Wissenschaftsgeschichte: Als die Welt durchsichtig wurde
Ende des 19. Jahrhunderts hatte kaum jemand mehr einen wissenschaftlichen Durchbruch von Wilhelm Conrad Röntgen erwartet. Der Würzburger Physikprofessor galt unter seinen deutschen Kollegen zwar als begabter und gewissenhafter Experimentator, international war er aber ein unbeschriebenes Blatt. Zudem wurde er 1895 bereits 50 Jahre alt – die meisten Forscher machen ihre bedeutendsten Entdeckungen in jüngeren Jahren.
Röntgen hatte bis dahin auch nicht gerade das durchlebt, was man eine Bilderbuchlaufbahn nennt. Schon in der Schulzeit geriet sein Leben auf einen ungewöhnlichen Pfad: Als seine Klasse einen Lehrer unvorteilhaft karikierte, regte dieser sich stark darüber auf, doch niemand wollte sich schuldig bekennen. Schließlich übernahm Röntgen die Verantwortung, woraufhin man ihn der Schule verwies.
Ohne Abschluss konnte er nicht ordnungsgemäß studieren – keine gute Voraussetzung für eine Karriere als Wissenschaftler. Doch Röntgen nahm als Gasthörer an Vorlesungen teil. Über Umwege gelang es ihm schließlich, in der Schweiz zu promovieren und anschließend an der Universität Würzburg zu arbeiten. Damit gelang Röntgen, der am 27. März 1845 geboren wurde, doch noch der Start einer Forscherlaufbahn.
Das Rätsel der Kathodenstrahlröhre
Am 8. November 1895 werkelte er dort wieder einmal allein in seinem Labor herum. Seine Aufmerksamkeit galt einer merkwürdigen neuen Erfindung: einer Kathodenstrahlröhre, die ein eigentümliches Leuchten von sich gab. Solche Vakuumröhren, in denen Elektronen mit hoher elektrischer Spannung beschleunigt werden, waren damals erst einige Jahre im Umlauf. Auf dieser Technik sollten ein halbes Jahrhundert später die ersten Röhrenfernseher basieren.
Doch damals waren Elektronen noch unbekannt. Forscher wie Röntgen versuchten deshalb, der Ursache für das Leuchten der Röhren auf die Schliche zu kommen. Auf einmal bemerkte der Physiker in seinem abgedunkelten Labor etwas Ungewöhnliches: Wenn das Gerät eingeschaltet war, fing ein in der Nähe befindliches Papier, das er zuvor mit fluoreszierender Farbe beschichtet hatte, ebenfalls an zu leuchten. Nun umschloss er die Vakuumröhre mit schwarzer Pappe, aber das Leuchten blieb. Von der Kathodenstrahlröhre musste also irgendeine unsichtbare Strahlung ausgehen!
Fasziniert von diesem Ergebnis experimentierte Röntgen wochenlang ausgiebig mit den neuartigen Geräten. Metallstücke schienen die ausgesandten Strahlen zu blockieren, während leichte Materialien wie Holz sie offenbar kaum beeinflussten. Je nach Bleigehalt ließ Glas die Strahlung besser oder schlechter passieren.
In kurzer Zeit führte Röntgen so viele umfangreiche Experimente durch, dass andere Forscher in den folgenden Jahren kaum noch etwas Neues in diesem Bereich herausfanden. Dennoch scheute er sich anfangs davor, mit anderen Personen als seiner Frau Anna Bertha über seine Versuche zu sprechen – zu unglaublich schien ihm sein Fund.
Die Ehefrau als Versuchskaninchen
Wie er bald feststellte, reagierten auch gewöhnliche Filmplatten auf die geheimnisvollen X-Strahlen. Er konnte damit also Bilder anfertigen. Und gleich das erste wurde zu einer ikonischen Darstellung in der Wissenschafts- und Medizingeschichte: Er durchleuchtete die Hand seiner Frau Anna Bertha. Für diese erste medizinische Röntgenaufnahme überhaupt musste sie eine Viertelstunde lang ihre Hand stillhalten.
Auf der Aufnahme ist das Gewebe nur schemenhaft zu erkennen. Die Handknochen hingegen sind klar zu sehen, und vor allem der Ehering sticht hervor, weil Metall Röntgenstrahlung sehr viel stärker absorbiert als Haut. Wilhelm war begeistert. Seine Frau war von dem Bild allerdings weniger angetan. »Ich habe meinen Tod gesehen«, entfuhr es ihr angesichts der Knochen ihrer Hand.
Am 28. Dezember 1895 reichte Röntgen eine erste wissenschaftliche Veröffentlichung zu den neuen Strahlen ein. Dank seines Vertrauten Franz Exner, Physik-Ordinarius in Wien und Sohn eines Zeitungsherausgebers, gelangte die Kunde der geheimnisvollen Strahlen schnell an die Presse.
Im Januar 1896 verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer um die Welt: Ein Professor namens Wilhelm Röntgen aus der beschaulichen Universitätsstadt Würzburg habe Strahlen entdeckt, mit denen man durch den menschlichen Körper und andere Objekte hindurchsehen könne. Zeitungen berichteten darüber anfangs noch ohne Bilder, dafür teils mit skeptischem Unterton. Die sich dadurch ergebenden Möglichkeiten schienen zu schön, um wahr zu sein.
»Die Presse« aus Wien brachte die Meldung am 5. Januar 1896 auf der Titelseite: »Eine sensationelle Entdeckung«. Zugegebenermaßen klinge die Nachricht von Strahlen, die alles durchdringen, nach einer Geschichte im Stil von Jules Verne, wie ein Märchen oder ein verwegener Aprilscherz, schrieb der Journalist. »Wir betonen ausdrücklich noch einmal, dass die Sache von ernsten Gelehrten ernst genommen wird.«
In einem anderen Absatz spekulierte der Berichterstatter über die unglaublichen Möglichkeiten, die diese Strahlen für Medizin und Chirurgie bedeuten. Im Rückblick erstaunt, wie nahe er damit an der Realität lag. Die Analyse von Knochenbrüchen oder das Lokalisieren von Fremdkörpern im Körper sind noch heute eine Domäne von Röntgenuntersuchungen.
Auch die britische Tageszeitung »The Guardian« erkannte die Tragweite der Entdeckung: »A really sensational discovery«, titelte sie. Und der Londoner »Standard« versicherte seinen Lesern, dass es sich dabei nicht um einen Witz handle. Bald erschienen die ersten Bilder von Röntgenaufnahmen, was auch die letzten Zweifler überzeugte.
Audienz beim Kaiser
Während die Nachricht von den neuen Strahlen um die Welt ging, wuchs auch Röntgens Ruhm täglich weiter an. Gerade einmal acht Tage nachdem er seinen Aufsatz veröffentlicht hatte, lud Kaiser Wilhelm II. ihn dazu ein, ihm seine neue Technik persönlich vorzuführen. Darauf folgten reihenweise weitere Einladungen zu öffentlichen Vorträgen, die Röntgen aber sämtlich ablehnte.
Am 23. Januar präsentierte er seine Arbeit schließlich an der Universität Würzburg. Noch bevor er anfangen konnte zu sprechen, gab es im bis auf den letzten Platz belegten Saal stehende Ovationen. Als er schließlich um einen Freiwilligen unter den Zuschauern bat, traute sich der 78-jährige Physiologe Albert von Kölliker nach vorne. Auch seine Fingerknochen samt Ehering erschienen im Röntgenlicht. Das machte den Vortrag zu einem riesigen Erfolg, und Berichte darüber gab es in allen wichtigen Zeitungen. Dem Forscher zu Ehren hießen die Strahlen, die er selbst bis dahin X-Strahlen genannt hatte, von nun an Röntgenstrahlen.
Außergewöhnlich schnell fand die Entdeckung technische Anwendungen. Schon 20 Tage nach den ersten Berichten bot eine Berliner Firma Röntgenröhren zum Verkauf an. Nach nicht einmal einem Jahr hatten medizinische Einrichtungen weltweit Röntgenuntersuchungen im Programm. Danach entstanden die ersten Bewegtbilder im Röntgenlicht, die man nutzte, um den menschlichen Sprachapparat zu analysieren. Auch in Ölgemälden alter Meister fand man dank der Röntgentechnik verborgene Bilder.
Findige Geschäftsleute versuchten mit der neuen Technologie Geld zu machen: In Städten wie New York gab es »bone portrait studios«, in denen man seine Knochen fotografieren lassen konnte, um sich solche Bilder zu Hause an die Wand zu hängen. Es gab sogar röntgendichte Unterwäsche, mit denen man sich vor den Blicken von Personen mit angeblichen Röntgenbrillen schützen konnte. Die neuartigen Strahlen sollten zudem Kopfschmerzen heilen, asthmatische Anfälle lindern oder Pickel und unerwünschte Haare entfernen.
Erste Strahlentherapie in Sicht
Auch in der Medizin fand die Technik bald Anwendung: Ein Arzt in Chicago versuchte bereits wenige Tage nach Röntgens Vortrag 1896, den Brustkrebs einer Patientin mit Röntgenstrahlen zu behandeln, und erzielte dabei sogar gewisse Erfolge. Die Strahlentherapie begann also etwa zeitgleich mit den Röntgenuntersuchungen, brauchte aber viel länger, bis sie sich durchsetzte.
Nachdem die Welt die ersten Dampflokomotiven, Telegrafen, Fotoapparate, Ozeandampfer, Luftschiffe, Automobile, Stromleitungen und Glühbirnen gesehen hatte, eröffnete die Röntgenstrahlung plötzlich einen völlig neuen Blick in das Innere der Materie. Dafür erhielt Röntgen den ersten Nobelpreis für Physik im Jahr 1901.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass seine Entdeckung am Anfang einer kulturellen und wissenschaftlichen Revolution stand. Zur damaligen Zeit gab es sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft einen Wandel, bei dem man die bis dahin geltenden Gesetze hinter sich ließ und völlig Neues hervorbrachte.
In der Physik entstand die Relativitätstheorie, die mit den bisherigen Vorstellungen von Raum und Zeit brach, sowie die Quantenmechanik, welche das naturwissenschaftliche Verständnis von Materie und Kausalität umwälzte. Gleichzeitig entwickelten Künstler um die Jahrhundertwende zahlreiche moderne Stile wie den Expressionismus, die mit vorherrschenden Gewohnheiten brachen. Vielleicht war es auch der neue »Röntgenblick«, der den ein oder anderen Wissenschaftler oder Künstler dazu inspirierte, ganz neue Sichtweisen und Ausdrucksformen zu suchen.
Der Ruhm und der öffentliche Rummel um seine Person wurden Röntgen schnell zu viel. Zudem verschlechterte sich die Gesundheit seiner schon lange kränkelnden Frau zunehmend, so dass er sich immer mehr aus der Öffentlichkeit zurückzog, um sich um sie zu kümmern. Nie wieder gab er einen großen öffentlichen Vortrag – nicht einmal zur Vergabe seines Nobelpreises, obwohl das laut Statuten vorgesehen ist.
Über die nach ihm benannten Strahlen verfasste er nur noch zwei weitere Aufsätze und wandte sich stattdessen anderen Dingen zu. Röntgen schrieb seinem Freund und Schweizer Kollegen Ludwig Zehnder: »Mir war nach einigen Tagen die Sache verekelt; ich kannte aus den Berichten meine eigene Arbeit nicht wieder.«
Doch der Rest der Welt war geradezu verrückt nach den neuen Strahlen. Der neuseeländische Experimentalphysiker Ernest Rutherford schilderte seine Erinnerungen an diese Zeit: »Jedes Labor auf der Welt holte damals seine alten Vakuumröhren hervor, um Röntgenstrahlen zu produzieren.« Zum Beispiel entdeckte Henri Becquerel die radioaktive Strahlung, und Joseph Thomson konnte erstmals ein Elektron experimentell nachweisen.
Röntgen beobachtete diese Entwicklungen lieber aus der Ferne. Allgemein galt er als introvertierter und großzügiger Mensch, der sich wohlfühlte, wenn er in Ruhe forschen und sich im kleinen Kreis mit vertrauten Menschen austauschen konnte. Er verzichtete darauf, Patente auf seine Arbeiten anzumelden. Seiner Ansicht nach sollte eine so wichtige Sache dem Wohl der Menschheit dienen und nicht den Reichtum eines Einzelnen mehren. Auch das Preisgeld, das ihm der Nobelpreis einbrachte, spendete er seiner Universität.
Das sollte sich Jahre später rächen: In den 1920er Jahren war Röntgen praktisch pleite. Die Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg hatte auch den weltberühmten Wissenschaftler ruiniert. Dank seiner Beamtenstellung erhielt er allerdings ausreichende Pensionszahlungen, von denen er seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte.
1923 starb Röntgen an Darmkrebs. Aus Sicht von Wissenschaftshistorikern ist es unwahrscheinlich, dass die Erkrankung mit seiner wissenschaftlichen Arbeit zusammenhängt. Im Gegensatz zu anderen Forschern seiner Zeit experimentierte er vergleichsweise vorsichtig mit der nach ihm benannten Strahlung und schirmte sie etwa mit Bleiplatten ab. Außerdem arbeitete er mit nicht allzu energiereichen Strahlen – und selbst das nur über einen begrenzten Zeitraum.
Röntgen-Rummel mit Folgen
Vielen anderen erging es schlechter. In den frühen Jahren des »Röntgen-Rummels« wusste man noch nicht, dass ionisierende Strahlung unter anderem Krebs, genetische Mutationen oder (bei besonders hohen Dosen) auch Verbrennungen und Augenschäden hervorrufen kann. Hunderte von Technikern und Patienten, die in den Anfangsjahren mit der Röntgenstrahlung zu tun hatten, erkrankten an Krebs.
Selbst als bekannt war, dass man mit Röntgenstrahlen vorsichtig umgehen sollte, nahmen viele die Sicherheitshinweise nicht ernst. So konnte man noch bis in die 1970er Jahre in einigen Läden mit Röntgenlicht überprüfen, ob Schuhe richtig passen. Solche Geräte lieferten dabei teilweise die 1000-fache Dosis von modernen Röntgenapparaten.
Wilhelm Conrad Röntgen erhielt nicht nur zahlreiche Auszeichnungen; nach ihm sind zudem etliche Preise, ein Asteroid sowie das Element 111 (Röntgenium) benannt. Bescheiden blieb er bis zum Schluss: In seinem Testament verfügte der Forscher, dass seine gesamte persönliche und wissenschaftliche Korrespondenz vernichtet werden sollte – was auch geschah.
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