Psychische Krankheiten: Wie Geruchssinn und psychische Störungen zusammenhängen
Es kommt nicht allzu häufig vor, dass Probanden während eines wissenschaftlichen Experiments die Tränen in die Augen steigen. In den Versuchen, die im Jahr 2014 an der Technischen Universität Dresden stattfanden, war jedoch exakt diese Reaktion erwartet worden: Die Wissenschaftler hatten sich die Frage gestellt, wie sich die Stimmung auf das Geruchsvermögen auswirkt. Dazu hatten sie ihren Teilnehmenden – 24 Frauen und 7 Männern – die Schlussszene aus dem Film »The Champ« gezeigt. Darin weint ein kleiner Junge um seinen sterbenden Vater, der in einem Boxkampf lebensgefährlich verletzt wurde. Der herzzerreißende Ausschnitt schnürt Zuschauern sehr zuverlässig die Kehle zu. Dieser Tatsache verdankt der Film eine steile Karriere in der Forschung: Psychologen und Mediziner nutzen ihn seit den 1990er Jahren in schöner Regelmäßigkeit, um traurige Gemütszustände zu studieren.
Nun also auch die Geruchsforscher Elena Flohr, Elena Erwin, Ilona Croy und Thomas Hummel. Sie wollten herausfinden, ob Niedergeschlagenheit auf die Nase schlägt. Tatsächlich deuten die Ergebnisse des Dresdner Teams darauf hin: Nach der Filmvorführung ließen sie ihre geknickten Probanden den Mief fauler Eier schnüffeln. Die Teilnehmer verarbeiteten den Reiz langsamer als normalerweise, wie Messungen per Elektroenzephalografie (EEG) zeigten. Zudem war der Peak in der Hirnstromkurve, der kurz nach Einsetzen des Gestanks zu beobachten war, in traurigem Zustand etwas niedriger.
Groß waren die Unterschiede nicht. Sie passen jedoch ins Bild: So hatte die Düsseldorfer Psychologin Bettina Pause schon 2003 bei Depressiven ähnliche Veränderungen im EEG feststellen können. Nach erfolgreicher medikamentöser Behandlung verschwanden diese Auffälligkeiten wieder. Pause hatte zudem als eine der Ersten gezeigt, dass Depressive Gerüche erst bei höheren Intensitäten wahrnehmen als Gesunde und dass das Riechvermögen nach der Therapie wieder zunimmt. Augenscheinlich gibt es zwischen Krankheit, Geruchswahrnehmung und -verarbeitung einen deutlichen Zusammenhang.
Macht mangelndes Riechvermögen depressiv?
Und das gilt nicht nur für die Depression: Inzwischen häufen sich die Belege, dass sich viele psychische und neurodegenerative Störungen – ob Schizophrenie, Autismus oder Alzheimerdemenz – am Geruchssinn erkennen lassen. Rund um den Globus fahnden Wissenschaftler nach den Ursachen für diesen Zusammenhang. Bei der Depression etwa haben sie in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Mosaiksteinen zusammengetragen. Doch noch ist das Bild, das diese ergeben, keineswegs vollständig. Das gilt vor allem für die Frage nach der Kausalität: Macht mangelndes Riechvermögen depressiv? Oder ist es genau umgekehrt?
Die Dresdner Arbeit deutet eher auf den zweiten Erklärungsansatz hin. Dazu passt auch ein Ergebnis der Gruppe um Bettina Pause: Die Wissenschaftler stellten Versuchspersonen eine nur scheinbar lösbare Aufgabe und gaben ihnen dann ein negatives Feedback. Die Teilnehmer hatten also den Eindruck, schlecht abzuschneiden, egal wie sehr sie sich auch anstrengten. Als Folge fühlten sie sich hilflos – eine Emotion, die auch für Depressionen charakteristisch ist.
»Während so einer Hilflosigkeitserfahrung passiert im Gehirn der Betroffenen offensichtlich dasselbe wie bei depressiven Patienten: Ihre frühe geruchliche Reizverarbeitung ist eingeschränkt«Bettina Pause
Parallel dazu änderte sich ihre Geruchsverarbeitung: Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe führten olfaktorische Reize bei ihnen zu einem deutlich schwächeren Ausschlag der Hirnstromkurve, ganz ähnlich wie im Experiment an der TU Dresden. »Während so einer Hilflosigkeitserfahrung passiert im Gehirn der Betroffenen offensichtlich dasselbe wie bei depressiven Patienten«, sagt die Düsseldorfer Psychologin: »Ihre frühe geruchliche Reizverarbeitung ist eingeschränkt.«
Beeinträchtigen also negative Gefühle unsere Nase? Es gibt auch gute Argumente für die gegenteilige Annahme – nämlich dass eine gestörte Geruchsverarbeitung unsere Emotionen durcheinanderbringt. Eine Schlüsselrolle spielt in dem Zusammenhang der Riechkolben, fachsprachlich Bulbus olfactorius. Dabei handelt es sich um eine Struktur im Gehirn, die sich oberhalb der Nasenhöhle an den Schädelknochen anschmiegt. Die Nerven der Riechsinneszellen durchqueren den Knochen, um dann in den Riechkolben zu münden. Dieser fungiert als eine Art Verteiler: Ihm entspringen zahlreiche weitere Nervenbahnen, die vor allem zu Hirnstrukturen des so genannten limbischen Systems führen – eines Teils des Gehirns, der vor allem der Verarbeitung von Gefühlen dient. Es ist also vermutlich kein Wunder, dass uns der Geruch von Pinienharz mit glücklicher Vorfreude auf den Sommer erfüllt, während es uns beim Gestank verrotteter Eier vor Ekel schüttelt.
Unter anderem hat der Bulbus olfactorius eine direkte Verbindung zur Amygdala. In dieser Hirnregion, die wegen ihres Aussehens auch als »Mandelkern« bezeichnet wird, entstehen Gefühle wie Angst oder Trauer. Der Riechkolben scheint sie dabei zu bremsen und dafür zu sorgen, dass solche negativen Emotionen nicht überhandnehmen. Wenn man den Bulbus bei Ratten entfernt, entwickeln die Nager depressive Symptome.
Depressionen wegen des fehlenden Bulbus
Diese lassen sich durch die dauerhafte Gabe von Antidepressiva mindern. »Solche Ratten sind daher eines der besten Tiermodelle, um die Wirkung von Depressionsmedikamenten zu testen«, sagt Pause. Zumindest bei den Nagern scheint es übrigens tatsächlich einzig auf die Funktion des Bulbus anzukommen, nicht auf die der Riechsinneszellen: Wurden diese durch eine Nasenspülung außer Gefecht gesetzt, entwickelten die Tiere keine Depressionssymptome.
Interessanterweise berichten Menschen, denen auf Grund einer Entwicklungsstörung der Bulbus olfactorius fehlt, häufig über depressive Verstimmungen. Bei Patienten mit einer Depression ist der Riechkolben zudem kleiner als bei Gesunden, wie die Dresdner Psychologin Ilona Croy unlängst zeigen konnte – im Schnitt um 13,5 Prozent.
Der Bulbus ist für frühe Verarbeitungsschritte der Geruchswahrnehmung zuständig. Eine Störung äußert sich vor allem in einer erhöhten Wahrnehmungsschwelle – die Nase ist unempfindlicher. Anders sieht es bei der Schizophrenie aus: »Die Betroffenen können Gerüche im Schnitt schlechter identifizieren«, erklärt Thomas Hummel, Leiter des Arbeitsbereiches »Riechen und Schmecken« am Uniklinikum Dresden. Oft wird diese Fähigkeit mit den so genannten »Sniffin' Sticks« abgefragt. Dabei handelt es sich um Filzstifte, die jeweils mit einem bestimmten Duft befüllt wurden, etwa mit Orangenaroma. Die Testperson erhält vier Auswahlmöglichkeiten – zum Beispiel Orange, Brombeere, Erdbeere und Ananas – und muss die zutreffende ankreuzen. »Menschen mit einer Schizophrenie schneiden dabei regelmäßig schlechter ab«, betont Hummel. »Das zeigt, dass bei ihnen spätere kognitive Prozesse – etwa die Verknüpfung eines Geruchsreizes mit verbalen Inhalten – gestört sind.«
Schizophrenie hängt mit schlechter Geruchswahrnehmung zusammen
Der US-amerikanische Neuropsychologe Paul Moberg hat vor einigen Jahren zeigen können, dass dieses Defizit vor allem angenehme Gerüche betrifft. Je schlechter Menschen in einem Frühstadium der Erkrankung solche Düfte benennen können, desto größer scheint zudem ihr Risiko, eine ausgewachsene Schizophrenie zu entwickeln. »Schizophrene Zustände wie Verfolgungswahn oder Halluzinationen gehen oft mit extremen Ängsten einher«, erläutert die Düsseldorfer Geruchsforscherin Bettina Pause. »Dazu passt, dass positive Gerüche schlechter wahrgenommen werden, negative – wie unsere eigenen Arbeiten zeigen – dagegen besser.« Erkrankte interpretieren ihre geruchliche Umgebung demnach verstärkt als bedrohlich. Gegen diese Theorie spricht allerdings, dass in manchen Studien die untersuchten Patienten angenehme Gerüche nicht negativ, sondern im Gegenteil übertrieben positiv bewerteten.
Noch gibt es dazu zu wenige Befunde. Dennoch zeichnet sich ab, dass sich Geruchstests bei Krankheiten wie Depression oder Schizophrenie in Zukunft vielleicht diagnostisch nutzen lassen – etwa um Risikogruppen zu identifizieren oder um die Wirkung von Therapien abzuschätzen. Bei Morbus Parkinson gehören olfaktorische Untersuchungen dagegen schon zum klinischen Alltag. Neun von zehn Patienten leiden bereits in Frühstadien der Erkrankung unter einem beeinträchtigten Riechvermögen. Oft ist das eines der ersten Symptome, mitunter lange bevor die charakteristischen motorischen Störungen auftreten.
Als Ursache vermuten manche Wissenschaftler Umweltgifte oder Viren. Diese können beim Einatmen in die Nasenhöhle gelangen. Von dort durchqueren sie den Schädelknochen, der die Höhle vom Riechkolben trennt – das so genannte Siebbein. Im Bulbus richten sie dann gravierende Schäden an und breiten sich schließlich in die motorischen Zentren des Gehirns aus.
Riechsinn zur Diagnose nutzen
Noch ist diese »Vektor-Hypothese« wenig mehr als genau das: eine Hypothese. Max-Planck-Forscher aus Frankfurt konnten jedoch 2017 im Bulbus olfactorius verstorbener Parkinsonpatienten charakteristische Veränderungen nachweisen: Bei den Betroffenen war die Zahl oder Größe der Glomeruli vermindert – das sind kleine Nervenknäuel, in denen frühe Prozesse der Geruchsverarbeitung stattfinden. Solche Unterschiede fanden sich vor allem in der Nähe des Siebbeins, also dort, wo die Glomeruli laut Vektor-Hypothese zuerst mit den Schadstoffen in Kontakt kommen.
Manche Wissenschaftler hoffen derweil, dass sich der Zusammenhang zwischen Riechsinn und psychischen oder neurodegenerativen Erkrankungen therapeutisch nutzen lässt. Der schwedische Psychologe Jonas Olofsson etwa hat verschiedene Geruchstrainings entwickelt. Er hält sie für eine Methode, mit der man möglicherweise die Verschaltung der Nervenzellen im Gehirn ändern kann. Eventuell lasse sich das bei Menschen mit einer Depression oder mit altersbedingten Gedächtnisverlusten nutzen.
Ergebnisse von Thomas Hummel und Ilona Croy stützen diese Hoffnung: Sie ließen Senioren morgens und abends vier Düfte schnuppern. Nach fünf Monaten war nicht nur die Nase der Teilnehmer empfindlicher geworden; sie fühlten sich auch signifikant wohler. Das galt ebenso für eine Teilgruppe, die zuvor depressive Symptome gezeigt hatte. Eine noch nicht publizierte Folgestudie mit depressiven Patienten war allerdings ernüchternder: Fast die Hälfte von ihnen habe die Studie abgebrochen, sagt Croy – vermutlich, weil sie auf Grund der Krankheit nicht die Motivation aufgebracht hätten, das Training durchzustehen. Bei den anderen habe sich die Stimmung zwar gebessert, das sei bei einer Kontrollgruppe aber ebenso der Fall gewesen. Und die hatte kein Geruchstraining durchgeführt, sondern schlicht einige Monate Sudoku gespielt.
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