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Psychiatrie: »Wir brauchen eine neue Ordnung für psychische Störungen«

Der Psychologe Johannes Zimmermann will die alten Diagnosekategorien abschaffen. Mit mehr als 100 internationalen Kolleginnen und Kollegen arbeitet er an einer Alternative, die »dem Einzelfall viel besser gerecht« wird. Im Interview erklärt er, wie eine solche Diagnose künftig aussehen könnte.
Alte Apothekerkommode mit Schubladen

Wer in Deutschland wegen einer psychischen Erkrankung behandelt wird, bekommt eine Diagnose nach der Internationalen Klassifikation für Krankheiten (ICD). Die gibt es ab 2022 in einer neuen Fassung. »Doch am grundsätzlichen Problem ändert sich damit nichts«, sagt Johannes Zimmermann, Professor für Differentielle und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Kassel: Patienten werden in Schubladen gesteckt, die dem Einzelfall oft nicht gerecht werden.

»Spektrum.de«: Herr Professor Zimmermann, wie kommen Psychotherapeutinnen und -therapeuten derzeit zu einer Diagnose?

Johannes Zimmermann: Der Goldstandard ist das strukturierte klinische Interview, ein Katalog von vorbereiteten Fragen, der als Interviewleitfaden dient. Damit wird sichergestellt, dass der Therapeut nach allen wichtigen Symptomen fragt. Anhand der Antworten beurteilt er, ob die Kriterien für eine psychische Störung erfüllt sind, zum Beispiel ob die nötige Zahl von relevanten Symptomen vorliegt. Dieser Goldstandard wird aber vor allem im Studium gelehrt und in Hochschulambulanzen angewendet, um systematisch Daten zu erheben und die Qualität der Diagnosen sicherzustellen.

In der Praxis sieht es anders aus?

Da kommen strukturierte Interviews seltener zum Einsatz. Vor rund zehn Jahren wurde in einer Studie in der Schweiz bei Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten nachgefragt: Es kam heraus, dass die Hälfte von ihnen so etwas gar nicht einsetzt. Nur ungefähr 15 Prozent der Patienten werden auf diese Weise diagnostiziert.

Johannes Zimmermann | Seit 2018 ist er Professor für Differentielle und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Kassel. Sein Forschungsschwerpunkt ist die klinische Persönlichkeitsdiagnostik. Der Psychologe arbeitet in einem internationalen Team daran, psychische Erkrankungen mit individuellen Profilen zu beschreiben.

Und wie läuft die Diagnostik dann tatsächlich ab?

In den meisten Fällen handelt es sich eher um offene Interviews. Das bedeutet: Der Patient berichtet von seinen Beschwerden, der Therapeut fragt nach und entwickelt mit der Zeit eine Hypothese, was das Problem sein könnte.

Warum arbeiten die Therapeuten nicht so, wie sie es gelernt haben?

Das hat verschiedene Gründe. Da wäre zum einen der Zeitfaktor: Wenn man den Fragenkatalog gründlich durcharbeitet, dann kann das, je nach Person und Geschichte, ziemlich lange dauern. Zum anderen glauben Therapeuten, dass es ihre Patienten eher abschreckt oder nervt, einen ganzen Katalog durchzuarbeiten und Frage für Frage zu beantworten. Das stimmt aber in den meisten Fällen nicht, sondern ist eine Fehlwahrnehmung seitens der Therapeuten.

»Es gibt nicht nur Ja oder Nein, nicht nur Menschen mit oder ohne Depression«

Warum ist das strukturierte Interview besser?

Wenn man es richtig durchführt, ist das Ergebnis genauer, zuverlässiger. Das heißt: Wenn ein anderer Therapeut das Gespräch mitanhören würde, würde er zu einer ähnlichen Diagnose kommen. Etwas größere Abweichungen gibt es, wenn derselbe Patient das Interview zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal durchläuft.

Wie entscheidet der Therapeut, ob zum Beispiel eine Depression vorliegt?

Die strukturierten Interviews orientieren sich an den gängigen Klassifikationssystemen für psychische Störungen. Das sind das DSM-5 von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung, das sich nur auf psychische Störungen beschränkt, und das ICD-10 von der Weltgesundheitsorganisation, das daneben auch körperliche Krankheiten enthält. In beiden Systemen ist das medizinische Störungskonzept leitgebend, das heißt unter anderem: Eine psychische Störung ist eine klar abgrenzbare Einheit, und eine Person erfüllt die Kriterien einer Störung oder sie erfüllt sie nicht. Im Regelfall liegen mehrere Störungen vor. Einer deutschen Studie zufolge bekommt ein Patient in einer psychotherapeutischen Ambulanz im Durchschnitt 2,7 Diagnosen, wenn er mit den üblichen Leitfäden diagnostiziert wird.

Werden Patienten grundsätzlich über alle Diagnosen informiert?

Sie haben zumindest ein Recht darauf. Aber ich kann nicht einschätzen, ob das auch so praktiziert wird. Einerseits kann eine Diagnose für den Patienten hilfreich sein, zum Beispiel, indem sie diffusen Problemen einen Namen gibt. Andererseits kann sie auch stigmatisieren, dann sind Psychotherapeutinnen vielleicht eher vorsichtig.

Das Recht auf Aufklärung über die Diagnose

Das Bürgerliche Gesetzbuch sagt: »Der Behandelnde ist verpflichtet, dem Patienten in verständlicher Weise zu Beginn der Behandlung und, soweit erforderlich, in deren Verlauf sämtliche für die Behandlung wesentlichen Umstände zu erläutern, insbesondere die Diagnose (…).« So ähnlich steht es auch in der Berufsordnung für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten: Diese sind verpflichtet, ihre Patientinnen und Patienten über sämtliche für die Einwilligung in die Behandlung wesentlichen Umstände im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie aufzuklären. Zur informationellen Selbstbestimmung gehört außerdem das Recht, die eigene Krankenakte einzusehen.

Was ist problematisch an den Diagnosen nach ICD?

Da gibt es eine Reihe von Kritikpunkten. Ein Grundproblem: Es gibt nicht nur Ja oder Nein, nicht nur Menschen mit oder ohne Depression. Anders als bei körperlichen Erkrankungen orientiert sich die Diagnose einer psychischen Störung daran, was der Patient oder die Patientin über das eigene Erleben und Verhalten berichtet und was man von außen beobachten kann. Es gibt keinen Bezug zu einer Ursache, wie bei einem Test auf ein Virus, sondern nur Oberflächenmerkmale. Diese Merkmale sind mehr oder weniger ausgeprägt, wir sagen auch: kontinuierlich verteilt. Reduziert man diese feinen Unterschiede auf binäre Kategorien, gehen Informationen verloren, und die Diagnosen sind weniger aussagekräftig. Noch dazu sind die Kriterien zum Teil willkürlich.

Ein Beispiel?

Nehmen wir eine depressive Episode: Nach ICD-10 müssen dafür vier von zehn Kriterien zwei Wochen lang erfüllt sein, darunter mindestens zwei Hauptsymptome wie Niedergeschlagenheit und Interessenverlust sowie zwei Zusatzsymptome wie Konzentrations- oder Schlafstörungen. Die Merkmale können in hunderten Kombinationen auftreten. Ich bezweifle, dass sich Personen mit nur drei erfüllten Kriterien so fundamental von denen mit vier Kriterien unterscheiden, wie vom System unterstellt wird. Das wird den vielen Abstufungen und Varianten, in denen diese Merkmale auftreten, nicht gerecht. Ein weiteres Problem: Wenn zwei Personen beide eine Depression diagnostiziert bekommen, unterscheiden sich ihre Symptome manchmal stärker als die einer Person mit Depression und einer Person mit Angststörung. Das liegt daran, dass die Merkmale nicht konsequent nach empirischen Gesichtspunkten zu Diagnosen zusammengefasst sind.

»Bislang musste man eine Person mit einer Persönlichkeitsstörung in eine von zehn Schubladen stecken«

Ab 2022 soll die ICD-11 in Kraft treten, die neue Version des internationalen Klassifikationssystems. Wird das Problem darin gelöst?

Leider nicht, es bleibt bei den Kategorien. Aus meiner Sicht hat sich damit am grundsätzlichen Problem, der Herangehensweise an psychische Störungen, nichts verändert. Nur bei wenigen Störungen gab es Fortschritte, zum Beispiel bei den Persönlichkeitsstörungen. Bislang musste man eine Person mit einer Persönlichkeitsstörung in eine von zehn Schubladen stecken. Jetzt steht der Schweregrad im Vordergrund.

Heißt das, die klassischen Persönlichkeitsstörungen sind Geschichte?

Es gibt weiterhin die Diagnose der Persönlichkeitsstörung, aber primär differenziert nach Schweregrad. Hauptkriterium ist, dass Grundfähigkeiten beeinträchtigt sind, etwa ein stabiles Selbstbild zu haben und Beziehungen eingehen zu können. Zur weiteren Beschreibung kann man die Art der Probleme festlegen: Zeigt sich die Störung zum Beispiel darin, dass jemand sehr verschlossen ist? Dazu wird die Ausprägung auf fünf Dimensionen bestimmt: Neben Verschlossenheit sind das negative Affektivität, Dissozialität, Enthemmtheit und Zwanghaftigkeit. Für die Borderline-Persönlichkeitsstörung wurde eine Ausnahme gemacht. Sie bleibt als einzige mit einer eigenen Kategorie erhalten; ein Kompromiss, der viel mit Politik zu tun hat. Es gibt zu ihr besonders viel Forschung und spezielle Therapiemethoden – und außerdem die Sorge, dass die Kassen nicht mehr wie bisher für die Behandlung zahlen, wenn die Diagnose wegfällt.

Geht das nicht auch anders? Oder denken wir einfach gern in Kategorien?

Ich glaube schon, dass das kategoriale Denken tief verankert ist. So wie man einen Prototyp von einem Baum oder einer Katze hat, meint man, es müsste auch den Prototyp einer Depression geben. Aber wir können diagnostische Instrumente entwickeln, die helfen, in Dimensionen an Stelle von Kategorien zu denken. Mit einem dimensionalen Modell werden wir dem Einzelfall viel besser gerecht. Wir können ihn in einem vieldimensionalen Raum verorten, ein Profil erstellen und zeigen, wo genau die Schwierigkeiten liegen. Das ist viel präziser und aussagekräftiger.

Die Hierarchische Taxonomie der Psychopathologie (HiTOP) | Im HiTOP-Modell werden Symptome und Merkmale der untersten Ebene gemäß ihrem gemeinsamen Auftreten zu Dimensionen unterschiedlicher Breite und Abstraktion zusammengefasst. Die Ebene der Syndrome entspricht in etwa den kategorialen Diagnosen nach ICD. Im HiTOP-Modell tritt an die Stelle einer solchen Diagnose ein individuelles Profil, das sich aus den Ausprägungen auf den Dimensionen zusammensetzt.

Warum gibt es solche Dimensionen nicht auch an Stelle von Kategorien wie Ängsten und Depressionen?

Genau dieses Ziel hat sich ein Zusammenschluss von über 140 Forschenden gesetzt, dem ich angehöre, genannt HiTOP, kurz für Hierarchische Taxonomie der Psychopathologie. Das Konsortium hat sich 2015 gegründet, unter anderem auf Initiative von Robert Krueger von der University of Minnesota. Er hat schon vor der Jahrhundertwende untersucht, wie psychische Störungen zusammenhängen, und war frustriert, nachdem er an der letzten Revision des DSM beteiligt war, das ein dimensionales Modell für Persönlichkeitsstörungen nur im Anhang aufgenommen hat. Bei diesem Revisionsprozess habe ich geholfen, das dimensionale Modell ins Deutsche zu übersetzen, die Instrumente zu validieren und in der Praxis zu erproben. Bei HiTOP arbeite ich jetzt daran mit, auch für die übrigen Störungen ein empirisch fundiertes Klassifikationssystem zu entwickeln, das psychopathologische Phänomene auf Dimensionen abbildet.

Wie weit sind Sie damit?

Wir haben knapp 200 Einzelprobleme identifiziert und anhand von mehr als 2000 Formulierungen genauer beschrieben. Jetzt prüfen wir, welche häufig gemeinsam auftreten, um sie zu Dimensionen zusammenzufassen, hierarchisch zu ordnen und daraus einen Test sowie ein strukturiertes Interview zu entwickeln. Wir hoffen, im Frühjahr 2022 eine reduzierte Liste zu haben, die wir auch ins Deutsche übersetzen können.

Gibt es derzeit schon Möglichkeiten, eine dimensionale Diagnostik im Sinne von HiTOP durchzuführen?

Teilweise. Auf einer höheren Abstraktionsebene gibt es sechs Problembereiche, Spektren genannt, auf der untersten Ebene die einzelnen Symptome wie Suizidalität oder Appetitverlust. Für die sechs Spektren existieren zum Teil schon etablierte Fragebogen. Auf einer Website des HiTOP-Konsortiums gibt es Empfehlungen dazu, welche Instrumente verwendet werden können, um in der Logik von HiTOP Diagnosen zu stellen.

Gibt es auch welche auf Deutsch?

Ja, es gibt bereits spektrenübergreifende Instrumente wie das »Verhaltens- und Erlebensinventar« oder das »Persönlichkeitsinventar für DSM-5«. Kürzlich haben wir zum Beispiel das »Inventory of Depression and Anxiety Symptoms« übersetzt, das vor allem Probleme aus dem internalisierenden Spektrum umfasst. Aber wir sind noch nicht an dem Punkt, wo ein Therapeut in der Praxis auf ein ausgereiftes und umfassendes System zurückgreifen kann.

Profile für ein Fallbeispiel nach HiTOP | Das Profil links zeigt die Ausprägungen der Spektren sowie der internalisierenden Unterfaktoren, das Profil rechts beispielhafte Merkmale des Unterfaktors Psychisches Leiden. Der hier beschriebene Fall könnte nach ICD-10 verschiedene Diagnosen erhalten, zum Beispiel »Leichte depressive Episode«, »Soziale Phobie« und »Ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung«. Die Balken stellen die gemessenen Ausprägungen dar; die kleinen Linien auf der Spitze verdeutlichen mögliche Abweichungen durch Messfehler. Die Perzentile geben an, wie stark ein Merkmal bei dieser Person verglichen mit anderen Menschen ausgeprägt ist. Ein Perzentil von 50 bedeutet: Die Ausprägung ist stärker als bei 50 Prozent der Personen einer in Alter und Geschlecht vergleichbaren Gruppe. Ab einem Perzentil von zirka 84 spricht man in der Regel von einer auffälligen Ausprägung (farbig markiert).

Hat denn so ein Profil aus Dimensionen tatsächlich mehr praktischen Wert als eine kategoriale Diagnose?

Eine Studie hat das gerade bei über 6000 Personen aus der Allgemeinbevölkerung verglichen: Es ging unter anderem darum, den Bedarf und die Inanspruchnahme von Behandlungen über neun Jahre vorherzusagen. Und da zeigt sich, dass Symptomschwere und Chronifizierung entscheidend sind, nicht die kategoriale Diagnose. Deshalb gibt es berechtigte Zweifel, ob diese Art der Diagnose für die Therapie überhaupt relevant ist.

Für die Behandlung macht es aber doch einen Unterschied, ob jemand unter Depressionen oder sozialen Ängsten leidet?

Ja, für die Therapieplanung würde man in dem System ein paar Hierarchieebenen hinuntergehen und schauen, wo genau die Probleme liegen. Das ist das Gute an einem hierarchischen System: Je nachdem, um welche Art von Entscheidung es geht, kann man die Probleme auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen betrachten.

Bislang bekommen Patienten zum Beispiel gesagt, dass sie an einer schweren depressiven Episode leiden. Wie würde man eine dimensionale Diagnose mitteilen? »Sie gehören zu den depressivsten zwei Prozent der Bevölkerung«?

Genau, so könnte man das sagen: Die depressive Symptomatik ist stärker als bei 98 Prozent der Menschen, wobei man Personen gleichen Alters und gleichen Geschlechts als Vergleichsgruppe heranziehen könnte. Man hätte aber nicht nur diese eine Dimension, sondern würde ein Profil auf mehreren Ebenen erstellen und schauen, wo die Auffälligkeiten liegen. Wo in ihrem Erleben und Verhalten weicht die Person wie stark vom Normalfall ab? Und ist das mit Beeinträchtigungen verbunden, die behandlungsbedürftig sind?

Könnte diese Art von Rückmeldung nicht auch sehr belastend sein? Wie reagieren die Patienten darauf?

Ob das schon einmal umfassend überprüft wurde, weiß ich nicht. Doch die Patienten bekommen meistens etwas mitgeteilt, was sie schon wissen. Die Probleme, die sie erleben und schildern, werden nur zusammengefasst und mit denen anderer verglichen. Aber eben ohne eine Störungskategorie zu verwenden, für die es eigentlich keine empirische Grundlage gibt.

Glauben Sie, dass das weniger stigmatisierend ist?

Eine schwierige Frage. Personen, die von einem Kontinuum zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit ausgehen, neigen jedenfalls weniger zu stigmatisierenden Einstellungen gegenüber Menschen mit psychischen Problemen. Ich denke auch, dass es hilfreich ist, problematische Merkmale auf weniger abstrakte Weise zu beschreiben. Man kann zum Beispiel von einer Neigung zu feindseligem oder impulsivem Verhalten sprechen: Das ist für die Patienten etwas anderes, als eine Borderline-Persönlichkeitsstörung attestiert zu bekommen. Es wird als weniger stigmatisierend erlebt, weil die Rückmeldung das Verhaltensmuster beschreibt und nicht die Person klassifiziert.

Es gibt auch eine Initiative, psychische Störungen nach ihren biologischen Merkmalen zu ordnen, genannt RDoC (Research Domain Criteria). Was steckt dahinter?

RDoC ist ein Fahrplan für die Forschung, entwickelt vom National Institute of Mental Health in den USA. Auch hier steckt eine Kritik am Status quo der kategorialen Klassifikation dahinter. Aber die Stoßrichtung ist eine andere. Die Idee ist: Es gibt verschiedene Systeme des menschlichen Funktionierens, und diese sind biologisch fundiert. Psychische Störungen entstehen durch Fehlfunktionen in diesen Systemen, beispielsweise im Gehirn oder in den Erbanlagen. Für ihre Erforschung liefert RDoC das Gerüst. Bei HiTOP geht es nur darum, die Probleme auf der Ebene des Erlebens und Verhaltens zu beschreiben. Insofern ergänzen sich die beiden Initiativen. Der Anspruch von RDoC geht allerdings viel weiter und ist nicht direkt auf die diagnostische Praxis bezogen.

»Das wird die diagnostischen Kategorien sprengen«

Geht es nicht auch darum, die Erkenntnisse in der Praxis anwenden zu können?

Durchaus, doch das Projekt ist ambitionierter: Vielleicht ist es künftig möglich, Fehlfunktionen früh anhand von biologischen Parametern zu erkennen. Es wird aber nicht den einen Marker für eine depressive Episode geben, eher noch einen Marker für Probleme im internalisierenden Spektrum generell. Solche Befunde werden die diagnostischen Kategorien sprengen.

Was bedeutet das für die Therapie?

Das gilt es noch zu klären. Eine der Fragen ist: Auf welcher Ebene wirkt eigentlich eine Psychotherapie? Reduziert sie spezifisch depressive Symptome? Oder verschwinden andere Probleme mit, die gar nicht das primäre Therapieziel waren? Dann wäre die Wirkung eher auf höheren Ebenen anzusiedeln.

Wann werden diese Modelle in der Praxis ankommen? Werden wir eine Zeit ohne Diagnosekategorien noch erleben?

Das kann ich nicht einschätzen. Der Druck steigt, die Klassifikationssysteme zu überarbeiten. Wir brauchen eine neue Ordnung für psychische Störungen. Aber zunächst wird sogar noch die alte ICD-Version verwendet werden, es gibt eine lange Übergangsphase. Und dann wird es wahrscheinlich wieder 20 bis 30 Jahre dauern, bis eine neue ICD-Version folgt.

Und Therapeuten wie Patienten müssen einfach damit weiterleben?

Letztlich handelt es sich nur um eine Sammlung von Kriterien. Wie man die ICD umsetzt und mit Leben füllt, ist etwas anderes. Auch wenn die alten Kategorien noch gelten, können wir bei Patienten künftig neben strukturierten Interviews weitere Messmethoden einsetzen, zum Beispiel Patienten über mehrere Wochen elektronische Tagebücher ausfüllen lassen. Wir werden viel feinkörniger Daten erheben, sie elektronisch auswerten und mit Hilfe von Algorithmen in Handlungsempfehlungen übersetzen. Es wird digitale Tools geben, die das individuelle Profil visualisieren. Ich bin optimistisch, dass es Lösungen geben wird, die ICD dimensional zu betrachten und auf nicht stigmatisierende Art zu nutzen.

Die Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD)

Schon im 18. Jahrhundert gab es erste Versuche, Krankheiten in Gruppen zusammenzufassen. Erste Vorläufer der heutigen ICD umfassten zunächst eine Liste von Todesursachen. Seit der sechsten Version wird die ICD von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben und enthält neben körperlichen Erkrankungen auch ein Kapitel über psychische und Verhaltensstörungen. Die Diagnosen werden in einen international einheitlichen Schlüssel übersetzt, zum Beispiel F32.0 für eine leichte depressive Episode. Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten vergeben ihre Diagnosen nach diesen Codes und deren Kriterien. Hingegen arbeitet die Forschung zu psychischen Erkrankungen in der Regel mit dem Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen (DSM).

Die elfte Ausgabe der ICD wurde 2019 verabschiedet und tritt 2022 in Kraft. Die aktuelle zehnte Version bleibt allerdings für eine mehrjährige Übergangszeit gültig; eine deutsche Version existiert noch nicht. Zu den Neuerungen zählen »Zustände, die die sexuelle Gesundheit betreffen« und »Erkrankungen des Schlafes«, die Probleme zusammenfassen, die zuvor über mehrere Kapitel verteilt waren. Einige Änderungen sind umstritten, darunter die Einführung einer eigenen Diagnose für Online- oder Offline-Spielsucht sowie für zwanghaftes Sexualverhalten wie übermäßigen Pornokonsum. Neuzugänge unter den Angststörungen sind der selektive Mutismus bei Kindern und die Trennungsangst bei Erwachsenen. Außerdem löst eine dimensionale Diagnostik der Persönlichkeit die alten Persönlichkeitsstörungen ab.

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