Neutrinooszillation: Dritter und letzter Trick der Verwandlungskünstler beobachtet
Am Ende war China am schnellsten. Während man im Westen Weihnachten feierte, begann auf dem Gelände des chinesischen Atomkomplexes "Daya Bay" die Arbeit. Obwohl erst sechs von acht Detektoren fertig waren, sammelten die Forscher bereits eifrig Daten. Sogar während des chinesischen Neujahrfestes am 23. Januar wurde gemessen. Nach 55 Tagen war die Sensation perfekt. Das Wissenschaftsmagazin "Science" sprach von einer "Schlüsselmessung" in der Neutrinophysik, nun wurde die Arbeit in den "Physical Review Letters" veröffentlicht [1]. "Das ist eines der wichtigsten Resultate für die chinesische Teilchenphysik", schwärmt Yifang Wang vom Pekinger Institut für Hochenergiephysik (IHEP).
Auch international ist es ein Befreiungsschlag. Denn rückblickend war 2011 kein gutes Jahr für den Forschungszweig, der sich dem Studium der nebulösen Elementarteilchen widmet. Zwar standen Neutrinos wie nie zuvor im Rampenlicht. Der Verdacht, dass sie schneller als Licht reisen und damit Einsteins Relativitätstheorie aus den Angeln heben könnten, zerschlug sich allerdings. Ein schief sitzendes Kabel wurde für die Neutrinoforscher des Opera-Experiments unter dem italienischen Gran-Sasso-Massiv zur Blamage.
Das Ergebnis des Daya-Bay-Experiments signalisiert die Rückkehr zum eigentlichen Pfad der Neutrinoforschung, zu deren Hauptzielen eines der größten Rätsel des frühen Universums zählt: Weshalb entstand nach dem Urknall mehr Materie als Antimaterie? Dass es so ist, beweist unsere Existenz. Denn wären Teilchen und ihre gegensätzlich gepolten Antiteilchen in den ersten Augenblicken des Kosmos in gleicher Menge entstanden, hätten sie sich gegenseitig restlos ausgelöscht – das junge Universum wäre mit einem gigantischen Blitz im Nichts verschwunden.
Neutrinos könnten Materierätsel lösen
Wie es zu diesem Ungleichgewicht kam, vermag bisher kein Naturgesetz zu erklären. Doch Neutrinos könnten sich wie keine andere Elementarteilchensorte dazu eignen, die Diskrepanz zwischen Realität und Theorie aufzulösen. Denn sie lassen sich vorzüglich mit ihren vermeintlichen Antiteilchen vergleichen. Gelänge es nachzuweisen, dass Neutrinos in bestimmten Situationen gegenüber Antineutrinos bevorzugt werden, könnte das einen Mechanismus entlarven, der für den Materieüberschuss verantwortlich ist.
Dass sich Materie und Antimaterie in manchen Fällen unterschiedlich verhalten, konnten Forscher zwar schon zeigen: 1964 fanden amerikanische Physiker heraus, dass so genannte Kaonen (aus zwei Quarks zusammengesetzte Teilchen) sich geringfügig anders verhalten als Antikaonen. Die Entdeckung der so genannten CP-Verletzung wurde 1980 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
Verletzt ist in diesem Fall die Annahme, dass zwei physikalische Systeme identisch sind, wenn sich das eine in das andere überführen lässt, indem man Teilchen durch ihre Antiteilchen ersetzt und gleichzeitig das Koordinatensystem spiegelt. Physiker sprechen hierbei von der CP-Symmetrie, einer Symmetrie der Ladung (englisch: charge) und Parität (englisch: parity). Auf Kaonen trifft diese Annahme nicht zu. Es zeigte sich, dass sie in Kernreaktionen geringfügig häufiger entstehen als ihre Antiteilchen. Nur, der Unterschied ist marginal – auf den Urknall übertragen reicht sein Beitrag nicht aus, um den Materieüberschuss im Universum zu erklären. Es bedarf eines zusätzlichen Mechanismus: der "leptonischen" CP-Verletzung (zu den Leptonen zählen neben Neutrinos auch Elektronen, Myonen und Tauonen).
Auf der Suche nach Geschmacksveränderungen
Mit Hilfe einer sonderbaren Eigenschaft der Neutrinos wollen sie Forscher jetzt dingfest machen. Die Geisterteilchen kommen in drei verschiedenen Ausführungen vor, Physiker sprechen von "Geschmacksrichtungen". So gibt es Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos. Auch Antineutrinos weisen diese Dreifaltigkeit auf. Das Verblüffende: Während des Fluges ändern (Anti-)Neutrinos immer wieder ihren Geschmack. Aus Elektronen- werden Myon-Neutrions, aus Myon-Neutrinos werden Tau-Neutrinos. Zeigen zukünftige Experimente, dass sich Neutrinos etwas häufiger umwandeln als Antineutrinos, wäre die CP-Symmetrie auch für Leptonen verletzt.
Bisher war unsicher, ob sich Elektron-Neutrinos auch direkt in Tau-Neutrinos verwandeln können. Die Messung in Daya Bay konnte diese dritte "Neutrinooszillation" jetzt mit großer Präzision bestätigen. Die Messung aus China hat jedoch nur den Schlussstrich unter die intensiven Bemühungen mehrerer Arbeitsgruppen gezogen. Hinweise auf die dritte Neutrinoumwandlung hatte vergangenes Jahr etwa schon das europäische Double-Chooz-Experiment veröffentlicht, mittlerweile hat auch das südkoreanische Experiment RENO die Messung bestätigt. Die beiden Experimente mussten jedoch viele Monate lang Daten sammeln, um ihr Ergebnis zu ermitteln.
Dass sie letztendlich etwas langsamer waren als das chinesisch-amerikanische Wissenschaftlerteam des Daya-Bay-Experiments, ist auf die Gigantomanie ihres Experiments zurückzuführen. Gleich sechs Kernreaktoren speien dort Elektron-Antineutrinos aus.
Vor allem der Nachweis der Teilchen macht das Studium von Neutrinos so knifflig: Nahezu ungehindert durchdringen die praktisch lichtschnellen, extrem leichten Partikel gewöhnliche Materie. Nur mit Hilfe unterirdischer Tanks, die mit zig Tonnen synthetischer Öle gefüllt sind, können die Forscher einige von ihnen einfangen. Denn darin reagieren vagabundierende Wasserstoffatomkerne mit den Geisterteilchen, wobei ein Neutron und ein Positron entstehen, die über Detektoren nachgewiesen werden können. Daya Bay fängt deutlich mehr Neutrinos auf als die westliche Konkurrenz: Seinen sechs jeweils 20 Tonnen schweren Tanks stehen ein oder zwei kleinere Tanks in den wetteifernden Experimenten gegenüber.
Die Messung ist der vorläufige Höhepunkt des chinesischen Bestrebens, zur Weltspitze der Grundlagenforschung aufzuschließen. Seit Jahren fördert die Parteiführung gezielt Projekte, die Prestige verheißen – und scheut dabei keinerlei Aufwand. Grundlagenforschung sei ein wichtiger Teil der "nationalen Stärke", heißt es bereits im chinesischen Forschungsfahrplan aus dem Jahr 2006. Aber der ganz große Durchbruch lässt noch auf sich warten. "China leidet darunter, dass seine Forscher noch keinen Nobelpreis gewonnen haben", sagt auch Armin Krawisch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der bis 2010 das Chinesisch-Deutsche Zentrum für Wissenschaftsförderung in Peking geleitet hat.
Noch größere Experimente gefragt
Die blitzschnelle Vermessung der dritten Neutrinooszillation geht aber auch auf einen anderen Umstand als die Größe der Detektoren zurück: Elektron-Neutrinos wandeln sich überraschend oft in Tau-Neutrinos um. Das kommt den großen Detektoren von Daya Bay zugute – und benachteiligt etwa das europäische Experiment Double Chooz, das auf eine längere Datennahme und den Nachweis einer geringeren Umwandlungswahrscheinlichkeit optimiert wurde. Trotzdem freut die große Wahrscheinlichkeit europäische Forscher: "Wenn die Oszillationswahrscheinlichkeit viel kleiner gewesen wäre, würde man eine CP-Verletzung nie nachweisen können", sagt Werner Rodejohann vom Max-Planck-Institut für Kernphysik.
Nun wittern die Neutrinoforscher Morgenluft. Innerhalb der nächsten zehn Jahre wollen sie die leptonische CP-Verletzung belegt haben. "Das können allerdings nur neue Beschleunigerexperimente", sagt Rodejohann. Etwa das amerikanische Nova-Projekt, das ab 2014 Neutrinos aus dem Fermilab-Teilchenbeschleuniger gewinnen und 800 Kilometer durch die Erde schicken wird, oder ein Ausbau des japanischen T2K-Experiments. Womöglich reichen die so über Jahre gesammelten Daten, zusammen mit denen der bestehenden Experimente, bereits aus, um Unterschiede zwischen Neutrinos und Antineutrinos aufzuspüren.
Ansonsten wird man auf die übernächste Generation von Neutrinoexperimenten warten müssen. Ob diese realisiert wird, steht aktuell jedoch noch in den Sternen: Das "Long Baseline Neutrino Experiment" etwa, das die Geisterteilchen über 1300 Kilometer von ihrem Entstehungsort entfernt nachweisen sollte, wurde kürzlich vom amerikanischen Energieministerium auf Eis gelegt. Die Kosten von über einer Milliarde US-Dollar waren zu viel für das von Kürzungen betroffene Forschungsbudget der Vereinigten Staaten. Aber vielleicht findet sich ja ein Geldgeber in Fernost. Der überraschende Erfolg der Chinesen hat das jedenfalls wahrscheinlicher gemacht. "Es gibt bereits Signale, dass weitere Neutrinoexperimente finanziert werden", sagt Yifang Wang.
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