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30 Jahre Tschernobyl: Die Grabstätte des Super-GAUs

Wie viel Gefahr geht noch vom Kernkraftwerk in Tschernobyl aus? Was genau verbirgt sich unter dem Sarkophag, der den havarierten Reaktor von Block 4 umgibt? Und wie geht es dort in Zukunft weiter?
Tschernobyl

Von Deutschland aus bräuchte man mit dem Auto für die gut 1800 Kilometer zum Ort des nuklearen Schreckens um die 20 Stunden. Doch auch wer Tschernobyl nur bei Google Maps besucht, bekommt schnell Werbung für eine Führung – einmal um den Reaktorblock. Ab 89 US-Dollar kann man einen Ein-Tages-Trip in die 30-Kilometer-Sperrzone um das explodierte Kernkraftwerk von Tschernobyl buchen. Auf der Tour kann man erkunden, wie es heute rund um den von der größten Kernkraftkatastrophe in der Geschichte zerstörten Reaktor aussieht. Eine "herzhafte und ökologisch saubere" Mahlzeit kostet fünf Dollar extra, ein Dosimeter zehn. Die Tour scheint sich zu lohnen. 234 Rezensionen liefern bei Google Maps die Durchschnittsnote 4,6 von 5 möglichen Sternen.

Neben einer Fahrt durch die vom Kraftwerk nur drei Kilometer entfernte Stadt Prypjat, die – erst 1970 gegründet – nach dem Unglück vor 30 Jahren zur Geisterstadt wurde, nachdem ihre 48 000 Einwohner evakuiert worden waren, ist einer der Höhepunkte der Tour der Blick auf den so genannten Sarkophag. Unter dieser Grabstätte aus Stahl und Beton verbirgt sich der zerstörte Reaktor Nummer 4, der in der Nacht zum 26. April 1986 in die Luft flog.

© Jimmy Ryan / Youtube; http://www.chernobyldriver.com/
Drohnenflug durch Prypjat
Rundflug durch die verschneite Geisterstadt nahe Tschernobyl im Januar 2016.

Ein Sicherheitstest als Auslöser des Super-GAUs

Ausgangspunkt für das, was man später als Super-GAU, also den größten anzunehmenden Unfall, des Kernkraftwerks Tschernobyl bezeichnen würde, war ein Sicherheitstest. Die Ingenieure wollten das nächtliche Herunterfahren des Kraftwerks nutzen, um einen Stromausfalls zu simulieren. Die Frage, die sie mit dem Test beantworten wollten: Reicht die verbliebene Rotationsenergie in der Drehung der auslaufenden Dampfturbinen im Fall eines Blackouts aus, um die eine Minute zu überbrücken, die es dauert, bis die Dieselgeneratoren auf Leistung sind, und das Kühlsystem der Anlage weiter in Betrieb zu halten?

Im Kontrollraum des Kernkraftwerks Tschernobyl | Diese Aufnahme entstand einen Tag vor dem Reaktorunglück in der Nacht auf den 26. April 1986.

Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände stieg während des Tests die Leistung des Reaktors plötzlich stark an. Gegenmaßnahmen, die die Ingenieure einleiteten, verschlimmerten das Problem bauartbedingt noch, anstatt es zu verringern. Um 1.24 Uhr Ortszeit explodierte Reaktor 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl. Dabei sprengte die Wucht der Katastrophe eine mehrere tausend Tonnen schwere Betonplatte über dem Reaktor weg, und radioaktives Material verschiedener Güteklassen konnte entweichen.

Eine strahlende Wolke bewegte sich auf Grund der herrschenden Windrichtung gen Schweden. Dortige Messungen wiesen am 27. April erstmals den Westen auf die Katastrophe hin. Noch bis zum Abend des 26. April bestand die Kraftwerksleitung selbst gegenüber der sowjetischen Führung in Moskau darauf, dass der Reaktor in Tschernobyl intakt sei und nur gekühlt werden müsse. Und das, obwohl überall auf dem Gelände Teile von Brennstäben und anderes Inventar aus dem Inneren der Anlage verteilt lagen.

Erst am 28. April meldete die staatliche sowjetische Nachrichtenagentur Tass einen "Unfall" in dem Reaktor. Bis zum 5. Mai 1986 hatten sich nach späteren offiziellen Angaben knapp sieben Tonnen radioaktives Material aus dem Reaktorkern in der Umgebung verteilt, darunter Strontium-90, Iod-131, Caesium-137 und Plutonium-241.

Reaktorblock 4 nach der Explosion | Durch die Wucht der Katastrophe wurde die Decke des Reaktors, eine tausende Tonnen schwere Betonplatte, einfach weggesprengt, so dass radioaktives Material in die Umwelt gelangte.

Die anderen drei Blöcke des Kraftwerks wurden nach kurzer Unterbrechung weiterbetrieben. Für das Personal entstand eine Siedlung bei Slawutytsch außerhalb der später eingerichteten Sperrzone, in etwa 50 Kilometer Entfernung von Tschernobyl. Trotz mehrerer Zwischenfälle, unter anderem ein Brand, bei dem das Maschinenhaus von Block 2 im Jahr 1991 schwer beschädigt wurde, schaltete man erst am 15. Dezember 2000 das Kernkraftwerk Tschernobyl, das nach dem Ende der Sowjetunion zur Ukraine gehörte, vollständig ab. Die angespannte Lage bei der Energieversorgung erzwang aus Sicht der ukrainischen Regierung diese lange Laufzeit. Die Zahl der Toten, die mit der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl in Zusammenhang gebracht werden, variiert extrem, zwischen wenigen Dutzend und mehreren Hunderttausend.

Eine Grabstätte des Technikzeitalters

Um die Folgen des Super-GAUs möglichst gering zu halten, baute man zwischen Mai und Ende November 1986 eine provisorische Konstruktion um den havarierten Reaktorblock. Dieser "Sarkophag" aus gut 7000 Tonnen Stahl und 400 000 Kubikmetern Beton wurde auf die Ruine von Block 4 gesetzt. Teilweise steht er auf durch die Schäden der Explosion möglicherweise einsturzgefährdeten Wänden. Wegen der hohen Strahlenbelastung musste man viele Bauteile fernbedient montieren. Dadurch konnte man sie nicht immer präzise in den vorgesehenen Positionen absetzen. Bei wesentlichen Elementen hatte man nicht die Möglichkeit, sie zu verschrauben oder zu verschweißen.

Das Dach des Sarkophags rostet und ist undicht. Normalerweise würde man eine derartige Metallkonstruktion durch regelmäßige frische Anstriche der Außenfassade vor Korrosion schützen. Doch wegen der Strahlung aus dem Inneren des Reaktors ist das nicht ohne Weiteres möglich. Durch die Löcher dringt Regen ein, der radioaktiv kontaminiert im Boden versickern kann und so unter Umständen ins Grundwasser gelangt.

Sowjetische Wissenschaftler sagten der nuklearen Grabstätte 1988 eine Lebensdauer von 20 bis 30 Jahren voraus. Erdbeben, große Schneelasten, Überflutungen, Waldbrände oder Wirbelstürme könnten dem Sarkophag zusätzlich zum Zerfall gefährlich werden. Es ist möglich, dass das Konstrukt trotz zwischenzeitlich durchgeführter Reparaturen in nicht allzu ferner Zukunft unter seiner eigenen Last zusammenstürzt.

Dach des ersten Sarkophags | Der in großer Eile notdürftig errichtete Sarkophag rostet, hat Löcher und droht einzustürzen.

Nach offiziellen Angaben befinden sich im Überrest des mit angereichertem Uran betriebenen Reaktors vom Typ RBMK-1000 noch bis zu 95 Prozent des geschmolzenen Kernbrennstoffs, knapp 190 Tonnen. Dazu kommen viele tausend Tonnen verstrahltes Material wie Sand, Blei und Borsäure, die zum Löschen der Kernschmelze und zum Eindämmen der radioaktiven Stoffe von Hubschraubern aus über der Anlage abgeworfen oder ausgeschüttet wurden.

Wie gefährlich ein Einsturz des Sarkophags wäre, lässt sich schwer sagen. Vermutlich würden herabfallende Trümmer die bis zu 1,5 Tonnen radioaktiven Staubs, die sich mittlerweile dort angesammelt haben sollen, aufwirbeln. Es entstünde eine strahlende Staubwolke, deren "gravierende Auswirkungen (...) auf Entfernungen von weniger als 10 bis 20 Kilometer begrenzt" bleiben würden, wie das Deutsche Atomforum e.V. (DAtF), eine Lobbygruppe der Atomindustrie in einer Studie aus dem Jahr 2011 schätzt. Die Umweltlobbyisten von Greenpeace sehen in einer Studie von 2015 "relevante Strahlenbelastungen" durch einen Einsturz bis zu Entfernungen von 50 Kilometern. Jochen Flasbarth, Staatssekretär im Bundesumweltministerium, erklärte ebenfalls 2015 nach einem Besuch in der Ukraine gegenüber der Zeitung "Die Welt" sogar, ein Einsturz wäre "kein lokales Problem mehr, sondern würde auch andere Staaten treffen".

Ein neuer Sarkophag für die nächsten 100 Jahre

Die Unsicherheit um die verbliebenen Gefahren, die von dem zerstörten Kernkraftwerk ausgehen, lieferte schon frühzeitig genügend Gründe für mehr als 40 Staaten weltweit, sich am "Chernobyl Shelter Fund" zu beteiligen und der Ukraine so bei einer längerfristigen Lösung zur Seite zu stehen. Wie das DAtF in seiner Studie ausführt, standen bei den Planungen zur Zukunft des Sarkophags drei Varianten zur Debatte: Die Verfüllung mit Beton, eine Stabilisierung der bestehenden Konstruktion oder ein komplett neues Schutzbauwerk, ein "Sarkophag 2".

Während mehrerer Ausschreibungsrunden verfestigte sich schließlich der Plan für einen neuen Sarkophag. Der ist nun das Hauptprojekt des so genannten Shelter Implementation Plan (SIP), den der Nationenverbund finanziert. Fünf Ziele soll der SIP erreichen: Man will die Strahlung des im Reaktor verbliebenen Materials eingrenzen, die Verbreitung radioaktiver Substanzen nach außen einschränken, einen kontrollierten Rückbau des alten Sarkophags darunter ermöglichen und die Strahlung und den Zustand des Bauwerks und seiner Umgebung überwachen, einschließlich Erdbeben-Monitoring. Auch soll der Sarkophag einen physischen Schutz vor äußeren Kräften wie Wirbelstürmen oder gar Eindringlingen bieten.

Das New Safe Confinement im Juli 2015 | Der riesige bogenförmige Bau soll über den alten Sarkophag geschoben werden und ihn ab Ende 2017 absichern.

Zum SIP gehört des Weiteren eine Analyse des derzeitigen Zustands des alten Sarkophags. Denn auf Grund des Zeitdrucks fehlen brauchbare Dokumente über die ausgeführten Baumaßnahmen. Zudem wurde der Sarkophag im Rahmen des SIP stabilisiert: Zwei Stahlkonstruktionen entlasten seit 2008 die Westwand, indem sie 80 Prozent des Gewichts des Dachs tragen.

Insgesamt sind für den SIP Kosten von mehr als zwei Milliarden Euro eingeplant. Der größte Teil davon entfällt auf den neuen Sarkophag, der im Projekt den Namen New Safe Confinement (NSC) trägt. Das NSC wird wohl über 1,3 Milliarden Euro teuer.

Zahlen zu Kosten und Zeitplan waren jedoch bislang wenig mehr als Orientierungsmarken. Das Projekt hat sich vielfach verzögert und verteuert. Ursprünglich sollte der zweite Sarkophag bereits 2005 fertiggestellt sein. Verschiedene Probleme finanzieller und politischer Natur kamen dazwischen. Zuletzt drohte auch der Ukrainekonflikt den Bau zu gefährden. Nicht nur die Anlage selbst war bedroht. Der Krieg verursachte auch schmerzhafte Kosten für die Ukraine.

Ein ungelöstes Müllproblem

2010 begann dann schließlich der Aufbau des NSC mit dem Verlegen von Teflonschienen. Auf ihnen will man die bogenförmige Halle, deren Gerippe aus einem Gitter hochfester Stahlrohre besteht, an Drahtseilen zum endgültigen Standort über dem Katastrophenreaktor ziehen. Zum Schluss wird der neue Sarkophag 260 Meter in der Breite messen, eine Länge von 165 Metern und eine Höhe von 110 Metern haben und 31 000 Tonnen wiegen. Die Kathedrale Notre-Dame ließe sich darunter verstecken. Das NSC soll dann das größte bewegbare Bauwerk sein, das es an Land je gab und mindestens 100 Jahre halten. Ende November 2017 soll es stehen.

Um die Strahlungsbelastung für die bis zu 1200 Arbeiter möglichst gering zu halten, entsteht der NSC in 180 Meter Entfernung zum alten Sarkophag. Auch die Reihenfolge der Endmontage vor Ort soll so ablaufen, dass die Arbeiter möglichst wenig Radioaktivität ausgesetzt sind. So will man beispielsweise ferngesteuerte Greifer verwenden, um die oberste, am stärksten verseuchte Bodenschicht für die Verankerung der Halle im Fundament vorzubereiten. Ein beheiztes Belüftungssystem zwischen den verschiedenen Lagen der Außenhaut soll verhindern, dass der Sarkophag rostet und so Maler- und Ausbesserungsarbeiten im besten Fall überflüssig machen. Eine Schicht, in der Unterdruck herrscht, soll die Strahlung nach außen verringern.

Hunderte Sensoren helfen, den radioaktiven Staub zu überwachen. Arbeiter, die sich dem Reaktor nähern müssen, tragen zwei Dosimeter: Eines misst die radioaktive Belastung in Echtzeit, das andere zeichnet die "Strahlungsgeschichte" des Arbeiters auf. Es gibt eine tägliche und eine jährliche Höchstgrenze für die Strahlenbelastung. Überschreitet ein Dosimeter diese, beginnt es zu piepsen, und der Zugang des Arbeiters zum Sicherheitsbereich wird gesperrt. 12 Minuten auf dem Dach des alten Sarkophags genügen, um die Jahreshöchstdosis zu erreichen.

Zwei ferngesteuerte Kräne unter der Decke des NSC sollen einen Abbau des alten Sarkophags ermöglichen, so dass man an die verbliebenen radioaktiven Reste im Kern des Reaktors herankommt. Die Kräne können Lasten von bis zu 50 Tonnen heben. Falls Arbeiter doch in den stark verstrahlten Bereich vordringen müssen, gibt es bei einem der beiden Kräne ein abgeschirmtes Führerhaus. Die Bergung und Entsorgung der im Inneren des Reaktors verbliebenen fast 200 Tonnen Brennstoff ist im SIP jedoch nicht vorgesehen. So weit reicht der Shelter Implementation Plan nicht.

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