Forschungskooperationen: Das Ende des Schubladendenkens
Die Idee klingt kühn: Die Chefetagen der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) und der Fraunhofer-Gesellschaft (FhG) überlegen, künftig nicht nur in Projekten zusammenzuarbeiten. Sie tüfteln an weiter gehenden Zukunftsvisionen, an gemeinsamen Instituten ebenso wie an gemeinsamen Auslandsaktivitäten. Spruchreif sind diese Pläne zwar noch nicht. An den Details soll aber bereits gefeilt beziehungsweise es soll abgewogen werden, ob und wie sie in die Realität umgesetzt werden könnten.
Kühn ist das, weil die beiden großen Forschungsorganisationen eigentlich zwei grundverschiedene Ausrichtungen haben. Die FhG als größte Organisation für anwendungsorientierte Forschung in Europa ist zum Wirtschaften gezwungen. Sie muss geldwerte Vorteile aus Forschungsleistungen ziehen. Die MPG dagegen gilt als eine der weltweit besten außeruniversitären Organisationen für Grundlagenforschung. Ihre Mission ist es, Wissenschaft erkenntnisorientiert und ergebnisoffen zu betreiben. Anwendungsnahe Forscher und Grundlagenforscher wollen also gemeinsame Sache machen. Gehören sie aber auch zusammen?
Aus dem Nichts sind die neuen Pläne nicht entstanden. Es gibt Vorläufer. Bereits seit sieben Jahren kooperieren die beiden Forschungsorganisationen in einzelnen ausgewählten Projekten. MPG und FhG stellen dafür jedes Jahr rund sieben Millionen Euro zur Verfügung. Bislang wurden 21 Kooperationen gefördert. Einige sind schon abgeschlossen. Läuft ein Projekt aus, wird ein thematisch neues Forschungsprojekt in die Förderung aufgenommen. Bei den Forschern kommt das offenbar an. Jedes Jahr bewerben sich zehn bis zwölf potenzielle Teams aus FhG- und MPG-Instituten, die zusammen forschen wollen. Zwei bis drei erhalten dann einen Zuschlag.
Welches Potenzial in solchen Forschungskooperationen stecken kann, veranschaulicht ein Projekt aus der Medizin, das in diesem Jahr ausläuft: Forscher des Fraunhofer-Instituts für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik (IGB) Stuttgart, der Max-Planck-Institute für Intelligente Systeme in Stuttgart und Polymerforschung in Mainz sowie der Universität Stuttgart wollten für den menschlichen Körper besonders verträgliche Implantate einer neuen Generation auf Basis von Biomaterialien entwickeln.
Für die Knochenkrankheit Arthrose etwa, bei der an Gelenkknorpeln und -knochen Defekte auftreten, gibt es bislang keine optimalen Behandlungsmöglichkeiten. Die Wissenschaftler untersuchen deshalb, wie die Implantate beschaffen sein müssen, damit Zellen auf ihnen zu neuem funktionierendem Gewebe zusammenwachsen. Mit einem solchen Implantat ließe sich schadhaftes Gewebe ersetzen. "Wir wollen eine Gerüststruktur entwickeln, die adulten Stammzellen die optimale Umgebung bietet, um sich anzusiedeln, zu wachsen und zu knochen- und knorpelbildenden Zellen zu reifen", sagte Thomas Hirth, der Leiter des Fraunhofer IGB, bei einer Projektpräsentation.
Die Grundlagen lieferten die MPG-Kollegen, die zuerst analysierten "mit welchen biochemischen Signalen Zellen auf mechanische Reize verschiedener Oberflächenstrukturen reagieren", so Joachim Spatz, Direktor am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme und Projektleiter auf Max-Planck-Seite. Die Uni Stuttgart untersuchte zudem ein bestimmtes Signalprotein und steuerte ihrerseits einen Teil des institutionenübergreifenden Projekts bei. Hirth zufolge wurde durch diese Forschungskooperation "die Basis für körpereigene Implantate geschaffen". Wenn es in den nächsten Monaten gelingt, diesen Prozess zu standardisieren und zu evaluieren, dann "könnten selbstheilende Implantate für Knochen und Knorpel schon bald in die medizinische Praxis gelangen".
Innovationen der Geisteswissenschaft
Nicht nur in den Natur-, auch in den Geisteswissenschaften können durch Kooperation von Grundlagen- und Anwendungsforschung Innovationen entstehen. Das zeigt ein Projekt, das der Frage nachgeht, wie Sprache im Gehirn verarbeitet wird: Wie hängen Handbewegungen mit dem gesprochenen Wort zusammen? Verspricht sich die Hand auch oder gleicht sie Fehler aus? Das versuchen Wissenschaftler vom MPI für Psycholinguistik im niederländischen Nijmegen zu erforschen. Für ihre Analyse nutzen sie über 50 000 Stunden Videoaufzeichnungen.
Der Haken an der Sache ist, dass die Durchsicht von so viel Filmmaterial extrem mühselig ist. Abhilfe verspricht die Kooperation mit Forschern von drei Fraunhofer-Instituten, dem für Nachrichtentechnik, dem Heinrich-Hertz-Institut (HHI) und dem Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme. Diese haben ein Softwareprogramm entwickelt, das komplexes Video- und Audiomaterial vorab automatisch kennzeichnet. "Das System erkennt selbstständig, an welchen Stellen des Videos beispielsweise gesprochen wird", erklärt Oliver Schreer, Projektleiter am HHI.
"Die Zusammenarbeit stößt auf wachsende Begeisterung"
Helmut Schmidt
Die Kollegen vom MPI sparen damit viel Zeit. Auf Interesse stößt die Neuentwicklung aber auch bei anderen Wissenschaftlern und in der freien Wirtschaft, etwa bei der Aufzeichnung von Konferenzen und Plenarsitzungen. Ein großer öffentlichrechtlicher Fernsehsender nutzt Teile der Innovation zudem schon zum Wiederfinden von archivierten Fernsehsendungen.
Sinnhaftigkeit steht in Frage
Diese beiden Beispiele, in denen sich Experten aus Grundlagen- und Anwendungsforschung zusammentun, um Neuerungen zustande zu bringen, stellen die Sinnhaftigkeit der Unterscheidung in die zwei Forschungstypen in Frage. Zumindest zeigen sie, dass die Grenzen zwischen Grundlagen- und Anwendungsforschung verwischen.
Das sehen die beteiligten Forscher ähnlich. Die Zusammenarbeit zwischen FhG und MPG stoße auf "wachsende Begeisterung", meint etwa Helmut Schmidt, FhG-Koordinator des Kooperationsprogramms mit der MPG. Der wichtigste Antriebsfaktor für solche Allianzen ist aus seiner Sicht "der wachsende Respekt" vor den wissenschaftlichen Leistungen des jeweils anderen Partners. "Die Wahrnehmung des Anderen hat sich verändert", sagt Schmidt. Das jahrzehntelange Schubladendenken und Kategorisieren bricht auf. Galt früher das Motto "die einen forschen ergebnisoffen, die anderen forschen wirtschaftsnah", sagt Schmidt, seien heute eher die Qualität und der Zweck der Forschungsleistungen ausschlaggebend.
Andere Wissenschaftsorganisationen wie die größte deutsche, die Helmholtz-Gemeinschaft, haben sich gar nicht erst auf einen bestimmten Forschungstyp festlegen lassen. Unter ihrem Dach finden sich Großforschungseinrichtungen, deren globales Ziel es ist, "die großen, drängenden Fragen der Wissenschaft, Gesellschaft und Wirtschaft zu beantworten", heißt es in ihrem Leitbild.
Eine strikte Trennung in Grundlagen- und Anwendungsforschung ist da nicht zu erkennen. Auch die Leibniz-Gemeinschaft strebt nicht danach, sich in ihrem Leitbild über Abgrenzungen zu definieren. Stattdessen will sie einen Brückenschlag zwischen den Geistes- und Sozialwissenschaften sowie den Natur-, Lebens- und Ingenieurwissenschaften ermöglichen.
Schubladen helfen nicht weiter
Haben also die herkömmlichen Kategorien Grundlagenforschung einerseits und anwendungsorientierte Forschung andererseits ausgedient? Das simple Sortieren in die beiden Schubladen hilft zumindest nicht mehr weiter. "Unsere Arbeitsteilung in Anwendungs- und Grundlagenforschung ist hervorragend, hochausdifferenziert und besonders effizient", sagt FhG-Koordinator Schmidt. "Die Konzentration der MPG auf Grundlagenforschung und der FhG auf Anwendungsforschung bleiben auch weiterhin unsere Alleinstellungsmerkmale."
"Nationen, die dazu eine Politik entwickeln würden, wären in der besten Position, die Innovationen im 21. Jahrhundert anzuführen"
Benoît Godin
An den Peripherien gäbe es aber Querverbindungen. "Man greift zu kurz, wenn man nur in engen Schablonen denkt", meint Schmidt. Andere Wissenschaftler gehen noch einen Schritt weiter. Günter Stock, Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) wies Ende 2011 in der BBAW-Zeitschrift "Gegenworte" darauf hin, dass sich historisch gesehen beide Forschungstypen tatsächlich lange Zeit "fast in Isolation zueinander entwickelten". Dies sei heutzutage allerdings in vielen Fachdisziplinen nicht mehr der Fall. Stock plädiert dafür, neue Kriterien zu finden "und nicht in den alten, mit vielen Konnotationen verbundenen Schemata" zu verharren. Zugleich warnt er: "Es sollte mit jeder Art von Begrifflichkeit Sorge dafür getragen werden, dass keine mentalen Hürden aufgebaut und damit ethische Werturteile verbunden werden."
Im gleichen Heft beschreiben der kanadische Wissenschaftsforscher Benoît Godin und der amerikanische Technologieforscher Joseph Lane eine politisch-historische Abgrenzung zwischen Grundlagen- und Anwendungsforschung. Dabei bringen sie die Kategorien der Innovation und der industriellen Entwicklung mit ins Spiel, also die Perspektive derjenigen, die von Forschungsergebnissen profitieren. Im Rückblick zeige sich, dass immer wieder Querverbindungen zustande kamen. So sei schon im frühen 20. Jahrhundert von Industriellen die Grundlagenforschung "als elementar für die industrielle Entwicklung" angesehen worden.
Wissenschaftliche Forschung hat aus Sicht von Godin und Lane so lange keinen kommerziellen Wert, bis sie angewandt wird. Es bedürfe also der Entwicklungsmethoden der Ingenieure und der industriellen Produktion. Sowohl die wissenschaftliche Forschung als auch die ingenieursmäßige Entwicklung seien wichtige Stadien im Kontext technologischer Innovationen. Die beiden Forscher plädieren dafür, in neuen Kategorien zu denken. "Nationen, die dazu eine Politik entwickeln würden, wären in der besten Position, die Innovationen im 21. Jahrhundert anzuführen."
Auch auf europäischer Ebene gewinnt der Begriff der Innovation zunehmend an Bedeutung und könnte damit an den Grenzen zwischen Grundlagen- und Anwendungsforschung kratzen. Das jüngste Beispiel sind die proof-of-concept-Stipendien des Europäischen Forschungsrats (ERC). Mit ihnen sollen bereits geförderte ERC-Stipendiaten ihre exzellente Forschung leichter zur Marktreife bringen. Es klingt also nach Aufbruch, wenn MPG-Vizepräsident Martin Stratmann sagt, dass FhG und MPG Kräfte bündeln und auf Ziele ausrichten "die wir alleine jeweils niemals erreichen könnten.
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