Ängste und Depressionen: »Du bist nicht allein«
Ein schwarzer Hund. So beschrieb Winston Churchill seine Depression. Ein dunkler Kumpan, der in guten Zeiten ruht und in schlechten Zeiten regiert. Wann er erwacht, ist ungewiss, und dass er eines Tages wieder geht, scheint unmöglich – bis es so weit ist. Depressionen können sich wandeln, können so verschieden sein wie die Menschen, die unter ihnen leiden.
Es ist 20 Jahre her, dass mein eigener schwarzer Hund wieder verschwand. 20 Jahre, seit eine kräftezehrende Depression jeden meiner Gedanken und jede Handlung beherrschte. Wer das überlebt, ist für immer auf der Hut; man fürchtet stets, der Hund werde eines Tages doch wiederkommen, den Schutzwall überwinden, über die Barrieren springen. Ständig lauert er irgendwo da draußen und gemahnt uns so, weiter Acht zu geben.
Rund jeder Vierte erkrankt im Lauf seines Lebens einmal an einer psychischen Störung; mehr als 300 Millionen Menschen weltweit kämpfen mit Depressionen. Akademiker sind häufiger betroffen als viele andere. Sie müssen veröffentlichen, Drittmittel einwerben, eine Professur auf Lebenszeit erlangen, öffentlich sichtbar sein, in den sozialen Medien brillieren und politisch Einfluss nehmen, während gleichzeitig ihre Experimente fehlschlagen, sie mit ihrer Arbeit auf sich allein gestellt, aber in starre Hierarchien eingebunden sind. Zugleich hält dieser Job viele schöne Seiten parat. Neuen Ideen nachzugehen, das Unbekannte zu erforschen und schließlich zu begreifen: Das ist ein Privileg.
Als Wissenschaftler reden wir, und zwar viel. Mit unseren Studierenden und Kollegen, mit Entscheidungsträgern und Geldgebern. Wir werden zu Experten darin, die Welt über unsere Arbeit, unsere Ansichten zu informieren, aber wir riskieren damit auch, uns selbst oder unseren Mitmenschen nicht mehr richtig zuzuhören.
Über zwei Jahrzehnte hinweg habe ich geschwiegen, aus Angst, mich lächerlich zu machen, Misstrauen zu ernten, angefeindet oder ins Abseits gedrängt zu werden. Mit Freunden zu sprechen und die Erinnerungen an dunkle Zeiten mit ihnen zu teilen, hat diese Befürchtungen gemildert. Obwohl es mich immer noch ängstigt, über meine Krankheit zu sprechen, ist das nichts im Vergleich zu dem täglichen Albtraum, den ich als Student durchlebte.
Wenn ich heute mit meinem alten Ich sprechen könnte, würde ich ihm sagen, dass es keine Angst zu haben braucht, dass es Vertrauen haben kann. Ich würde ihm sagen, wie wunderbar sich die Wärme jener Menschen anfühlen wird, mit denen es eines Tages sprechen wird. Und wie der geteilte Schmerz die Folgen der Krankheit schrumpfen lässt – und nicht es selbst. Ich würde es umarmen und ihm zuflüstern: »Du bist nicht allein.«
Ich erzähle diese Geschichte jedem, den das Stigma der Depression hat verstummen lassen. Ich erzähle sie, um den wunderbaren Menschen zu danken, die mir eine Stimme gaben und zuhörten. Ich erzähle diese Geschichte, weil ich es kann, weil ich überlebt habe.
Mitte der 1990er Jahre näherte sich mein Bachelorstudium dem Ende. Drei Jahre Meeresbiologie, in bescheidenen finanziellen Verhältnissen, Drogenkonsum, Verliebtheit. Im Oktober lebte ich als Doktorand 500 Kilometer entfernt von meiner Familie und der Liebe meines Lebens.
Es war ganz natürlich, Angst zu haben. Neue Menschen, neue Orte, unbekannte Regeln und Erwartungen. Jeden Tag saß ich auf dem großen Stuhl meines sorgsam markierten Laborplatzes und versuchte die Instruktionen meines Betreuers zu verstehen. Ich wollte die Folgen der Erwärmung in der Südsee untersuchen, unter anderem anhand von Algenwachstum im Labor, später vielleicht auf dem Meer. Es war eine Farce. Technik und Ausstattung waren mir fremd, mein Nicken angesichts der Instruktionen geschauspielt. Ich versuchte das lockere Selbstvertrauen nachzuahmen, das andere Studierende an den Tag legten. Mein Vorgesetzter und sein Team meinten wohl, ich hätte eine vage Vorstellung von dem, was ich tun sollte. Hatte ich nicht. Nicht im Geringsten.
Ich versuchte, die aufsteigende Angst zu unterdrücken; die Furcht vor einer Rüge, davor, zu dumm zu sein. Die Angst, dass mir alle auf die Schliche kommen würden
Ein Experiment nach dem anderen scheiterte. Jeden Morgen, wenn ich ins Labor kam, befanden sich in den großen Glasgefäßen milchige Spuren, ein unmissverständliches Zeichen für verunreinigte Substanzen. Wieder folgten Stunden des Wiegens, Zusammenmischens und Sterilisierens, während ich schamrot versuchte, die aufsteigende Angst zu unterdrücken; die Angst, eine Rüge zu bekommen, zu dumm zu sein. Die Angst, dass mir alle auf die Schliche kommen würden.
Aus den Tagen wurden Wochen; die Misserfolge nahmen kein Ende. Mein Betreuer rief mich in sein Büro. Er war wenig angetan. Ich solle an mir arbeiten, mich mehr anstrengen, besser werden. Als ich an diesem Tag an meinen Laborplatz zurückkehrte, lief der schwarze Hund neben mir. Wann genau er auftauchte, vermag ich nicht zu sagen. Ich war 21 Jahre alt. Meine wackligen mentalen Schutzmauern waren schon seit einer Weile am Bröckeln. Ich werde nie erfahren, was sie schließlich zum Einsturz brachte. Es könnte die Ermahnung eines Labortechnikers gewesen sein oder auch nur ein weiteres milchiges Glas. Was auch immer den letzten Schutzwall durchdrang: Die Depression hatte mich nun im Griff.
Es ist erstaunlich, wie man eine Fassade der Normalität aufrechterhalten kann, während dahinter ein tosender Strudel alles zersetzt. An Weihnachten war ich dünner und stiller geworden, aber immerhin noch wiederzuerkennen. Die gemeinsame Zeit mit der Familie und meiner Verlobten hielt den schwarzen Hund an der Leine. Er wartete.
Manchmal kann man förmlich zusehen, wie sich die tiefe Depression nähert, wie sie die Fluchttüren zuschlägt und die Verzweiflung immer engere Kreise ziehen lässt
Anstatt Hilfe zu suchen, zählte ich die verbleibenden Urlaubstage wie ein Verurteilter. Manchmal kann man förmlich zusehen, wie sich die tiefe Depression nähert, wie sie die Fluchttüren zuschlägt und die Verzweiflung immer engere Kreise ziehen lässt. Die Entscheidung, mich umzubringen, war eine Erleichterung. Ich glaubte fälschlich, das wäre die einzige Tür, die mir noch offen stand. Der eine Ort, an den mir der schwarze Hund nicht würde folgen können.
Im Januar musste ich an die Universität zurück und mich von meiner Familie verabschieden. Es war grausam. Meine Maske hielt der Wärme dieser Menschen, die ich so liebte, nicht stand. Während ich weinend zurückfuhr, trieb die Angst mich weiter, lenkte den Körper die lange Reise zurück zu meiner Unterkunft.
Ich war allein im Haus, ließ ein heißes Bad ein, trank Whisky, ohne etwas zu schmecken, und suchte nach dem schärfsten Küchenmesser. Ich saß eine Ewigkeit in der Badewanne. Das Messer schmerzte auf der Haut, Whisky hin oder her. Ich weinte, würgte, weinte weiter. Um richtig tief zu schneiden, war ich zu bang: vor den Schmerzen und vor dem, was die Leute denken würden. Ich ließ das Bad ablaufen und ging ins Bett.
Wege aus der Not
Wenn Sie Hilfe brauchen, verzweifelt sind oder Ihnen Ihre Situation ausweglos erscheint, dann wenden Sie sich bitte an Menschen, die dafür ausgebildet sind. Dazu zählen zum Beispiel Ihr Hausarzt, Psychotherapeuten und Psychiater, die Notfallambulanzen von Kliniken und die Telefonseelsorge.
Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei unter den Nummern: 0800 1110111 und 0800 1110222 sowie per E-Mail oder im Chat.
Die folgenden Monate schwankte ich zwischen annähernder Normalität und Verzweiflung. Eine Depression ist anstrengend, ermüdend. Selbst Essen und Waschen fühlten sich bedeutungslos an. Manche Tage waren machbar, andere verbrachte ich zusammengerollt mit weit aufgerissenen Augen daliegend und wartete auf die Nacht. Wenn sie kam, brachte mir der Schlaf allerdings nicht mehr als weitere Episoden verlorener Zeit.
Den zweiten Suizidversuch unternahm ich kurz vor Ostern und plante ihn diesmal länger voraus. Die Methode entnahm ich Dick Francis' Mystery-Roman »Comeback« und die Mittel unserem Chemielabor. Eine Injektion, etwas Übelkeit, ein kurzer Blackout – das sollte es gewesen sein.
Während dieser Periode behandelte ich mich selbst mit Alkohol und, soweit verfügbar, mit Cannabis, um zu vergessen. Ich suchte keine Hilfe, keine Therapie oder Medikamente, aber ich gab auch meine Doktorarbeit nicht auf. Ich überlebte so lange, bis die Hilfe schließlich von allein kam.
Tief im Inneren verborgen bestanden meine Suizidgedanken fort, wurden zu einer geheimen Obsession
Im Sommer klärte sich alles etwas auf. Forschung, Beziehungen, selbst der Kontakt zu meinem Betreuer: Alles, was meine Mauern zum Einsturz gebracht hatte, kam zur Ruhe. Ich plante meine Forschungsarbeit auf einem Eisbrecher im Südatlantik im kommenden Winter. Es war aufregend, eine Gelegenheit, von der ich immer geträumt hatte, und doch malte ich mir aus, wie ich diese Gelegenheit nutzen konnte, um mich zu zerstören. Tief im Inneren verborgen lebten meine Suizidgedanken weiter, wurden zu einer geheimen Obsession. Ich stellte mir vor, unbeobachtet in die ferne See zu gleiten, ein schrecklicher Unfall, ein tragischer Verlust.
Meine Rettung waren andere Menschen. Sie sind es noch heute. Ein warmes Wort von einem Freund, ein Scherz, gemeinsames Jammern mit Kollegen. Tag für Tag, Stück für Stück gaben mir die Menschen um mich herum, ohne es zu wissen, meine Gesundheit zurück. Besonders ein wunderbarer Mensch, ein Labortechniker namens Paul Beckwith, half mir, anderen wieder zu vertrauen, mich mitzuteilen, mich zugehörig zu fühlen.
Im Dezember, ein Jahr nach Beginn meiner Doktorarbeit, ging ich nahe der Falklandinseln an Bord des Forschungsschiffs, und meine Genesung beschleunigte sich. Jeden Tag nahm ich ein wenig mehr des großherzigen, inspirierenden und lustigen Wissenschaftlergeistes in mich auf. Isoliert und zusammengepfercht dahinzutreiben, über Monate hinweg, hätte eine Qual sein können. Doch es war meine Rettung.
Die dunklen Wolken und die Verzweiflung wichen Algenbädern und Ekstase angesichts von Mikroben, die auf das künstlich hergestellte Klima der Zukunft reagierten. Auch an meinen dunkelsten Tagen im Labor, als in meinem Inneren der Kampf tobte, hatte ich die Wissenschaft nie gehasst. Jetzt, da ich endlich verstand, was zu tun war, liebte ich sie.
Die wilde Schönheit des südlichen Atlantiks, der funkelnde Lebensraum und seine glänzenden Forscher: Sie werden für mich immer ein Meilenstein bleiben. Einen Monat, nachdem ich angekommen war, stand ich am Ende einer langen Nachtschicht allein an Deck. Der Morgen dämmerte, Tränen strömten über mein Gesicht. Es waren Tränen der Freude und Erleichterung. Der schwarze Hund war verschwunden.
Ein Schwätzchen kann die Welt bedeuten
Die zwei Jahrzehnte, die seitdem vergangen sind, haben ihr eigenes Patchwork aus Licht und Dunkelheit hinterlassen. Todesfälle von Menschen, die mir nahestanden, darunter der wunderbare Paul, haben meinen schwarzen Hund manchmal wieder zurückkehren lassen. Aber er wird in Schach gehalten: durch die Wärme und das Verständnis meiner Frau (der Liebe meines Lebens), unserer Kinder und Freunde. Nicht jeder hat so viel Glück.
Für einen Betreuer von einem Dutzend Studierenden und Mitarbeitern ist Empathie nützlich, und Zuhören ist unabdingbar. Ein Schwätzchen, sich Zeit für Menschen zu nehmen: Das kann die Welt bedeuten. Natürlich sind wir Mentoren, nicht Therapeuten. Aber Wissenschaftler stehen unter einem enormen Druck. Unsichere Jobs, wachsende Schulden, Erfolgskriterien und mangelhaftes Management lasten auf unserer Psyche.
Das Bewusstsein dafür steigt, dank der Führungstrainings, Peer-Netzwerke und Beratungsangebote, die es heute gibt. Wer unter einer psychischen Erkrankung leidet, sollte sich sicher fühlen können, wenn er darüber spricht, egal ob gegenüber Freunden oder Liebsten, Therapeuten oder Kollegen. Viel zu lange stand das Schweigen meiner Heilung im Weg. Das nächste Mal, wenn sich der schwarze Hund nähert, werde ich ihm mit Gebrüll entgegentreten.
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