufen und zudem die aus einer Sammelklage gegen den Exxon-Konzern erhaltene Entschädigung aufwenden. Dieses Geld war ihm im Jahr 2008 auf Grund eines Urteils des Supreme Court, des obersten Gerichtshofs der USA, zugesprochen worden, allerdings handelte es sich nur um einen Bruchteil der ursprünglich von den Klägern geforderten Entschädigungssumme. Aber für viele kam diese Zahlung zu spät und reichte nicht aus, um den entstandenen Schaden zu kompensieren – der Verlust des Herings hatte bereits seinen Tribut gefordert. "Es gab Scheidungen, manche wurden in den finanziellen Ruin getrieben, und einige nahmen sich sogar das Leben", berichtet Platt.
Knappe Entschädigung
Wie viele andere dachte auch Platt, dass die ausbleibende Erholung der Heringsbestände Grund genug sein würde, eine Wiedereröffnung des 1991 abgeschlossenen Vergleichsverfahrens zwischen der Regierung und dem Exxon-Konzern, der mittlerweile unter dem Namen ExxonMobil firmiert, zu rechtfertigen. Die vor dem Zusammenbruch der Heringspopulationen getroffene Vereinbarung umfasste neben diversen Geldstrafen eine Schadenersatzzahlung von 900 Millionen US-Dollar (763 Millionen Euro) und enthielt zudem eine Klausel, die Nachforderungen in Höhe von 100 Millionen US-Dollar (85 Millionen Euro) für langfristige Auswirkungen der Ölkatastrophe, die in der ursprünglichen Vereinbarung nicht berücksichtig worden waren, ermöglichen sollte. "Das Ganze war jedoch nur eine reine Alibivorschrift", erklärt Platt.
Im Jahr 2006 unternahmen Regierungsanwälte einen Versuch, im Rahmen der Wiedereröffnungsklausel eine weitere finanzielle Forderung geltend zu machen. Das Verfahren wurde jedoch wenig später abgebrochen; außerdem war der Hering darin mit keiner Silbe erwähnt worden, die etwaige Rechtsansprüche begründet hätte. "Es ist zum Verrücktwerden", ereifert sich Platt. Nach Ansicht von Pegau gab es für diese Unterlassung aber einen einfachen Grund: Es wäre nämlich überaus schwierig gewesen, für einen Zusammenhang zwischen der Ölverschmutzung und der mangelnden Bestandserholung des Herings wirklich überzeugende Argumente zu liefern.
Noch immer sind im Prinz-William-Sund Spuren von Öl zu finden, die in den Sedimenten der Kies- und Sandstrände in Tiefen von bis zu einem Meter verborgen liegen. Doch nach Ansicht der meisten Wissenschaftler haben diese Ölrückstände heutzutage nur geringe ökologische Auswirkungen auf den Hering. Sollte die Ölkatastrophe tatsächlich sein Verschwinden in irgendeiner Weise beeinflusst haben, dann vermutlich indem sie dazu beitrug, der Fischpopulation den entscheidenden Schlag zu versetzen.
Inzwischen haben andere Kräfte das Ruder übernommen und sorgen offenbar dafür, die Heringe auf niedrigem Niveau zu halten. Und sie scheinen nicht lockerzulassen: Nach ein paar viel versprechenden Jahren sank der Heringsbestand 2015 auf Werte von etwa 8000 Tonnen Biomasse; die Population hatte sich also nach dem großen Zusammenbruch im Jahr 1993 noch einmal um mehr als die Hälfte verringert. "Ich glaube, das System hat eine Art Neustart durchgeführt", vermutet Ron Heintz, Spezialist für Nahrungsökologie am Alaska Fisheries Science Center der NOAA in Juneau. "Wir haben jetzt einen anderen Zustand erreicht, in dem für den Hering offensichtlich kein Platz mehr ist."
Ein Faktor, der in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt, sind Fressfeinde. Die Fische werden von anderen Organismen gefressen, und der Hering bildet diesbezüglich keine Ausnahme. "Er ist eine wichtige Nahrungsquelle", macht die Ökologin Mary Anne Bishop vom Prince William Sound Science Center deutlich. Das Laichen der Heringe im Frühling, wenn Unmengen ihrer Eier – jedes Weibchen produziert pro Jahr etwa 20 000 Stück – die Küstengewässer weiß färben, beschreibt die Wissenschaftlerin als einen wilden Festschmaus. "Wale, Seelöwen, Seehunde und Vögel – sie zieht es dann alle an die Küste." Auch vor älteren Heringen machen die Beutezüge nicht Halt; der Fisch wird während seines gesamten Lebenszyklus von Dutzenden anderer Arten gefressen.
Von Fressfeinden kleingehalten
Während es zu Zeiten großer Bestandsdichten vermutlich genügend Heringe gab, um hungrige Bäuche und Fischernetze zu füllen, sind die Tiere derzeit offenbar in einem Zustand gefangen, den Wissenschaftler als Prädationsfalle bezeichnen. Nachdem sich jeder Fressfeind seinen Anteil einverleibt hat, bleiben für eine vollständige Regeneration der Heringspopulation schlichtweg nicht genügend Fische übrig. Zwar schließen sich jedes Jahr weitere junge Adulttiere dem Laicherbestand an, doch sie reichen bei Weitem nicht aus, um die Zahl der gefressenen Exemplare auszugleichen.
In Wissenschaftlerkreisen wird darüber diskutiert, welche Beutegreifer den größten Verlust verursachen. Ein möglicher "Schuldiger" könnte der Buckelwal sein. Als Folge des Walfangverbots haben sich die Bestände der sanften Riesen zunehmend erholt, und im Prinz-William-Sund ist die Zahl der Buckelwale in den letzten Jahrzehnten auf das Fünffache angestiegen. Wie Forscher berichten, haben sich die in diesen Gewässern lebenden Meeressäuger auf die Heringsjagd spezialisiert und sich zu diesem Zweck eine besondere Technik angeeignet: Manchmal schließen sich die Wale in kleinen Gruppen zusammen, um die Fische in "Luftblasennetzen" zu fangen und nachfolgend reihum in großen Mengen zu verschlingen. Einigen Studien zufolge können Buckelwale jedes Jahr zwischen 20 und 75 Prozent der Laicherpopulation von Heringen vertilgen; diese Menge übersteigt sogar den Anteil, den die Heringsfischer in der Vergangenheit für sich beanspruchten.
Andere Experten, darunter Pearson, verweisen dagegen darauf, dass auch die Lachsaufzucht für die Prädationsfalle verantwortlich sein könnte. Gegen Ende der 1970er Jahre beschloss das Fischereimanagement, in Zuchtanlagen aufgezogene Buckellachse im Prinz-William-Sund auszusetzen; in den 1980er Jahren wurde die Anzahl der freigesetzten Tiere nochmals beträchtlich erhöht. Vor diesem Hintergrund stellten Forscher die Hypothese auf, dass junge Lachse möglicherweise den Heringsnachwuchs fressen oder mit diesem um Nahrung konkurrieren, während ältere Lachse, die aus dem offenen Meer in die Küstengewässer zurückkehren, Heringe aller Altersklassen verspeisen.
Darüber hinaus scheint der im Prinz-William-Sund beheimatete Hering häufiger von Krankheiten wie etwa VHS heimgesucht zu werden als seine Artgenossen in benachbarten Gewässern. Hershberger, der einen Test zum Nachweis kürzlich durchgemachter Krankheiten bei Fischen entwickelte, konnte in den Tieren des Prinz-William-Sunds durchweg höhere Belastungswerte feststellen als in jenen der 720 Kilometer südöstlich gelegenen Gewässer von Sitka. Einige Forscher fragen sich daher, ob die – wie Platt es ausdrückt – "Schwächlichkeit" der Sund-Heringe womöglich auf einem von der Ölkatastrophe herrührenden epigenetischen Effekt beruht, der nachfolgend von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurde. Dies habe jedoch noch niemand getestet, berichtet Hershberger. "Im Augenblick können wir darüber nur spekulieren."
Prädation, Konkurrenz und Krankheiten zählen zu den Faktoren, die die Größe einer Population "von oben nach unten" beeinflussen können. Doch dies ist nur die halbe Wahrheit, denn im Prinz-William-Sund herrscht außerdem ein zu geringer Nachschub an jungen Heringen. Wissenschaftler bezeichnen dieses Phänomen als mangelnde Rekrutierung und haben als mögliche Auslöser Umweltfaktoren im Verdacht, die sich in umgekehrter Richtung "von unten nach oben" limitierend auf Populationen auswirken können.
Von unten nach oben
Für eine umfassende Erholung der Heringsbestände wären einige sehr erfolgreiche Jahre in enger zeitlicher Abfolge nötig, um die Verluste durch Prädation zu überwinden und Seuchenverluste zu verringern. Dies habe es allerdings schon seit Längerem nicht mehr gegeben, erklärt Pegau. "In den letzten 25 Jahren war der Hering vom Pech verfolgt." Der Wissenschaftler verweist auf weit reichende natürliche Veränderungen im Nordpazifik, die sich 1989 – im Jahr des Tankerunglücks – bemerkbar machten und einen potenziellen Wendepunkt darstellen könnten. Diese Umwälzungen, in deren Verlauf sich einige Bereiche des Ozeans erwärmten, während andere sich abkühlten, hatten massive Auswirkungen auf die Meeresorganismen. Tiere wie Garnelen, Krabben und Heringe, die am unteren Ende des Nahrungsnetzes stehen, haben sich seitdem im gesamten Golf von Alaska nur spärlich entwickelt, größere Fische wie Heilbutt und Kabeljau vermehrten sich dagegen stark. Dieser scheinbare Widerspruch verblüfft Pegau immer wieder. "Ich muss noch herausfinden, wovon um alles in der Welt sich diese Fische ernähren", sagt der Wissenschaftler im Hinblick auf die prächtig gedeihenden Raubfische.
Ein Großteil der Forschung am Prince William Sound Science Center widmet sich der Frage, wie ozeanische Bedingungen den Hering beeinflussen – in der Hoffnung, zu verstehen, warum es seinen Beständen in den vergangenen Jahrzehnten so schlecht erging. Im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Arbeiten versuchen Forscher unter anderem, die Verbreitung der Heringslarven durch Meeresströmungen zu verfolgen, die von den Jungfischen bewohnten Lebensräume zu identifizieren sowie jene Prozesse genauer zu untersuchen, die die Menge und Qualität der verfügbaren Nahrung steuern, während die Tiere Energiereserven zum Überleben des harten Winters anlegen.
Jüngste Forschungsergebnisse liefern zudem Hinweise auf einen möglichen Zusammenhang zwischen der Rekrutierung des Herings und dem Süßwassereintrag in den Golf von Alaska. Eric Ward, Statistiker am Northwest Fisheries Science Center und Leiter einer Anfang 2017 veröffentlichten wissenschaftlichen Studie, gibt zu bedenken, dass Jahre hohen Süßwasserabflusses ins Meer mit Rekrutierungsausfällen korrelierten. Obwohl der zu Grunde liegende Mechanismus noch nicht geklärt ist, könnte er möglicherweise mit dem Einfluss des Süßwassers, das durch Regenfälle und schmelzendes Eis ins Meer gelangt, auf die Stärke und den Zeitpunkt der Frühjahrsblüte des Phytoplanktons zusammenhängen – jener hektischen Fotosyntheseaktivität, die jedes Jahr das gesamte Ökosystem wie ein Kickstarter in Schwung bringt. In den letzten Jahrzehnten gab es zunehmend seltener Jahre mit extrem geringem Süßwassereitrag, die im Allgemeinen mit einer verstärkten Rekrutierung junger Heringe – einem "Herings-Babyboom", wie Ward es formuliert – einhergehen. Und da der Klimawandel Gletscher schmelzen lässt und Niederschlagsmuster durcheinanderbringt, ist es nicht ganz unwahrscheinlich, dass sich dieser Trend auch in Zukunft fortsetzt.
Vielleicht können diese ozeanografischen Faktoren auch die schlechte Rekrutierung der Heringe in anderen Gewässern Alaskas erklären, die seit den frühen 1990er Jahren zu beobachten ist. Die Tatsache, dass Orte wie etwa Sitka den natürlichen Veränderungen zum Trotz noch immer eine florierende Heringsfischerei besitzen, sei ganz einfach damit zu begründen, dass es in jenen Gewässern nie zu einem vollständigen Zusammenbruch der Heringspopulation kam, argumentiert Pegau.
Eine Lösung des Rätsels um den Hering, so hoffen Wissenschaftler, wird vielleicht auch dazu beitragen, grundlegende Fragen nach den Voraussetzungen für eine erfolgreiche Rekrutierung von Fischbeständen zu klären, die Forscher seit Jahrzehnten zu beantworten versuchen. Nach Auskunft des Fischereibiologen Trevor Branch von der University of Washington, der sich ebenfalls mit der Untersuchung des Herings beschäftigt, müssen bei Fischen eine ganze Reihe von Parametern stimmen, damit eine ausreichende Versorgung mit Nachwuchs gewährleistet ist, darunter etwa eine optimale Wassertemperatur, der passende Salzgehalt sowie ein reichhaltiges Nahrungsangebot.
Damit Wissenschaftler auch nur die geringste Chance haben, das Zusammenspiel dieser verschiedenen Faktoren aufzuklären, müssten ihnen riesige, viele Jahre umfassende Datensätze zur Verfügung stehen. Und genau das ist es, was die Forschung, die durch die Ölkatastrophe der "Exxon Valdez" und den darauf folgenden Zusammenbruch der Heringsbestände in Gang gesetzt wurde, letzten Endes erbracht hat. "Sollten wir jemals etwas Eindeutiges herausfinden, dann wird es mit Sicherheit den Hering im Prinz-William-Sund betreffen", sinniert Branch.
Die Glanzzeiten kehren nie mehr wieder
Es herrscht herrliches Wetter, als ich Pegau zum zweiten Mal auf einem Flug begleite. Mit unserem Wasserflugzeug überqueren wir den Prinz-William-Sund, um seinen südwestlichsten Winkel genauer in Augenschein zu nehmen. Unter uns gleitet ein Kreuzfahrtschiff dahin, gefolgt von einer kleinen Gruppe Lachsfischerboote. Gemächlich ziehen ihre winzigen Beiboote Kreise auf dem Wasser, die wie Rippel riesiger Regentropfen aussehen, während sie ihre Netze um die ahnungslosen Fische schlingen.
Über den milchig trüben Gewässern eines Fjords, an dessen oberem Ende sich ein schmelzender Gletscher verbirgt, beginnen wir mit der offiziellen Bestandsaufnahme und folgen den smaragdgrünen Buchten entlang der Küstenlinie. In den engen Passagen zwischen den Inseln Evans, Elrington und Latouche Island entdecken wir vor der zerklüfteten Küste dicht gedrängt einen Heringsschwarm nach dem anderen. Endlich kann ich das Glitzern der Fische im Nachmittagslicht erkennen.
Vor fast 100 Jahren waren dies die wichtigsten Fanggründe einer längst vergangenen Form der Heringsfischerei. Die Fischer zogen mit ihren Netzen riesige Mengen an Heringen aus dem Meer, um aus den Tieren Öl zu gewinnen. In fünf aufeinander folgenden Jahren wurden damals durchschnittlich jährliche Fangmengen von 40 000 Tonnen Hering erzielt, bemerkt Pegau staunend. Aus den Fangberichten jener Zeit geht allerdings hervor, dass diese Unmengen gefangener Fische höchstwahrscheinlich einen Zusammenbruch der Heringspopulation zur Folge hatten; erstaunlicherweise schien sich der Bestand aber nach nur drei bis vier Jahren wieder erholt zu haben. Für Pegau gilt dies als ein Beweis, dass der Hering im Prinz-William-Sund schon in der Vergangenheit katastrophale Bestandseinbrüche weitgehend unbeschadet überstanden hat, wie es auch von vielen anderen Heringspopulationen auf der ganzen Welt berichtet wird.
John Trochta, der als Doktorand in Trevor Branchs Arbeitsgruppe tätig ist, hat mehr als 50 historisch bedeutsame Heringspopulationen auf der ganzen Welt einer genaueren Analyse unterzogen: Die meisten davon haben irgendwann einen Zusammenbruch erlebt. Trochta kam zu dem Ergebnis, dass die Mehrzahl dieser Heringsbestände innerhalb von zehn Jahren wieder ihre frühere Größe erreichten – bis auf wenige Ausnahmen, bei denen die Individuenzahlen nach einem Kollaps mindestens 20 Jahre lang auf niedrigem Niveau verharrten. Dazu zählen die Heringe des Prinz-William-Sunds sowie eine Heringspopulation, die früher in den Gewässern vor der Küste Japans und des südöstlichen Russlands zu finden war. Von jenem legendären Hokkaido-Sachalin-Heringsbestand zogen die Fischer einst pro Jahr fast eine Million Tonnen Fisch aus dem Meer. In den 1930er Jahren verringerte sich jedoch die Dichte dieser Heringspopulation, vermutlich auf Grund des hohen Fischereidrucks und als Folge ozeanografischer Veränderungen, und im Jahr 1955 waren in dem Gebiet fast keine Heringe mehr zu finden. Bislang ist dies das einzige Beispiel eines Heringsbestands, auf dessen Rückkehr die Menschen seit mehr als 60 Jahren warten. Doch niemand weiß, ob dem Hering im Prinz-William-Sund vielleicht ein ähnliches Schicksal bevorsteht.
Am letzten Tag meines Aufenthalts in Cordova besuche ich Pegau in seinem Büro am Prince William Sound Science Center, einem umgebauten ehemaligen Eishaus, das auf Stelzen direkt am Eingang des Hafens steht. Von seinem Fenster im zweiten Stock hat der Wissenschaftler freien Blick auf die geschäftige Aktivität der Hafendocks und auf die Berge, die wie schützende Wächter über dem Ort stehen. Die jährliche Bestandsaufnahme ist nahezu abgeschlossen, und ich frage Pegau nach den Aussichten für den Hering. "Dies ist vermutlich das beste Jahr, das wir je hatten", gesteht der Forscher. Er hat viele Heringsschwärme gezählt, und jeder enthielt eine große Anzahl Fische. Dennoch zögert Pegau mit seiner Prognose, ob das Gutes für den Hering verheißt. "Früher war ich optimistisch, mittlerweile bin ich deutlich zurückhaltender."
Für Pegau besteht keine Möglichkeit, dem Hering zu helfen; es gibt keine Fischerei, auf die er Einfluss nehmen könnte, oder eine akute Umweltbelastung, die es zu beseitigen gilt. Ohnehin betrachtet der Forscher das nicht als seine eigentliche Aufgabe. Sein Ziel ist es, die Verwundbarkeit und den Wert des Herings zu erfassen, damit Wissenschaftler und Verantwortliche im Fischereimanagement auf der ganzen Welt für entsprechende Untersuchungen besser gerüstet sind. Mehr und mehr gelangen Pegau und andere Forscher zu der Erkenntnis, dass die Antwort auf ihre Fragen darin liegt, ein Ökosystem in seiner Gesamtheit zu untersuchen und zu prüfen, auf welche Weise eine einzelne Art wie der Hering in das System hineinpasst. Und in dieser Hinsicht ist Pegau hoffnungsvoller denn je. "Es ist ein riesiges Puzzle", erklärt der Wissenschaftler, und seine dunklen Augen funkeln vor Begeisterung. "Eins der größten Vergnügen ist es, wenn man plötzlich erkennt, wie alle Teile zusammenpassen."
Der Artikel erschien ursprünglich unter dem Titel »Boom and busted« auf »bioGraphic«, einem digitalen Magazin, das von der California Academy of Sciences publiziert wird.
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