Darm-Hirn-Achse: Was Darmbakterien mit Depressionen zu tun haben
Der Mensch lebt nicht allein. Schätzungsweise eine Billiarde Bakterien – ganze zwei Kilogramm Gewicht – tummeln sich auf und in ihm. Ihre Aufgaben im menschlichen Körper sind so vielfältig, dass ein Homo sapiens ohne Mitbewohner nicht weit käme. Die im Darm lebenden Bakterien helfen, die Nahrung zu verdauen, trainieren das menschliche Immunsystem und verhindern die Ausbreitung krank machender Bakterien. Lange Zeit wurde die Bedeutung der zahllosen Winzlinge unterschätzt. Heute lassen etliche Studien erkennen, dass die Darmflora bei der Entstehung vieler Erkrankungen wie Übergewicht, Reizdarmsyndrom und Asthma eine Rolle spielt – und möglicherweise sogar das Verhalten ihres großen Wirts beeinflusst.
In einem aktuellen Übersichtsartikel der Fachzeitschrift "Drug Discovery Today" gehen der Mikrobiologe Graham Rook und seine Kollegen noch einen Schritt weiter: Ihnen zufolge ist eine gestörte Darmflora ein Risikofaktor für Depressionen. "Die Darmflora reguliert Entzündungsprozesse im Körper. Eine veränderte Darmflora kann bei entsprechend veranlagten Individuen zu anhaltenden Entzündungsreaktionen führen – und damit auch deren Gemütslage beeinflussen", sagt Rook, Professor am University College London.
Der größte Teil der Daten, die eine Beteiligung der Darmflora an der Hirnfunktion zeigen, stammt aus Tierversuchen. Das Team von Sven Pettersson vom Karolinska-Institut in Stockholm etwa verglich Mäuse ohne Darmflora mit normalen Nagern. Die Forscher beobachteten, dass sich die keimfreien Mäuse weniger vorsichtig und weniger ängstlich verhielten – sie zogen sich zum Beispiel nicht wie ihre normalen Artgenossen in die dunklen Bereiche des Käfigs zurück.
Mäuse ohne Vorsicht
Die Aktivität zweier mit Angst assoziierter Gene, NGFI-A (nerve growth factor-inducible clone A) und BDNF (Brain-derived neutrophic factor), war in einigen Hirnteilen gedrosselt. Zusätzlich war die Konzentration bestimmter Neurotransmitter wie Noradrenalin und Dopamin in manchen Hirnteilen verändert. Ein Ungleichgewicht oder ein Mangel an Serotonin, Noradrenalin und Dopamin wird mit Depressionen in Verbindung gebracht.
"Die Pharmaindustrie hat in der Vergangenheit nur über Medikamente nachgedacht, die Bakterien töten. Ich vermute, dass in den kommenden Jahren ein Umdenken stattfinden wird."Michael Fischbach
Forscher um Stephen Collins von der McMaster University in Ontario erhielten mit einem anderen Versuch ein ähnliches Ergebnis: Zerstörten sie die Darmflora von Mäusen mit Antibiotika, wurden auch ihre Tiere weniger ängstlich. Die Forscher stellten ebenfalls eine Veränderung des BDNF-Spiegels fest. Setzten die Forscher die Antibiotika wieder ab, lebten bald darauf die gleichen Bakterien im Darm der Mäuse wie zuvor. Die Hirnchemie normalisierte sich, und auch die Ängstlichkeit kehrte zurück. In einem weiteren Versuch übertrugen sie die Darmbakterien eines Mäusestamms, der für seine Neugier und Erkundungsfreude bekannt ist, auf eher träge Artgenossen. Diese zeigten daraufhin ebenfalls mehr Interesse an ihrer Umwelt.
Nicht nur das Eliminieren, auch das Zufüttern bestimmter Bakterienarten scheint das Nagerverhalten zu beeinflussen: Ein irisch-kanadisches Forscherteam fütterte eine Mäusegruppe mit Lactobacillus-rhamnosus-Bakterien, die in Jogurt vorkommen; die Kontrollgruppe erhielt normales Futter. Im Verhaltenstest – die Mäuse hatten die Wahl zwischen freien Flächen und solchen, die durch Wände geschützt waren – zeigten sich die mit Jogurtbakterien gefütterten Mäuse wiederum weniger ängstlich und liefen häufiger auf die Freiflächen hinaus als ihre normal ernährten Artgenossen.
Gilt Gleiches für den Menschen?
Warum sowohl Mäuse ohne Darmbakterien als auch Mäuse, die mit einer Extraportion Bakterien gefüttert wurden, weniger ängstlich werden, lässt sich momentan noch nicht beantworten. Der Einfluss der Darmbakterien auf die Hirnchemie und damit auf das Verhalten scheint aber offensichtlich. Und da Angsterkrankungen und Depressionen beim Menschen häufig gleichzeitig vorkommen und auf die gleichen Medikamente ansprechen, stellt sich die Frage, inwieweit die Ergebnisse aus den Mäuseversuchen auf den Menschen übertragbar sind.
Claus Normann, geschäftsführender Oberarzt der Abteilung Psychiatrie am Universitätsklinikum Freiburg, ist skeptisch: "Für Mäuse ist es ein vollkommen abnormales Verhalten, sich bei Ängstlichkeitstests nicht in dunkle Ecken zu verkriechen. In freier Wildbahn würden sie sofort von Katzen oder Vögeln gefressen. Aber beim Menschen soll sich das nur positiv auswirken." Auch Emeran Mayer, Neurogastroenterologe an der University of California in Los Angeles, ist zögerlich: "Mäuseforscher übertragen ihre Ergebnisse gerne auf den Menschen, und in 90 Prozent der Fälle erweisen sich die Vorhersagen als falsch. Allerdings scheint es auch beim Menschen zumindest eine Verbindung zwischen der Darmflora und der Gehirnfunktion zu geben. Aktuell laufen zahlreiche Studien dazu."
Rook und seine Kollegen rollen ihre Darmbakterien-Depressions-Theorie derweil von einer anderen Seite auf: Depressionen, so schreiben die Autoren, gehen auf chronisch entzündliche Prozesse im Körper zurück – wie auch Übergewicht, Asthma und das Reizdarmsyndrom. Generell nähmen diese chronisch entzündlichen Erkrankungen in den Industrieländern seit Mitte des 20. Jahrhunderts dramatisch zu.
Eine Erklärung dafür könne die moderne Lebensweise des Menschen sein: Durch den Mangel an Dreck, Fäkalien und Würmern in unserer Umgebung fehle uns der Kontakt zu Keimen, denen wir jahrtausendelang ausgesetzt waren. Diese Organismen stimulierten unsere Darmflora und trainierten unser Immunsystem, besagt die so genannte Hygiene-Hypothese, die erst kürzlich in Alte-Freunde-Hypothese umbenannt wurde.
Alte Freunde nutzen dem Immunsystem
Tatsächlich unterscheidet sich die Darmflora von Europäern und Afrikanern ländlicher Herkunft, die ein vergleichsweise ursprüngliches Leben führen. Eine aktuelle Studie in "Nature" fand ebenfalls Unterschiede in der Darmflora von Amerikanern verglichen mit Venezolanern aus dem Amazonasgebiet sowie Menschen aus dem ländlichen Malawi. "Liegt keine Infektion vor, sinken die Entzündungsparameter (c-reaktives Protein, CRP) bei Menschen in Entwicklungsländern. Bei Amerikanern passiert das nicht. Die Entzündungsparameter lassen sich stets nachweisen, auch wenn keine Infektion vorliegt", sagt Rook. Eine gestörte Darmflora führe so zu einem schlechter regulierten Immunsystem und erhöhe damit das Risiko einer Depression.
Einen weiteren Beleg für den Zusammenhang von Depressionen und Entzündungen sehen manche Wissenschaftler in folgendem Sachverhalt: Menschen, die immunstimulierendes, also entzündungsförderndes Interferon-alpha oder Interleukin-2 erhalten – Substanzen, die bei bestimmten Krebsarten und einer viralen Hepatitis eingesetzt werden –, können als Nebenwirkung eine Depression entwickeln, die erfolgreich mit Antidepressiva behandelt werden kann.
Normann ist auch von diesem Zusammenhang nicht überzeugt: "Ich sehe keine klare Verbindung zwischen Entzündung und Depression. Alle mir bekannten Versuche, Depressionen durch entzündungshemmende Medikamente zu heilen, sind immer im Sand verlaufen." Die Verbindung zwischen Stress und Depression sei viel stärker belegt als die zwischen Entzündung und Depression.
Bakterien gegen den Stress
So haben Depressive nachweislich eine höhere Konzentration des Stresshormons Cortisol im Blut. Doch auch bei Stress scheinen die Darmmikroben mitzumischen: Keimfreie Mäuse reagieren viel empfindlicher auf Stress als Mäuse mit Darmflora. Die überschießende Stressreaktion lässt sich mit der Gabe von Bifidobacterium infantis, dem vorherrschenden Organismus im kindlichen Darm, rückgängig machen.
Forscher um Ted Dinan vom University College Cork zeigten in einer weiteren Untersuchung, dass dieser Keim auch die Stresssymptome bei Ratten lindert: Ratten, die von ihren Müttern früh getrennt worden waren, um depressionsartige Symptome hervorzurufen, wurden einem Schwimmtest unterzogen. Diejenigen, die mit Bifidobacterium infantis gefüttert wurden, schwammen länger und wiesen eine höhere Konzentration des Neurotransmitters Noradrenalin auf. Sie galten damit als weniger depressiv als Ratten, die das Probiotikum nicht erhalten hatten.
Auch beim Menschen wurden erste klinische Versuche mit Probiotika durchgeführt: Eine Gruppe gesunder Personen, die 30 Tage lang eine probiotische Kombination aus Lactobacillus helveticus und Bifidobacterium longum erhalten hatte, gab ein größeres Wohlbefinden und weniger Angstgefühle an als die entsprechende Placebogruppe. Beide Gruppen waren nach gängigen psychiatrischen Einschätzungstests bewertet worden.
Ähnliche Ergebnisse erzielte eine Studie mit Patienten, die am Chronischen Erschöpfungssyndrom litten, einer Krankheit, bei der oft auch Angstgefühle und Depressionen entstehen. "Probiotika wurden bislang noch nicht an Depressiven getestet. Aber bei Menschen, die an einem Reizdarmsyndrom leiden, das in 40 Prozent der Fälle mit Depressionen und Angst einhergeht, wirken manche Probiotika", sagt der Psychiatrieprofessor Dinan.Ein Therapieansatz wäre denkbar
Wie Darmbakterien die Hirnchemie genau beeinflussen, darüber können die Forscher bislang nur spekulieren. Der Vagusnerv, der das Gehirn mit dem Darm verbindet, spielt sehr wahrscheinlich eine Rolle: Eine Infektion mit Salmonellen regt die Aktivität bestimmter Gene im Gehirn an. Ist der Vagusnerv durchtrennt, unterbleibt die Aktivierung. Und sehr wahrscheinlich produzieren Darmbakterien Substanzen, die über die Blutbahn ins Gehirn gelangen.
Die zunehmenden Erkenntnisse rund um die Mikroben des Menschen rücken auch mögliche Therapien vermehrt in den Vordergrund. Zwar sind weder die Wechselwirkungen zwischen Gehirn und Darmflora gut verstanden noch die Wechselwirkungen der Darmbakterien untereinander. Dennoch sehen viele Wissenschaftler ein großes Potenzial in Pro- und Präbiotika.
Der Mikrobiologe Michael Fischbach von der University of California in San Francisco bringt es auf den Punkt: "Die Pharmaindustrie hat in der Vergangenheit nur über Medikamente nachgedacht, die Bakterien töten. Ich vermute, dass in den kommenden Jahren ein Umdenken stattfinden wird." Auch Rook und seine Kollegen warten derweil auf die Bewilligung von Geldmitteln, um zu testen, ob ein Mikrobencocktail aus "alten Freunden" stimmungsaufhellend wirkt.
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