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Ernährung: »Von Pulvern und Extrakten aus Superfoods rate ich ab«

Leinsamen statt Chia, Hafer statt Quinoa – »heimische Samen und Früchte stehen exotischen Superfoods in nichts nach«, sagt die Ernährungswissenschaftlerin Angela Clausen im Interview. Im Gegenteil: Sie sind oft besser für Körper und Umwelt.
Das eine Lebensmittel, das dem Körper alles geben kann, was er braucht, gibt es nicht – auch wenn es »Superfood« heißen mag.

Das eine Lebensmittel, das dem Körper alles geben kann, existiere nicht, sagt die Ernährungswissenschaftlerin Angela Clausen. Inwiefern »Superfoods« also mehr versprechen, als sie halten, und warum die Lebensmittel gar schädlich sein können, erklärt die Mitarbeiterin der Verbraucherzentrale NRW e. V. im Interview. Auch gibt sie Tipps für heimische Alternativen zu Chia, Quinoa und Acai.

»Spektrum.de«: Warum führt der Begriff »Superfood« in die Irre?

Angela Clausen: Weil er andeutet, es handle sich um ein Lebensmittel, das bessere Eigenschaften hat als andere. Mancher kommt gar auf die Idee, die Ernährung wäre perfekt, würde er bloß Chia, Goji oder Granatapfel essen. Doch eine gute Ernährung setzt sich aus vielen verschiedenen Lebensmitteln mit einer Vielfalt an Nährstoffen zusammen. Das eine Lebensmittel, das dem Körper alles geben kann, was er braucht, gibt es – mit Ausnahme von Muttermilch für eine gewisse Zeit – nicht.

Angela Clausen | Die Ökotrophologin ist seit dem Jahr 2000 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Verbraucherzentrale NRW. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Nahrungsergänzungsmittel, funktionelle Lebensmittel sowie Health Claims.

Dabei machen die Nährwerte von Gojibeeren oder Chiasamen einen guten Eindruck. Sie enthalten viele Vitamine, Mineralstoffe oder sekundäre Pflanzenstoffe wie Antioxidanzien. Das klingt doch sehr gesund?

Klingt erst mal ganz gut, ja. Aber es ist wichtig, andere Früchte und Nüsse aus heimischem Anbau im Vergleich zu sehen. Die schneiden diesbezüglich oft nicht schlechter ab. Es ist zudem eine Frage der Menge. Von Chia ist oft zu hören, die Samen enthielten mehr Kalzium als Milch. Aber wenn ich maximal 15 Gramm Chia am Tag esse – mehr sollte es laut Novel-Food-Zulassung nicht sein –, bekomme ich deutlich weniger Kalzium, als wenn ich ein Glas Milch trinke.

Stichwort »Transport«: Die meisten vermeintlichen Superfoods sind exotische Lebensmittel, die Deutschland importiert. Daher wage ich zu behaupten, im Jahr kiloweise Goji oder Chia zu essen, wirkt sich negativ auf die Umwelt aus.

Alles, was wir von weit her transportieren, beeinflusst die Umwelt negativ. Wie stark, hängt auch von der Art des Transports ab: Trockenes Pulver hinterlässt einen geringeren CO2-Fußabdruck als tiefgekühltes Püree oder gekühlte ganze Früchte an Bord von Schiffen. Noch problematischer sind Flugtransporte. So haben beispielsweise Avocados eine ganz schlechte Ökobilanz.

»Mit steigender Nachfrage aus dem superfoodhungrigen Ausland muss zumeist die Natur in den oft ärmlichen Anbauregionen weichen«

Und wie steht es um die Anbaubedingungen vor Ort?

Das kommt auf die Pflanzen an. Avocados zum Beispiel sorgen in den Anbauländern – Mexiko und Israel etwa – für erhebliche Umweltprobleme wegen des hohen Wasserbedarfs. Wasser, das in vielen Regionen vor Ort rar ist und für die Bevölkerung dann nicht mehr zur Verfügung steht. Von anderen so genannten Superfoods ist mir das so nicht bekannt, wohl aber aus dem Tomaten- und Erdbeeranbau in Spanien. Fest steht: Mit steigender Nachfrage aus dem superfoodhungrigen Ausland muss zumeist die Natur in den oft ärmlichen Anbauregionen weichen, zum Beispiel in den Anden. Die Pflanzen wachsen häufig als reine Monokulturen auf riesigen Feldern, die kleinen Landwirte werden verdrängt, und eine mit der Zeit fast schon industrielle Landwirtschaft nutzt große Mengen Kunstdünger und Pestizide, die den Lebensmitteln sowie der Umwelt zusetzen. Denken Sie nur an die gleichförmigen Sojafelder in Brasilien, für die Cerrado-Savannen mit all ihrer Vielfalt verschwinden. Anderswo müssen artenreiche Regenwälder für die Landwirtschaft weichen.

Was importiert wird, ist häufig mit mehr Chemie belastet als regionale Produkte. Trifft das für Superfoods ebenso zu? Die gibt es schließlich auch mit Biolabel.

Ja, sei es Moringa, Goji, Chia oder Ähnliches. Das zeigen diverse Prüfungen durch die Lebensmitteluntersuchungsämter. Das kann schon mal über die erlaubten Höchstmengen hinausgehen, oder es finden sich zahlreiche Pestizide auf einmal. Bei Moringa wurden in einem Produkt bis zu 13 verschiedene Pestizide gefunden.

Ist das deutlich mehr als im Vergleich zu regionalen Produkten?

Das europäische Recht gilt zwar genauso für Lebensmittel aus dem Nicht-EU-Ausland, aber Lebensmittel aus europäischen Ländern lassen sich leichter kontrollieren, vor allem im Biobereich. Wie Sie sagen, gibt es einige exotische Bioprodukte. Doch vor allem bei Superfood aus China – Gojibeeren zum Beispiel – bestanden immer mal wieder wegen der gemessenen Pestizidbelastung erhebliche Zweifel, ob es sich tatsächlich um Bioware handelt. Und Sie dürfen nicht vergessen: Es gibt wild gesammelte Pflanzen, die als Bioprodukte gelten, aber es lässt sich außerhalb Europas kaum nachverfolgen, wo die Wildsammlung stattfindet und unter welchen Bedingungen.

Ist manch angeblich supergesundes Lebensmittel also womöglich gesundheitsgefährdend?

Es gibt bisweilen Unverträglichkeitsreaktionen: Juckreiz, Hautausschlag, Durchfall, aber auch Atemnot. Das haben viele, die in Asien oder Afrika unterwegs waren und dort Exotisches probiert haben, schon erlebt. Oder denken Sie an Erdnüsse, auf die einige Menschen heftig reagieren.

»Menschen mit einer Pollenallergie reagieren oft gleichzeitig auf gewisse andere Nahrungsmittel«

Menschen mit einer Pollenallergie reagieren oft gleichzeitig auf gewisse Nahrungsmittel, weil die Eiweiße der betreffenden Lebensmittel denen des ursprünglichen Allergens gleichen; solche werden Kreuzreaktionen genannt. Allergien treten besonders häufig bei Lebensmitteln mit einem höheren Eiweißanteil auf, Samen und Nüssen beispielsweise. Oder bei Shiitakepilzen, die eiweißreich sind. Und natürlich auch bei tierischen Lebensmitteln wie Insekten oder Meeresfrüchten, die bei einigen durchaus auch als Superfoods gelten. Unverträglichkeitsreaktionen können aber jede Frucht betreffen, Kiwis oder Mangos etwa.

Wenn jemand Möchtegern-Superfood probieren möchte, dann besser nur in Maßen?

Ernährungsphysiologisch betrachtet sollte ein Lebensmittel so frisch und unverarbeitet wie möglich sein. Schon allein deshalb rate ich von Pulvern, Extrakten aus Superfoods oder damit angereicherten Nahrungsergänzungsmitteln ab. Allerdings auch, weil in ihnen oft konzentrierte Mengen verschiedenster Inhaltsstoffe stecken, die dann für den Körper allein schon auf Grund der Menge einfach zu viel sind. »Das Beste aus einem Kilo Gemüse«, heißt es gern. Und dann sind in dem Produkt 50 verschiedene Gemüse, Früchte, Kräuter und Gewürze mit hohem technologischem Aufwand verarbeitet. Vielfalt ist gut, aber zu viel Vielfalt auf einmal kann vor allem zu Anfang problematisch sein, weil sie Körper, Verdauung und Stoffwechsel einfach überfordet.

Was ist mit unerwünschten Reaktionen auf Medikamente?

Inhaltsstoffe der Früchte und Samen können die Wirkung von Arzneimitteln verstärken, hemmen oder blockieren. Gojibeeren beispielsweise sorgen schon in so geringen Mengen wie in Marmelade zu Wechselwirkungen mit Blutgerinnungshemmern wie Marcumar oder Coumadin. Wer solche Mittel nimmt, sollte keinerlei Goji-Produkte essen. In anderen Fällen blockieren Inhaltsstoffe Enzyme, die helfen, Medikamente abzubauen. Insbesondere kennen wir das von der Grapefruit und anderen Früchten mit einem hohen Anteil von Bioflavonoiden, Bitterorange, Pampelmuse und Sternfrucht etwa. Granatapfel oder Ginseng können unkontrollierbar wirkungsverstärkend wirken. Es geht bei dieser Frage also längst nicht nur um die Risiken vermeintlicher Superfoods. Da fehlt es leider noch an Aufklärung.

Wovor möchten Sie warnen?

Dass Patientinnen und Patienten Medikamente nach Lust und Laune einnehmen. Sie sollten sich strikt an die Vorgaben halten. Wenn ein Antibiotikum eine halbe Stunde vor dem Essen genommen werden soll, dann ist es eine halbe Stunde vor dem Essen zu nehmen. Und auch nicht mit Milch, kalziumreichem Mineralwasser oder gar einer Kalziumbrausetablette, sondern mit Leitungswasser. Auch sollte niemand seine Schilddrüsentabletten mit besonders eisenhaltigem Beerensaft schlucken.

Medikamente und Lebensmittel gehören nicht vermischt. Das gilt umso mehr, wenn ich Pflanzenextrakte zu mir nehme, weil diese besonders intensive Wechselwirkungen verursachen können.

Also ist die Superwirkung von, sagen wir, Grapefruitkapseln doch kein reines Werbeversprechen?

Alles hat eine Wirkung. Aber das legitimiert keine Wirkversprechen – also Werbung – mit Blick auf die Gesundheit und schon gar keinen Krankheitsbezug. Erlaubt sind nur Aussagen, die wissenschaftlich bewiesen sind – sofern die festgelegten Voraussetzungen zutreffen. Etwa: »Dieser Apfel enthält ungeschält zirka 16 Milligramm Vitamin C. Vitamin C wird benötigt für ein normales Immunsystem.« Die EU legt solche Gesundheitsslogans gesetzlich fest. Bisher gibt es aber nur sehr wenige zugelassene für Pflanzenstoffe, so zum Beispiel für Walnüsse – Verbesserung der Elastizität der Blutgefäße – und bestimmte Ballaststoffe aus Hafer und Gerste – normaler Cholesterinspiegel, weniger starker Anstieg des Blutzuckerspiegels nach dem Essen –, nicht aber für Acai oder Brennnessel. Und ein erlaubter »Health Claim« heißt nicht, dass die damit beworbenen Lebensmittel sinnvoll oder notwendig sind. Es könnten auch mit Vitamin C angereicherte Bonbons sein.

»Letztlich ist eine getrocknete Gojibeere wie eine Rosine, und eine Acai ähnelt mit ihrem hohen Fettgehalt einer roten Olive«

Wenn ich dennoch unbedingt die exotischen Samen und Beeren essen möchte, weil Gojibeeren etwa außergewöhnlich schmecken …

Haben Sie die mal gegessen?

Ja. Aber ich bin kein Fan.

Verstehe ich. Spannend ist der Geschmack doch nun wirklich nicht! Letztlich ist eine getrocknete Goji-Beere wie eine Rosine, und eine Acai ähnelt mit ihrem hohen Fettgehalt einer roten Olive. Erst die drum herum konstruierte Geschichte macht Superfood spannend. Und die Farben. Neuerdings ist ja alles quietschgelb mit Kurkuma.

Stimmt. Der Inhaltsstoff Curcumin soll Entzündungen hemmen, Darmbeschwerden lindern und beim Abnehmen helfen – alles nicht bewiesen, dennoch ist das Gewürz beliebt. Um also meine Frage von eben fortzuführen: Wenn ich trotz allem unbedingt Gojibeeren oder Avocados regelmäßig essen möchte, könnte ich sie nicht einfach selbst anbauen, um möglichst viel Kontrolle zu haben?

Gojibeeren können Sie problemlos anbauen, das ist der Gemeine Bocksdorn, auch Wolfsdorn genannt. Davon pflanzen Sie einfach einen Busch in den Garten, ernten die Beeren und trocknen diese sorgfältig, so dass kein Schimmel entsteht. So wie bei Rosinen oder Sauerkirschen. Auch manche Kiwisorte wächst in Deutschland. Exotisches hier anzubauen ist insgesamt oft aufwändiger, weil es eine gewisse Luftfeuchtigkeit und Wärme braucht. Cranberries funktionieren hier zu Lande ebenfalls. Avocados hingegen tun sich ziemlich schwer. Und überhaupt erzielen Sie bei all diesen Gewächsen gewiss ein schlechteres Ernteergebnis als die Landwirte vor Ort. Jede Pflanze hat halt ihren Lieblingsraum.

Welche heimischen Alternativen gibt es?

Zahlreiche. Und zwar zu allen Jahreszeiten. Heimische Samen und Früchte stehen exotischen Superfoods in nichts nach. Schwarze Johannisbeeren oder Heidelbeeren machen sich frisch oder getrocknet ebenso gut im Müsli wie Gojibeeren. Warum nicht einfach mal Grünkohl oder Spinat an Stelle von Moringablättern essen? Oder Hafer statt Quinoa? Anthocyane, für die Acai gefeiert wird, stecken auch in Rotkohl, Sauerkirschen und Aroniabeeren. Leinsamen – zugegeben nicht ganz heimisch, weil meist aus Osteuropa – enthält viele Omega-3-Fettsäuren, da braucht es keine Chiasamen. Walnüsse wiederum haben sogar einen höheren Gehalt an ungesättigten Fettsäuren als Avocados. Rosenkohl, Brokkoli, Feldsalat – alles enthält besondere Inhaltsstoffe. Wichtig ist, sie nicht einzeln herauszustellen, sondern in Kombination zu sehen. Auch mit anderen Lebensmitteln.

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