Ernährung und Erbgut: »Mediziner wissen oft nichts davon«
Spektrum.de: Frau Professor Mansuy, ist es verantwortungslos gegenüber meinen künftigen Enkeln, kein Olivenöl und keine Nüsse zu essen?
Isabelle Mansuy: Wir sind alle verantwortlich für unsere Gesundheit.
Sie empfehlen in Ihrem neuen Buch eine epigenetische Diät, die nicht nur dem eigenen Körper, sondern auch unseren Nachkommen zugutekommen soll. Kann ich der Gesundheit meiner künftigen Kinder, Enkel und Urenkel schaden oder nützen durch das, was ich heute esse?
Während der vergangenen 15 Jahre haben viele Studien Verbindungen zwischen bestimmten Nährstoffen und epigenetischen Änderungen nachgewiesen. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Menschen, die einer Hungersnot ausgesetzt waren, später im Leben ein größeres Risiko für metabolische und kardiovaskuläre Krankheiten, Fettleibigkeit und eine höhere Sterblichkeit haben. Das betraf auch deren Kinder und Enkelkinder, und dieser Effekt wurde ebenfalls an Mäusen und Ratten belegt.
Wie erklären Sie diese direkte Vererbung, die auf Lebensereignisse statt auf Mutationen zurückgeht?
Anders als man lange Zeit glaubte, sind es nicht allein die Gene, die unsere Eigenschaften bestimmen. Tatsächlich sind wir alle stark von dem beeinflusst, was uns umgibt, also den Erfahrungen, die wir machen, der Nahrung, die wir aufnehmen, der Luft, die wir atmen, den Gefühlen, die wir empfinden. All diese Faktoren können chemische Veränderungen an unserer DNA hervorrufen, die vererbbar sind: so genannte Methylierungen, Histonmodifikationen und Veränderungen der RNA im Zellkern (Anm. d. Red.: Siehe »Das Epigenom«).
Aber braucht man im Beispiel der Hungersnot wirklich die Epigenetik, um die Auswirkungen auf die Nachkommen zu erklären? Wenn eine Schwangere, bei deren Säugling die Keimbahn bereits angelegt ist, Hunger leidet, sind doch bereits die Zellen dreier Generationen direkt davon betroffen.
Das stimmt. Aber es waren auch Menschen in die Studien eingeschlossen, die zur Zeit der Hungersnot noch Kinder waren. Auch bei deren Enkeln – von deren Zellen also keine exponiert war – haben sich die Auswirkungen gezeigt. Bei Mäusen haben Wissenschaftler sogar eine dritte und vierte Generation jener Tiere gezüchtet, die sehr fetthaltig ernährt wurden. Diese Nachkommen zeigten die gleichen Symptome, obwohl keine ihrer Zellen direkt betroffen war.
Sie raten zu Olivenöl, um die Gene so zu beeinflussen, dass die Nachkommen keine Arteriosklerose entwickeln. Weiß man dazu wirklich schon genug?
Viele Experimente haben gezeigt, dass Extrakte von Olivenöl oder Brokkoli die Aktivität von Genen beeinflussen – in der Zellkultur und bei Tieren. Es gab sogar eine Studie, in der man Menschen gebeten hat, viel Brokkoli zu essen, und dann die Methylierung von deren Erbsubstanz überprüft hat. Dutzende, wenn nicht Hunderte von Studien haben gezeigt, dass die Ernährung die Methylierung beeinflussen kann.
Man isst doch so viel Verschiedenes, wie soll man da den Effekt von einem einzelnen Lebensmittel feststellen?
Schwierig, das stimmt. Aber diese Studien werden durch Daten aus Tierexperimenten gestützt. Man nimmt 50 Mäuse, die alle ein identisches Genom haben, und füttert die eine Hälfte mit Brokkoli, die andere mit fettreicher Kost. Danach schaut man sich Blut, Leber, Gehirn und andere Gewebe an, die man interessant findet. Wenn man alle anderen Parameter kontrolliert und die Tiere ansonsten das gleiche Leben führen, kann man recht sicher sein, dass die Unterschiede auf der Ernährung beruhen.
»Wir liefern eine Erklärung dafür, warum es günstig ist, ganz bestimmte Speisen zu sich zu nehmen«
Wozu braucht es die epigenetische Diät, die Sie in Ihrem Buch empfehlen? Sie entspricht weitgehend dem, wozu die Ernährungswissenschaft ohnehin rät: einer mediterranen Kost.
Mit einigen Unterschieden, zum Beispiel Brokkoli zu essen und grünen Tee zu trinken, wegen der darin enthaltenen Polyphenole und Sulforophane. Diese Substanzen, »Methylgeber« genannt, sind dafür bekannt, dass sie direkt am Epigenom ansetzen. Es ist natürlich nicht neu, dass Gemüse gesund ist. Aber wir liefern eine Erklärung dafür, warum es günstig ist, ganz bestimmte Speisen zu sich zu nehmen.
Kann man es mit der epigenetischen Diät auch übertreiben?
Wenn man zu viel Brokkoli oder grünen Tee zu sich nimmt, ist das auch nicht gesund. Krebs zum Beispiel ist durch ein Zuviel an Methylierung gekennzeichnet. Manche Gene will man methyliert, andere lieber demethyliert haben. Es gibt Nahrungsbestandteile, die eher das eine oder das andere stärken. Aber generell können Methylgeber helfen, den Körper ausgewogen zu ernähren. Es gibt genügend Menschen, die gar kein frisches Gemüse essen.
Das Epigenom
Die Epigenetik untersucht, wie die Umwelt unser genetisches Programm beeinflussen kann. Die Erbinformation selbst wird dabei nicht verändert. Epigenetische Faktoren oder Regulatoren bilden das Epigenom: alle epigenetischen Veränderungen, die die Aktivität beziehungsweise das Ablesen der Gene beeinflussen können. Sie gehen unter Umständen an die Kinder über, verschwinden aber vermutlich nach wenigen Generationen wieder.
Eine mögliche epigenetische Veränderung ist die DNA-Methylierung: An der DNA anhängende Methylgruppen können das Ablesen der Erbinformation verhindern, die Gene also an- oder abschalten. Die Anhängsel dienen als epigenetische Marker des Genoms. Neben der DNA können auch die Histone und die im Zellkern enthaltene RNA (Ribonukleinsäure) epigenetische Informationen übertragen. Histone sind Proteinkomplexe, um die das Erbgut gewickelt ist, und Histonmodifikationen sind chemische Veränderungen der Histone, die den Verpackungsgrad der DNA verändern und so die Transkription beeinflussen. Aktive Gene werden in so genannte Boten-RNA umgeschrieben, und durch diesen Transkription genannten Vorgang bekommt die Zelle die Bauanleitung für Proteine. Vererbte regulatorische RNA-Moleküle können den Prozess der Proteinsynthese blockieren. (eli)
Die Lehrmeinung besagt allerdings, dass die epigenetischen Marker ohnehin wieder gelöscht werden.
Das ist falsch, wie wir heute wissen. Die meisten DNA-Methylierungen und Histonmodifikationen werden gelöscht, zweimal sogar: in den Keimzellen und dann noch einmal im Embryo. Aber 10 bis 15 Prozent bleiben bestehen. Zusätzlich ist auch noch die RNA in den Keimzellen in die Vererbung eingebunden – und diese wird überhaupt nicht reprogrammiert.
RNA ist normalerweise die Erbinformation, in welche aktivierte DNA umgeschrieben wird. Wie kommt sie in Spermien?
Dass es überhaupt RNA in Spermien gibt, ist eine neue Entdeckung. Das Spermium hat ja nur die Aufgabe, die Erbinformation zur Eizelle zu bringen. Deshalb ist die DNA dort stark verpackt und inaktiv; es wird keine RNA gebildet. Im Inneren der Spermien handelt es sich um RNA, die aus den vorhergehenden Stadien der Keimzellentwicklung stammt. Diese RNA ist sehr sensibel gegenüber Umwelteinflüssen wie Alkohol, Drogen, Ernährung und Umweltgiften, insbesondere in Kindheit und Jugend.
Dass diese RNA vorhanden ist, heißt aber noch nicht, dass sie epigenetische Veränderungen bei den Nachkommen hervorrufen kann.
Wir haben zum Beispiel aus dem Sperma von traumatisierten Mäusen RNA extrahiert und in befruchtete Eizellen injiziert. Die Nachkommen entwickelten Symptome eines Traumas, ohne je einem solchen ausgesetzt gewesen zu sein. Die Sperma-RNA selbst reicht aus, um die Symptome in Nachkommen auszulösen.
Aber es sind immer noch Mäuse …
Wir haben auch Befunde an Menschen. Mein Team kooperiert mit einem Labor in Pakistan, das Fertilitätschecks durchführt. Wir fragen Männer, die sich dort untersuchen lassen, ob sie einen Fragebogen zu ihrer Kindheit ausfüllen möchten. 100 haben bereits teilgenommen. Ein Drittel hat keinerlei traumatische Erfahrungen. Ein Drittel hat vor dem 17. Lebensjahr mindestens ein Trauma erlebt und ein weiteres Drittel mehrere schwere Traumata. Wir haben ihre Proben analysiert, und einige epigenetische Marker waren so verändert wie in unseren traumatisierten Mäusen. Dabei war die Veränderung umso stärker, je schwerer das Trauma gewesen war.
»Wenn sich Menschen sehr fetthaltig ernähren, sind im Blut epigenetische Veränderungen messbar, die noch Wochen andauern«
Was bringt es uns zu wissen, dass wir Krankheiten epigenetisch vererbt bekommen?
Für viele komplexe Krankheiten hat man keine genetischen Ursachen gefunden. Zwillinge etwa haben das gleiche Genom, aber manchmal wird der eine krank und der andere nicht. In diesen Fällen kann man davon ausgehen, dass epigenetische Faktoren verantwortlich sind. Aber Ärzte wissen leider oft nichts davon. Es wird mehr Zeit brauchen, bis die Erkenntnisse durchdringen.
Dass Umwelteinflüsse Krankheiten verursachen können, ist nicht neu – braucht es die Epigenetik, um das zu erklären?
Es gibt eine Menge Beweise, dass Umweltgifte, Alkohol, Rauchen und Drogen das epigenetische Profil im Blut und im Speichel verändern. Auch wenn Menschen sich sehr fetthaltig ernähren, sind im Blut epigenetische Veränderungen messbar, die noch Wochen andauern, auch wenn sie ihre Essgewohnheiten ändern.
Das ist nur eine Korrelation, kein Kausalzusammenhang.
Bei Menschen ja, da lässt sich das nicht anders zeigen. Deshalb machen wir Tierexperimente, in denen wir alles kontrollieren können. Unsere Mäuse haben alle exakt das gleiche Genom. In diesen Tieren müssen Unterschiede auf epigenetische Veränderungen zurückzuführen sein.
»Menschen mit Depressionen leiden oft unter Schuldgefühlen. Der Gedanke, dass sie vielleicht eine familiäre Last tragen, hilft ihnen«
Viele haben schon genügend eigene Probleme – wenn man jetzt auch noch die seiner Vorfahren aufarbeiten muss und für kommende Generationen verantwortlich ist, wird das ein bisschen viel, finden Sie nicht?
Wenn mir gesagt würde, es gab ein Problem bei Ihren Vorfahren und jetzt haben Sie diese Last zu tragen – das wäre keine gute Neuigkeit. Aber viele Menschen leiden unter psychischen Störungen und versuchen zu verstehen, was mit ihnen los ist. Vor allem Menschen mit Depressionen leiden oft unter Schuldgefühlen. Der Gedanke, dass sie vielleicht eine familiäre Last tragen, hilft ihnen. Ich hoffe, die epigenetischen Erkenntnisse helfen, das Stigma zu beseitigen.
Was konkret kann man als Patient damit anfangen, wenn man erfährt, dass man eine Störung geerbt hat?
Von traumatisierten Mäusen wissen wir, dass sie sehr von einer günstigen Umwelt profitieren. Käfige mit Raum zum Spielen und Austoben, Gruppen und eine gute Ernährung können die Folgen des Traumas mildern. Es gibt Hoffnung, dass epigenetische Veränderungen reversibel sind, sogar bei schweren Traumata. Das bedeutet: Mit dem Epigenom haben wir die Möglichkeit, etwas zu ändern.
Für Menschen müsste man also nur das Äquivalent zu einem tollen Käfig finden?
Wir müssen Körper und Geist als Ganzes betrachten. Ein Trauma kann zum Beispiel eine Stoffwechselkrankheit erklären. Und bei psychischen Störungen kommt es nicht nur auf die Stimmung, sondern auch auf das soziale Umfeld, die Ernährung und vieles mehr an. Viele Mediziner und Psychiater verschreiben Medikamente, ohne verstehen zu wollen, was für ein Problem die Patienten haben. Psychologen sind in diesem Punkt besser, weil sie den Menschen in seiner Komplexität zu verstehen versuchen. Ich halte Psychotherapie für effizienter als Psychopharmaka.
Kann Psychotherapie das Epigenom verändern?
Das wissen wir noch nicht sicher, aber ich glaube daran. Schüttet das Gehirn Stresshormone aus, schadet das dem gesamten Körper. Psychotherapie beinhaltet Selbstreflexion, Versuche, das Leben zu ändern, Frieden mit sich selbst zu machen, positiv zu denken und zu handeln. All das ist Hirnaktivität und verändert auch den Körper.
Hat auch das Altern mit epigenetischen Veränderungen zu tun?
Das Epigenom ändert sich während des Lebens. Es gibt 300 epigenetische Marker, mit denen man das Alter einer Person sehr präzise bestimmen kann. Aber es gibt Menschen, die epigenetisch jünger sind als nach ihrem Geburtsdatum. Wir können das Altern verlangsamen, wenn wir Sport treiben, nicht rauchen und keinen Umweltgiften ausgesetzt sind.
Wie spät ist es auf Ihrer epigenetischen Uhr?
Ich achte sehr darauf, was ich esse, mache jeden Tag Sport – ich versuche gesund zu leben. Aber ich habe noch nie mein epigenetisches Alter bestimmen lassen.
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