CERN: "Einer der kältesten Punkte im Universum"
Rolf-Dieter Heuer ist Chef des Kernforschungszentrums CERN und Herr über die größte Maschine der Welt: den Beschleuniger LHC. Im Interview spricht er über Störfälle, Terror-Meldungen und den Wettlauf um das Teilchen Gottes.
Seit Januar 2009 leiten Sie das CERN – und mussten sich gleich zum Start mit einem im Wortsinn riesigen Problem auseinandersetzen: dem Ausfall des gigantischen Teilchenbeschleunigers LHC (Large Hadron Collider). Haben Sie in den vergangenen zehn Monaten schon einmal bereut, nach Genf gegangen zu sein?
Nein, denn ich wusste ja, was mich erwartet. Problemlösung gehört mit zum Aufgabengebiet eines Generaldirektors.
Wie ist der aktuelle Status des LHC?
Die eigentlichen Reparaturen waren schon Ende des Frühjahrs abgeschlossen. Was länger gedauert hat, waren die Vorbereitungen dafür, dass sich ein solcher Vorfall möglichst nicht noch einmal wiederholt. Das heißt, wir haben im gesamten Ring eine viel empfindlichere Elektronik eingebaut, die Temperaturschwankungen und Widerstandsänderungen sehr viel genauer messen kann als das Vorgängersystem. Das funktioniert auch schon sehr gut, muss allerdings noch einmal durchgetestet werden.
Wir haben insgesamt 250 Kilometer Kabel neu verlegt, mehr als 6000 neue Elektronikkarten mussten gebaut, die ganze Software dazu geschrieben werden – das alles hat seine Zeit gedauert. Jetzt ist der LHC wieder auf Betriebstemperatur – und damit einer der kältesten Punkte im Universum.
Wie kalt genau?
1,9 Kelvin (entspricht -271 Grad Celsius, Anm. d. Red.). Nach erfolgreicher Abkühlung konnten wir vor einigen Tagen auch bereits erstmals einen Teilchenstrahl in den Beschleuniger einbringen, mit sehr gutem Erfolg.
Ist der LHC damit wieder fit für die Forschung?
Endgültig bereit wird er aller Voraussicht nach Mitte November sein. Wir wollen nun zunächst die Teilchenstrahlen mit niedriger Energie kollidieren lassen. Das wird dann allmählich gesteigert, und wenn alles gut verläuft, können wir noch vor Weihnachten die ersten richtigen Kollisionen haben. Ich vergleiche das immer mit einem neuen Auto, das Sie auch nicht direkt mit Vollgas fahren würden. Ernsthafte Forschung beginnt dann im neuen Jahr.
Wie war die Stimmung im Team angesichts der Probleme mit dem LHC?
Direkt nach dem Ausfall im Herbst letzten Jahres war die Stimmung natürlich im Keller, eher sogar noch tiefer. Da war es wichtig, die Kollegen mit einzubinden in die Entscheidungen darüber, was nun zu tun war. Sie mussten das Vertrauen in die Maschine zurückgewinnen. Ich glaube, das ist ganz gut gelungen.
Inzwischen ist die Stimmung wieder sehr gut. Hilfreich war hier auch, dass sich neben den Technikern und Wissenschaftlern, die die Maschine LHC betreuen, auch die Kollegen, die mit der Durchführung der Experimente betraut sind, eingebracht haben. Dazu konnten wir eine große internationale Solidarität verzeichnen: An vielen Forschungseinrichtungen in Europa und Übersee wurden Experten freigestellt, damit sie zu uns reisen und uns unterstützen konnten. Sogar vom Fermilab in Chicago erhielten wir Unterstützung – also von der direkten Konkurrenz.
Auch am Fermilab-Beschleuniger wird nach dem Higgs-Teilchen gesucht – dem so genannten Teilchen Gottes, dessen Entdeckung eine der Hauptaufgaben des LHC ist. Fürchten Sie, in diesem Wettlauf nun entscheidend ins Hintertreffen zu geraten?
Das ist eine durchaus gesunde und sehr freundschaftliche Konkurrenz. Das Interesse am Fortschritt der Wissenschaft ist hier größer als das Eigeninteresse. Als Wissenschaftler ist es mir im Prinzip egal, wo das Higgs-Teilchen entdeckt wird. Als Generaldirektor des CERN wünsche ich mir natürlich, dass es bei uns entdeckt wird.
Aber selbst wenn die Kollegen in Chicago erste Hinweise auf das Higgs-Teilchen finden würden, müsste dann weiter getestet werden, um die Eigenschaften des Teilchens genau zu bestimmen. Und für diese Arbeit braucht man den LHC mit seinem hohen Energieniveau. Wenn wir also überhaupt Befürchtungen haben müssten, so allenfalls die, dass Chicago den allerersten Hinweis auf das Teilchen liefern könnte – und auch danach sieht es im Moment nicht aus.
Aber der LHC soll ja noch mehr liefern als den Beweis für die Existenz des Higgs-Teilchens. Etwa Hinweise auf die rätselhafte Dunkelmaterie im Universum. Könnte der LHC hier schneller ein Ergebnis liefern?
Möglicherweise – aber das ist sehr spekulativ. Dazu müsste die Dunkle Materie wirklich all die Eigenschaften haben, die unsere heutigen Modelle ihr zuschreiben. Das wären ziemlich viele "Wenns", und erfahrungsgemäß richtet sich die Natur nicht genau nach den Wünschen der Forscher.
Kommen wir noch einmal auf die Maschine selbst zurück: Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass der LHC noch einmal kollabiert?
Sehr gering. Obwohl, hätten Sie mich das vor dem großen Ausfall im vergangenen Jahr gefragt …
Habe ich. Damals schätzten Sie das Risiko als sehr gering ein.
Und mein Vorgänger als CERN-Direktor hätte auch nichts anderes gelten lassen. Aber im Ernst: Wir verstehen die Maschine heute sehr viel besser als vor dem Ausfall. Die neue Elektronik und das sehr langsame Heranführen des Beschleunigers auf höhere Leistungsniveaus macht eine Wiederholung des Ausfalls sehr, sehr unwahrscheinlich.
Natürlich besteht immer die Gefahr eines vergleichsweise trivialen Problems, das uns zurückwirft – wie zuletzt ein Leck in der Kühlisolierung, das uns einige Wochen gekostet hat. Das ist ähnlich wie bei den Spaceshuttles, bei denen ein einfaches Ventil klemmt, so dass sie am Boden bleiben müssen. Doch bei einem Shuttle kommt man an alle Bauteile relativ leicht heran. Bei uns müssen Sie den LHC erst langsam aufwärmen und nach der Reparatur wieder extrem abkühlen.
Sehen Sie die Gefahr, dass die Maschine bei einem erneuten Ausfall vollkommen in Frage gestellt würde?
Wenn es zu so einem Zwischenfall käme, hätte ich sicher einen hohen Erklärungsbedarf – um es diplomatisch auszudrücken.
Auch abseits des LHC-Ausfalls konnte man den Eindruck gewinnen, dass es beim CERN in den vergangenen Monaten nicht ganz rund lief. Mitte des Jahres kündigte Österreich kurzzeitig seinen Austritt aus dem europäischen Gemeinschaftsprojekt CERN an, vor wenigen Wochen erregten die Terrorismus-Kontakte eines Forschers öffentliche Aufmerksamkeit.
Lassen Sie mich mit dem zweiten Beispiel anfangen: Bei diesem Forscher handelte es sich nicht um einen beim CERN angestellten Wissenschaftler, auch wenn er natürlich Zugang zum CERN hatte. Vermutlich hätte dieser Vorfall deutlich weniger Aufmerksamkeit erregt, wenn das "N" in CERN nicht für "nuklear" stünde (CERN: Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire, Anm. d. Red.). Wobei der Name aus einer Zeit stammt, als die Physik nur die Kernforschung kannte. Heute würden wir eher die Teilchenphysik, die damals noch unbekannt war, in den Namen aufnehmen.
Was die vorübergehende Austrittsabsicht Österreichs angeht, so bin ich sehr stolz über den Zuspruch, den wir in dieser Phase erfahren haben. Die österreichische Öffentlichkeit reagierte sehr sensibel auf dieses Thema, und das brachte die Verantwortlichen letztlich dazu, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken.
Beide Vorfälle zeigen allerdings, dass das CERN viel stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist – und das hat sicherlich mit der Berichterstattung rund um den LHC zu tun. Und das finde ich durchaus positiv.
Gibt es vergleichbare Bestrebungen vielleicht auch bei anderen Mitgliedsländern des CERN? Immerhin stellen die Kosten gerade für die Wissenschaftsbudgets kleinerer Mitgliedsstaaten durchaus eine Belastung dar.
Natürlich ist das durchaus ein Betrag, auch für größere Länder, denn der Anteil eines Landes am CERN-Budget richtet sich nach dessen Bruttoinlandsprodukt. Man muss aber auch sehen, was man dafür zurückbekommt: Zum einen die Ergebnisse der Grundlagenforschung, zum anderen vielfältige technische Innovationen, ohne die man solche Forschung gar nicht durchführen kann. Und wenn Sie sich vor Augen halten, dass es heute weltweit mehr als 15 000 Beschleuniger gibt – die wenigsten im Bereich der Grundlagenforschung, die meisten in der Industrie oder in Krankenhäusern –, dann wird erst deutlich, wie bedeutsam diese Innovationen sind. Dazu die exzellente Ausbildung für Techniker und Ingenieure, die von den Mitgliedsstaaten zum CERN geschickt werden – da fließt schon einiges an die Mitgliedsländer zurück.
Entsprechend hoch ist übrigens das Interesse an einer Mitgliedschaft. Dem Beispiel Österreich stehen mehrere Länder gegenüber, die gerne Mitglied des CERN werden würden: Rumänien ist Beitrittskandidat und wird in fünf Jahren Vollmitglied werden. Dazu kommen fünf Staaten, die ihre Bewerbungen abgegeben haben: Slowenien, Serbien, Zypern, Türkei und Israel. All diese Länder sehen die großen Vorteile, die eine CERN-Mitgliedschaft bringt – nicht zuletzt eben auch für die Ausbildung des wissenschaftlichen und technischen Nachwuchses.
Ein Land, das mit dem Ausstieg drohte, gegenüber fünf, die auf Mitgliedschaft drängen – mit diesem Zahlenverhältnis bin ich eigentlich sehr zufrieden.
Gibt es Bestrebungen, das CERN noch weiter über Europa hinaus zu öffnen – etwa für Länder aus Asien oder Südamerika?
Diese Bestrebungen gibt es in der Tat. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Wissenschaft heute einige ihrer Projekte nur in globalem Maßstab verwirklichen kann. Nehmen Sie den LHC – so ein Projekt realisiert man nicht zweimal auf der Welt. Da müssen Sie alle interessierten Partner mitnehmen.
Entsprechend haben wir am CERN eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die sich mit einer Erweiterung über Europa hinaus beschäftigt. Wichtig ist uns dabei, dass das CERN eine Art europäische Identität bewahrt, die ja auch in seinem Namen angedeutet wird. Aber natürlich gibt es Möglichkeiten wie eine privilegierte Partnerschaft, über die man Interessenten auch aus anderen Teilen der Welt mit ins Boot holen kann. Und diese Interessenten gibt es, ohne dass ich jetzt schon Namen nennen möchte.
Wir sind da derzeit in der Diskussion, und ich denke, im kommenden Jahr könnten wir die Weichen so stellen, dass eine Globalisierung des CERN in den eben skizzierten Grenzen schon in wenigen Jahren Realität sein wird.
Herr Heuer, vielen Dank für das Gespräch.
© Handelsblatt
© Handelsblatt / Golem.de
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben