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Zoonose: Die Vogelgrippegefahr für Wildvögel scheint vorerst gebannt

Während das Vogelgrippevirus in den USA weiter zirkuliert, ist es in Europa fast verschwunden. Damit das so bleibt, raten Experten zu mehr Naturschutz und einer Abkehr von der Massentierhaltung.
Flussseeschwalbe (Sterna Hirundo) fliegt über ein Nistfloß, auf dem Küken sitzen
Die bei Wilhelmshaven lebenden und brütenden Flussseeschwalben (Sterna hirundo) werden eng überwacht. Sie sind daher ein ideales Barometer für den Verlauf der tödlichen Vogelgrippe-Epidemie.

Mit einem Smiley hat Sandra Bouwhuis E-Mail-Anfragen zur Lage ihrer Schützlinge lange nicht mehr beantwortet – ihre Arbeit gab dazu zuletzt auch wenig Anlass. Die wissenschaftliche Direktorin am Institut für Vogelforschung in Wilhelmshaven erforscht seit vielen Jahren das Leben von Flussseeschwalben (Sterna hirundo). Die von ihr und ihren Kollegen betreute Brutkolonie der eleganten Seevögel gehört zu den am besten überwachten Vogelpopulationen weltweit. Landet eine der gefiederten Schönheiten auf einem der Brutflöße, wird das über einen Transponder auf ihrem Rücken automatisch an einen Server gemeldet und gespeichert. Die Vögel werden fotografiert und gewogen. Gleiches gilt für jedes einzelne Küken, das auf den Flößen schlüpft. Mit Ring um den Fuß und Sender auf dem Rücken beginnt für viele von ihnen ein Leben unter den Augen der Wissenschaft.

Die Daten aus der Forschungskolonie sind deshalb ein ideales Barometer, um den Verlauf der tödlichen Vogelgrippe-Epidemie zu überwachen. Auf dem Höhepunkt der Infektionswelle im Jahr 2022 und auch noch im Jahr danach fielen dem Virus H5N1 überall entlang der Nordseeküste Vögel in großer Zahl zum Opfer. Weit mehr als die Hälfte – die Fachleute errechneten 63 Prozent – der Seeschwalben aus der Kolonie sind seitdem an der Krankheit gestorben. Ganz anders im Jahr 2024: Bislang gab es keinen einzigen Fall – und die Brutsaison nähert sich bereits ihrem Ende. Entsprechend groß ist die Erleichterung bei Forscherin Bouwhuis nach den beiden Katastrophenjahren. »Die Reproduktionsleistung ist gut und glücklicherweise gibt es in dieser Saison auch reichlich Fisch«, sagt sie freudig.

Wie in Wilhelmshaven atmen in diesen Tagen Vogelschützer und Wissenschaftler überall in Europa spürbar auf. Ob bei den besonders schwer betroffenen Basstölpeln (Morus bassanus) in England und Schottland, den seltenen Krauskopfpelikanen (Pelecanus crispus) in Griechenland oder den vom Aussterben bedrohten Brandseeschwalben (Sterna sandvicensis) in Deutschland und den Niederlanden: Das Virus ließ sich erstmals seit dem verheerenden Sommerausbruch von 2022 in keiner der großen Seevogelkolonien in Europa blicken, wie eine Umfrage unter den zuständigen Experten aller Nordsee-Anrainerstaaten ergab. Während in den vergangenen beiden Jahren hunderttausende Wildvögel in Europa starben, meldete die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) für den Zeitraum von Mitte März bis Mitte Juni 2024 nur zwei Dutzend Virusnachweise aus allen europäischen Ländern zusammen.

Nicht nur an der Küste, auch im Binnenland scheint die tödliche Welle zum Erliegen gekommen zu sein. Starben beispielsweise im Jahr 2023 in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg noch Dutzende der seltenen Wanderfalken (Falco peregrinus) an der Virusepidemie, wurde dort im Jahr 2024 bislang noch kein einziger Fall bekannt. Auch in Blutproben von Jungvögeln im Nest fanden Experten keine Spuren einer akuten Infektion. Im Gegenteil: Es häufen sich die Hinweise darauf, dass gerade die in den vergangenen Jahren besonders stark betroffenen Vogelarten einen Immunschutz gegen das Virus aufgebaut haben.

Überlebende Vögel sind immun gegen das Virus

Schon 2023 hatten Wissenschaftler bei Basstölpeln entdeckt, dass überlebende Vögel durch eine schwarze Färbung ihrer gewöhnlich hellen Iris anzeigen, dass sie eine Infektion überstanden haben. Nun deuten Analysen auch bei den Brandseeschwalben entlang der Nordseeküste darauf hin, dass überlebende Vögel mittlerweile über Immunschutz verfügen. So fand das Team um den niederländischen Vogelgrippe-Spezialisten Mardik Leopold von der Universität Wageningen bei Blutuntersuchungen brütender Brandseeschwalben in etwa der Hälfte der beprobten Vögel Antikörper. »Wir gehen wegen des schwierigen Nachweises davon aus, dass der Immunschutz bei brütenden Vögeln insgesamt noch höher ist«, sagt Leopold. »Genaue Zahlen lassen sich im Gewimmel einer Brutkolonie aus tausenden Vögeln nicht ermitteln – aber offenbar haben so viele Individuen Antikörper, dass auch nicht immune Vögel über eine Herdenimmunität sicher vor dem Virus sind.«

Ähnliches vermutet Oliver Krone vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) bei Seeadlern (Haliaeetus albicilla). »Nachdem der Ausbruch 2022 richtig eingeschlagen und deutliche Spuren in den Beständen hinterlassen hat, pflanzen sich jetzt vor allem die Vögel fort, die immun sind«, sagt Krone. Trotz spürbarer Verluste sei damit eine Katastrophe für den deutschen Wappenvogel ausgeblieben.

Immunreaktionen innerhalb der zuvor besonders stark betroffenen Vogelpopulationen könnten nach Einschätzung der Vogelgrippe-Expertin Ursula Höfle vom spanischen Nationalen Wildforschungsinstitut an der Universität von Castilla-La-Mancha auch der Grund dafür sein, dass das Vogelgrippevirus sich kontinuierlich so verändert, dass es auf neue Tierarten überspringen kann – zuletzt sogar auf Kühe. Weil das Virus in immungeschützten Populationen keinen Angriffspunkt mehr finde, ziehe es weiter zu neuen Arten, erläutert sie die Theorie.

»Wir sind überrascht, dass sich die Pinguine in der Antarktis erst jetzt mit dem Virus infiziert haben, angesichts ihrer hohen Nestdichte und der Nähe zu anderen betroffenen Arten«Norman Ratcliffe, Ökologe

Auch in der Antarktis – der Heimat von 20 Millionen Pinguinen – ist das befürchtete Massensterben in den riesigen Kolonien bisher ausgeblieben, nachdem das Virus den Kontinent im vergangenen Herbst wahrscheinlich über infizierte Dominikanermöwen (Larus dominicanus) aus Südamerika erreicht hatte. Zwar meldeten Wissenschaftler des britischen Antarktisinstituts BAS im März 2024 erstmals Infektionen bei Eselspinguinen (Pygoscelis papua) und Königspinguinen (Aptenodytes patagonicus) auf der Antarktisinsel Südgeorgien. Die Sterblichkeit unter den Tieren sei aber lokal begrenzt und von kurzer Dauer gewesen, teilte die Behörde mit. »Die hochpathogene Form der Vogelgrippe tritt auf Südgeorgien seit Oktober 2023 auf, und wir sind überrascht, dass sich die Pinguine erst jetzt mit dem Virus infiziert haben, angesichts ihrer hohen Nestdichte und der Nähe zu anderen betroffenen Arten«, zitierte die Behörde damals ihren Ökologen vor Ort, Norman Ratcliffe. Auch der Leiter des Influenza-Labors der britischen Tiergesundheitsbehörde Ash Banyard spricht von isolierten Fällen. »Wir sehen keine schnelle Ausbreitung in den Pinguinkolonien«, zitiert das BAS den Experten in einer Mitteilung.

Nach der Zoonose kommt die Pandemie

Seitdem die Vogelgrippe auch auf Kühe und damit Nutztiere in mehreren US-Bundesstaaten übergesprungen ist, hat sich der Fokus der öffentlichen Wahrnehmung von den ökologischen Folgen auf die Gefahr für die menschliche Gesundheit verschoben. Weltweit wurden vom Jahr 2003 bis zum Sommer dieses Jahres knapp 900 Infektionen mit der hochpathogenen Form des Vogelgrippevirus bei Menschen festgestellt. Rund die Hälfte davon verlief tödlich. Verglichen mit den mehr als eine halbe Milliarde Fällen in der Geflügelhaltung und in der Natur in diesem Zeitraum sehen Experten die Zahlen aber als gering an. Auch die bisher bekannten Ansteckungen von Landwirten durch infizierte Kühe in den USA verliefen mild. Die Weltgesundheitsorganisation WHO stuft das Pandemierisiko durch das Virus deshalb auch nach dem Übergreifen auf Nutztiere in den USA weiterhin als gering ein. Dennoch ist der Weg zum Menschen kürzer geworden, seit sich andere Säugetiere in menschlicher Haltung infiziert haben, und immer mehr Länder betreiben Vorsorge. So haben einige europäische Staaten zusammen knapp eine Million Impfdosen gegen Viren der H5-Linie angeschafft, vor allem, um Beschäftigte in der Tierhaltung zu schützen. In Finnland werden bereits Landwirte sowie das Personal von Pelzfarmen geimpft.

»Eine Neuausrichtung der Tierhaltung ist langfristig die sicherste Maßnahme«Oliver Krone, Veterinärmediziner am IZW

Im Hinblick darauf, dass die Pandemie unter Wildvögeln in Europa ausläuft, geben sich die Experten vorsichtig optimistisch, sehen aber noch keine Entwarnung. »Die Situation stabilisiert sich«, sagt IZW-Forscher Krone. Das gelte aber nur so lange, bis eine neue Variante auftauche, die wieder eine höhere Pathogenität aufweist. Das Virus habe in den letzten Jahren oft genug gezeigt, wie rasch es sich auf neue Bedingungen einstellen könne. Weil die Massentierhaltung die wichtigste Brutstätte für das Entstehen neuer Virusvarianten sei, müsse Vorbeugung dort beginnen, glaubt der Tiermediziner. »Eine Neuausrichtung der Tierhaltung ist langfristig die sicherste Maßnahme«, sagt Krone. Kurzfristig sei die Abschottung der betroffenen Anlagen nach außen das A und O, um ein Wiederaufleben der Vogelgrippe zu vermeiden.

Wildtierforscherin Höfle sieht auch in mehr Naturschutz eine wichtige Vorsorgemaßnahme gegen eine neue Welle. Es sei entscheidend, Stressfaktoren für Ökosysteme und die darin lebenden Tierpopulationen abzumildern, um deren Widerstandsfähigkeit gegen Infektionen zu stärken. »Je natürlicher und artenreicher ein Feuchtgebiet ist, desto geringer ist der Stress für seine Bewohner und desto besser ist diese Gemeinschaft in der Lage, Infektionswellen abzufedern«, sagt die Biologin. »Alles, was das ökologische Gleichgewicht stört, hilft dagegen dem Virus.«

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