Direkt zum Inhalt

Probiotika: Bakterien als Arzneien

Probiotische Keime können womöglich sehr spezifisch gegen diverse Leiden vorgehen. Forscher suchen nach einer neuen Generation Probiotika im Darm.
Probiotische Bakterien

Der New Yorker Mediziner William B. Coley staunte nicht schlecht, als sich bei einigen seiner Krebspatienten der Tumor nach einer bakteriellen Infektion zurückbildete. Er war der Erste, der Bakterien Antitumorwirkungen zuschrieb – das war im Jahr 1890. Die Idee hat heute wieder Hochkonjunktur, in Zeiten, in denen die Blackbox Darmflora mit Hilfe von neuen und billigen Technologien wie der High-Throughput-Sequenzierung detailliert erforscht und analysiert werden kann. Zahlreiche Forschergruppen sind nun auf der Suche nach geeigneten Mikroben, die etwa gegen Morbus Crohn, Diabetes Typ 1 oder Krebs vorgehen könnten. Dabei haben sie reichlich Auswahl: Mehr als 1000 Bakterienarten hat man bereits gefunden, manche Schätzungen gehen jedoch von bis zu 36 000 Arten aus.

Als hilfreiche Mikroben identifizierte Keime wären dann eine neue Generation von Probiotika, die eben nicht, in ein Trinkjogurt gemixt, im Supermarkt verkauft, sondern vom Arzt verschrieben würden. Das Prinzip des mit speziellen Laktobazillen versetzten Jogurts ist es, bei gesunden Menschen zu wirken, etwa um das Immunsystem zu stärken. Doch die Hersteller konnten die allgemeine Aussage »aktiviert die Abwehrkräfte« nicht mit Studien belegen, darum dürfen sie die Produkte seit 2012 nicht mehr unter dem Zusatz »Probiotika« verkaufen.

Laut einer Übersichtsstudie aus dem Jahr 2015 konnten diverse damals auf dem Markt befindliche Probiotika in Lebens- oder Nahrungsergänzungsmitteln, vor allem Laktobazillen, auch nichts gegen Adipositas ausrichten. Selbst einigen Babymilchnahrungen werden Probiotika zugesetzt, um gegen Allergien zu schützen. Doch auch hier fehlen Belege für einen gesundheitlichen Nutzen. Die Verbraucherzentrale rät darum von diesen Lebensmitteln ab. Dafür plädieren die Verbraucherschützer für Sauermilchprodukte und vergorene Lebensmittel wie Sauerkraut, da sie eine schützende Wirkung auf die Darmflora hätten und vermutlich das Immunsystem aktivieren.

Für die medizinische Forschung bleiben Probiotika derweil interessant. So sieht etwa die Datenlage zu antibiotikaassoziierten Durchfällen bei Kindern besser aus. Eine Cochrane-Analyse aus dem Jahr 2015 besagt, dass Kinder, die sich einer Antibiotikatherapie mit einer Extraportion Lactobacilli spp., Bifidobacterium spp. oder Streptococcus spp. unterziehen, seltener von Diarrhöen betroffen sind als ohne. Genauer traten in der Probiotikagruppe bei acht Prozent Beschwerden auf, in der Placebogruppe waren es 19 Prozent.

Eine neue Generation?

Doch Laktobazillen sind eigentlich von gestern. Derzeit suchen die Forscher nach ganz neuen Mikroben mit Heilungspotenzial – das »Microbial Mining« ist in vollem Gang. »Wir brauchen dringend neue Probiotika«, sagt Stephan Bischoff, Gastroenterologe an der Universität Hohenheim in Stuttgart. So gibt es erste Kandidaten wie etwa Bacteroides fragilis. Das Bakterium gehört zur natürlichen Darmflora des Menschen und könnte einmal chronisch entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa lindern .

Etwa ein Prozent der Menschen weltweit ist von diesen Leiden betroffen, aber die Raten steigen. Warum, bleibt bislang ziemlich unklar. »Sicher ist, dass die Darmkrankheiten genetische Komponenten haben, aber auch Faktoren aus der Umwelt dazu kommen müssen, damit die Krankheit ausbrechen kann«, schreibt Hiutung Chu vom California Institute of Technology in einer Studie aus dem Jahr 2016. Und hier könnte B. fragilis ins Spiel kommen. Das Bakterium sondert nämlich Zuckermoleküle über seine Außenhülle ab, und diese stimulieren Darmzellen zur Bildung von antientzündlichen Stoffen. »Es wurde bereits in Versuchen an Mäusen gezeigt, dass kranke Tiere von B.-fragilis-Gaben profitieren«, so Chu weiter.

Faecalibacterium-prausnitzii-Stämme haben auch Probiotikaqualitäten, wie französische Forscher um Rebeca Martín von der Université Paris-Sarclay kürzlich gezeigt haben. Sie kommen in großen Mengen im Darm vor und machen fünf Prozent der Bakterienmasse bei gesunden Erwachsenen aus. Bei Patienten mit Morbus Crohn, Übergewicht, Reizdarm, Darmkrebs und Zöliakie findet man jedoch weniger dieser Keime im Stuhl. Martín hat nun verschiedene F.-prausnitzii-Stämme auf ihr Können hin untersucht. Besonders interessant war, dass die Keime kurzkettige Fettsäuren im Darm bilden, die antientzündlich wirken.

Auch bei der Entstehung des Typ-1-Diabetes sind es entzündliche Vorgänge, die die Krankheit vorantreiben. Eine Studie an der Jiangnan University in China hat 2017 aufgedeckt , dass bei Mäusen mit einer genetischen Prädisposition für Typ-1-Diabetes mit Hilfe des Probiotikums Clostridium butyricum CGMCC0313.1 zumindest der Ausbruch der Erkrankung hinausgezögert werden kann. Dafür wurden Mäuse mit dem Probiotikum gefüttert. Man sah, dass dadurch so genannte »Tregs« hochreguliert wurden und das wiederum autoaggressive Vorgänge in der Bauchspeicheldrüse verminderte.

Nützliche Mikroben können über die Bildung von antientzündlichen Substanzen auch das Immunsystem beeinflussen. Man weiß etwa aus früheren Studien, dass bestimmte Bakterien im Darm das Zytokin Interferon-Gamma bilden. Dieses treibt das Immunsystem dazu an, gegen pathogene Keime wie Salmonellen vorzugehen. Naama Geva-Zatorsky von der Harvard Medical School hat Mäusen mehr als 50 verschiedene Bakterienspezies verabreicht, wovon die meisten positive Wirkungen auf das Abwehrsystem hatten .

»Den Studien an Mäusen müssen nun natürlich Humanstudien folgen«Stephan Bischoff

Auch die Idee des New Yorker Arztes William Coley, Bakterien gegen Krebs einzusetzen, wird weitergedacht. Eine Studie aus dem Iran zeigte kürzlich, dass Acetobacter syzygii dem Plattenepithelkarzinom im Mundraum vorbeugt. A. syzygii ist ein Bakterium, das in verschiedenen fermentierten Produkten vorkommt. Zudem verbessern Bakterien offenbar die Wirkung von Chemotherapien. »Auch hier kommt wiederum Bacteroides fragilis in Betracht«, so Stephan Bischoff. Bei Krebspatienten beispielsweise, die die Immuntherapie Ipilimumab erhalten, hängt es von den Bazillen ab, wie stark die Heilung voranschreitet, das haben französische Forscher um Marie Vétizou vom Gustave Roussy cancer campus 2015 herausgefunden. Auch Akkermansia muciniphila verbessert laut einer Studie die Wirksamkeit von Chemotherapeutika gegen Lungen- und Nierenkrebs. Parallel wurde in Versuchen an Mäusen bestätigt, dass entsprechende Probiotika die Arzneien verstärken. Krebsforscher bezeichneten diese Funde als »äußerst vielversprechend«.

Andere Untersuchungen konnten zeigen, dass das Bakterium Christensenella minuta, das sich ebenfalls im Darm tummelt, hilfreich gegen übermäßige Pfunde sein könnte. Einzelne Bestandteile der Mikroben könnten als Arznei taugen. So waren Probiotika-Metabolite wie die Aminosäure D-Tryptophan gegen Asthma wirksam. »Den Studien an Mäusen müssen nun natürlich Humanstudien folgen«, betont Bischoff. Er ist davon überzeugt, dass Bakterientherapien ein wichtiger Teil der Medizin sein werden.

Auf dem Markt finden sich allerdings schon heute einige Probiotika wie etwa Symbioflor oder Omniflora M. Diese gelten jedoch rechtlich als Nahrungsergänzungsmittel und müssen daher nicht in klinischen Studien erprobt werden. Alles Humbug, also? »Nein«, meint Jan Wehkamp, Gastroenterologe an der Uniklinik Tübingen, »aber jeder Bakterienstamm hat unterschiedliche Eigenschaften; nicht jeder Keimstamm nützt also auch jedem Menschen.« Es gibt derzeit wenige seriöse Tests zu den vielen Präparaten – an einem Überblick versucht hat sich etwa das Magazin »Focus« mit der Expertise von Wehkamp, der auch Vorstand der Deutschen Gesellschaft für mukosale Immunologie und Mikrobiom (DGMIM) ist. Und tatsächlich eigenen sich einige Probiotika etwa gegen Reizdarm oder bei der Therapie von Colitis ulcerosa nach den akuten Krankheitsschüben. Allerdings können die Mikrobenarzneien auch Nebenwirkungen haben. Einige Probiotika waren vor allem bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem gefährlich. Und Wehkamp rät: »Wer akute Entzündungen vor allem im Verdauungstrakt hat, sollte in dieser Situation darauf verzichten und im Zweifelsfall seinen Arzt fragen.«

»Nicht jeder Keimstamm nützt jedem Menschen«Jan Wehkamp

Doch nicht nur in der Medizin könnten Probiotika zunehmend an Bedeutung gewinnen. Sportwissenschaftler suchen nach Keimen, die die Performance verbessern könnten. Jonathan Scheimann von der Harvard University hat etwa Mikroben im Darm von Spitzenathleten aufgespürt, die besonders gut Milchsäure abbauen. Denn Milchsäure ist die Substanz, die Muskeln und Fitness schlapp werden lässt. Derzeit sammelt er auf der ganzen Welt Stuhlproben von Spitzensportlern, um andere Keime zu finden, die die Leistung oder auch die Muskelregeneration verbessern. Mit solchen »Champion-Mikroben« sollen in einem nächsten Schritt Mäuse gefüttert und ihre Leistung verglichen werden.

Und es geht Scheimann dabei gar nicht nur um Profiathleten: »Unsere Produkte sollten auch für Breitensportler geeignet sein, die einfach nur fit und gesund sein wollen.« Solche Probiotika hätten natürlich einen viel größeren Markt als medizinische Präparate. Indes, andere Ärzte hegen Zweifel an dem Vorhaben: William Hanage, Epidemiologe und ebenfalls Harvard-Forscher, glaubt nicht, dass man einfach spezielle Mikroben von einem in den anderen Darm verpflanzen kann und sie dort die gleichen, etwa leistungssteigernde Wirkungen haben. »Es gibt unzählige Bakterienstämme, und was ein Stamm bei einer Person für Effekte hat, muss nicht bei einer anderen Person auch so sein«, so Hanage. Der Darm ist eben doch immer noch eine Blackbox.

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.