Evolution: Das Nervensystem entstand mindestens zweimal
Die Evolution hat bei exotischen Meerestieren einen völlig anderen und bislang unbekannten Typ von Nervensystem hervorgebracht. Die meisten Nervenzellen der Rippenquallen, einer Gruppe durchsichtiger Meerestiere mit typischen irisierenden Streifen am Körper, sind nicht über Synapsen verbunden, sondern zu einer einzelnen, netzartigen Riesenzelle verschmolzen. Das entdeckte eine Arbeitsgruppe um Pawel Burkhardt von der Universität Bergen in Norwegen und Maike Kittelmann von der Oxford Brookes University bei elektronenmikroskopischen Untersuchungen am Larvenstadium der Meerwalnuss (Mnemiopsis leidyi). Wie das Team in »Science« berichtet, ist das Netz über normale Synapsen mit Sinneszellen und Steuerungsneuronen verbunden. Die Entdeckung stützt die Vermutung, dass Rippenquallen ihr Nervensystem unabhängig von anderen Tieren entwickelten.
Das Nervensystem der Rippenquallen hat zwei organisatorische Ebenen. Die im Körper verteilten Zellen des Nervennetzes, das quasi das Zentrum des Systems bildet, haben lange, wie Perlenketten aussehende Fortsätze, die an ihren Enden direkt mit den Fortsätzen anderer Nervenzellen verschmolzen sind. Sie bilden damit ein so genanntes Syncytium, eine Art Riesenzelle, wie man sie zum Beispiel auch von Schleimpilzen kennt. Ein Farbstoff kann sich in diesem Syncytium ungehindert ausbreiten, wie das Team zeigte. Neben den Neuronen des Netzes besitzen Rippenquallen außerdem mehrere Typen von Nervenzellen, die nicht zum Netz selbst gehören: mehrere Typen von Sinneszellen sowie Neurone, die Tentakel und die Geißeln auf den Rippen ansteuern. Diese sind über Synapsen mit dem Netz verbunden, an denen die Zellen über Neurotransmitter Signale austauschen. Sie bilden außerdem untereinander einfache Schaltkreise, deren genaue Funktion jedoch noch nicht klar ist.
Dass das Nervensystem der Rippenquallen so anders organisiert ist als bei allen anderen Tieren, wirft zudem bisherige Annahmen über die evolutionäre Stellung der Rippenquallen über den Haufen. Bislang gruppiert man sie gemeinsam mit Nesseltieren, zu denen auch die normalen Quallen zählen, als Coelenterata, auf Deutsch Hohltiere. Beide Gruppen ähneln sich im Körperbau: Neben transparenten geleeartigen Körpern haben sowohl Rippenquallen als auch Nesseltiere ein Nervennetz, in dem die Nervenzellen im Körper verteilt und eben netzartig miteinander verbunden sind. Die neuen Erkenntnisse über das Nervensystem der Rippenquallen lassen allerdings vermuten, dass diese Ähnlichkeiten rein oberflächlich sind. Bei den Nesseltieren sind alle Nervenzellen voneinander getrennt und über Synapsen verbunden.
Diese deutlichen Unterschiede stellen die Existenz der Coelenterata in Frage und legen nahe, dass die Rippenquallen womöglich eine evolutionäre Schwestergruppe aller anderen Tiere sind. Fachleute debattieren seit Jahren darüber, welche Gruppe diesen Status als unsere entferntesten tierischen Verwandten hat – das Nervensystem spielt dabei eine entscheidende Rolle. Alternativ nämlich könnten sich die Schwämme als Erstes abgetrennt haben; dafür spricht, dass diese überhaupt kein Nervensystem haben. Möglich ist aber auch: Schwämme haben frühe Komponenten eines Nervensystems wieder verloren. Das einzigartige verschmolzene Nervennetz der Rippenquallen stützt nun diese Hypothese. Es deutet darauf hin, dass die anmutigen Schwimmer evolutionär als Erstes ihren eigenen Weg gingen und unabhängig Neurone, Sinneszellen und Reizweiterleitung entwickelten. Demnach entstand das Nervensystem der Tiere evolutionär zweimal.
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