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Serie: Frauen, die die Welt verbessern: Traumafängerin in Ruanda

28 Jahre nach dem Genozid an der Tutsi-Minderheit in Ruanda zeigt sich, wie Traumata von Generation zu Generation weiterwirken. Die Forscherin und Therapeutin Thérèse Uwitonze entwickelt Methoden, um in einem der ärmsten Länder der Welt seelische Verletzungen zu behandeln.
Gruppentherapie Energieübung
Die Therapeutin Thérèse Uwitonze setzt auf die Heilkraft der Verbundenheit untereinander. Dabei nutzt sie auch stärkende Körper-, Atem- und Meditationsübungen. Das Bild zeigt eine Klientin während einer Gruppensitzung.

Man nannte sie immer nur Umusazi, die Verrückte. Damals, im Dorf. Jetzt ergreift Claudine das Mikrofon. Sie steht aufrecht. Sie spricht mit kräftiger Stimme. Ihr Gesicht wirkt offen, ihre Augen strahlen. Die Survivors, die Überlebenden, hören ihr gebannt zu, überrascht auch. Ist das noch dieselbe Claudine, die schrie und fluchte und um sich schlug, wenn sich ihr jemand näherte? Die einmal, als alle um ein rituelles Feuer standen, das an den Genozid erinnerte, eine Frau in die Flammen stieß? Die jahrelang nicht mehr atmen wollte, weil jeder Atemzug nach Blut schmeckte? Die nachts von Albträumen geschüttelt wurde, mit zerstückelten Körpern, die sie als Siebenjährige sah, auf der Flucht vor den Männern, für die sie nur eine der »Schlangen« war, die man erschlagen muss? Ja, das ist dieselbe Claudine. Und eine ganz andere.

Die Welt besser machen: 12 Frauen, 12 Ideen

BurdaForward ist einer von drei deutschen Empfängern eines Stipendiums für konstruktiven Journalismus. Im Rahmen des internationalen Projekts »Solutions Journalism Accelerator« setzt BurdaForward von September 2022 bis August 2023 zusammen mit der renommierten Reportage-Agentur »Zeitenspiegel« 12 Multimedia-Produktionen um, die auf den Seiten von »FOCUS Online«, »Bunte.de«, »Chip.de« und »Spektrum.de« veröffentlicht werden. Die Serie trägt den Namen »Die Welt besser machen: 12 Frauen, 12 Ideen« und stellt die Arbeit von Wissenschaftlerinnen aus dem Globalen Süden vor, die mit ihrem Team an Lösungen für große Probleme der Menschheit forschen. Es geht dabei um die ersten sechs der so genannten »Sustainable Development Goals« der UN: keine Armut, kein Hunger, gute Gesundheit und Wohlbefinden, gute Bildung, Gendergleichheit, sauberes Wasser und sanitäre Einrichtungen. Auf »Spektrum.de« erscheinen ausgewählte Texte in unregelmäßigen Abständen. Das Projekt wurde vom European Journalism Centre durch den Solutions Journalism Accelerator finanziert. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt.

Claudine beim Welttag für psychische Gesundheit | Als Siebenjährige wurde sie während des Genozids schwer traumatisiert. Nach 30 Sitzungen mit der Therapeutin Thérèse Uwitonze fühlt sie sich geheilt. Heute ist sie 37 Jahre alt und allein erziehende Mutter von vier Kindern.

30 Survivors sind ihre Erfolgsgeschichte

In Reihen sitzen die Survivors auf Holzstühlen vor ihr. Die meisten sind Frauen, gekleidet in farbensatte Kleider und Kopftücher. Wie Claudine haben sie einen weiten Weg hinter sich. Den Genozid der Hutu an der Tutsi-Minderheit 1994 haben sie überlebt. Aber sie haben in den Massakern Kinder verloren, Eltern, Geschwister, Partner, ihre Häuser, ihre Kühe. Und ihre Hoffnung. Wie Claudine wurden sie jahrelang von Depression, Albträumen und Selbstmordgedanken gequält. Bis sie Thérèse trafen.

Thérèse Uwitonze, 46, ist auf die Heilung von Traumata spezialisiert. Kräftige Statur, zupackende Art, eine geduldige Zuhörerin. Sie hat an der University of Rwanda zu Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD) und familiärer Gewalt geforscht. Mit theoretischem Wissen wollte sie sich nicht zufriedengeben. Als klinische Psychologin, die seelische Störungen als Folgen von Traumata behandelt, ist sie eine Pionierin in Ruanda. Jede einzelne, jeder einzelne der 30 Survivors, die am »Welttag für psychische Gesundheit« zusammengekommen sind, ist auch eine ihrer Erfolgsgeschichten. Claudine steht vorne und dankt ihr im Namen aller.

Anteil an Traumatisierten in Ruanda weltweit am höchsten

Das Land bräuchte tausende Heilerinnen wie sie. Nirgendwo auf der Welt ist der Anteil Traumatisierter so hoch wie in Ruanda. 80 Prozent der 13 Millionen Einwohner hatten mindestens ein traumatisches Erlebnis. Vier Millionen leiden an PTSD. Für sie stehen jedoch nur 13 Psychiater bereit, und von den so genannten klinischen Psychologen wissen nur wenige, wie Traumafolgen behandelt werden können. In ihrer Hilflosigkeit verschreiben sie Medikamente, die Patienten nur kurze Zeit ruhigstellen. Heilung geht anders.

Thérèse Uwitonze fand in ihren Studien heraus: Hauptursache der meisten seelischen Störungen ist der Genozid. Die Massaker von 1994 waren von der Hutu-Mehrheit durch unaufhörliche Hasspropaganda vorbereitet worden. Tutsis, die im Regierungssender als Schlangen und Kakerlaken bezeichnet wurden, sollten komplett vernichtet werden. Dazu wurden drei Millionen Macheten gekauft und verteilt.

Die Forscherin und Therapeutin Thérèse Uwitonze | In ihrem Behandlungsraum in Butare im Süden Ruandas nutzt sie Schaubilder, um Klientinnen und Klienten seelische Störungen und seelische Gesundheit zu erklären.

Traumatisierte traumatisieren andere

Es war ein Genozid aus nächster Nähe. Kollegen ermordeten Kollegen, Nachbarn im Dorf Nachbarn. Der entzündete Fanatismus ging so weit, dass der Mann einer von Thérèses Klientinnen (er Hutu, sie Tutsi) alle zehn Kinder erschlug, »damit sie nicht zu Kakerlaken werden«. Das ganze Land leidet bis heute unter diesem Albtraum. Die Survivors, deren Kinder und Enkel, die Täter, die teils jahrzehntelange Haftstrafen absitzen. »Wer Gewalt erfahren hat, neigt auch selbst zur Gewalt«, sagt Thérèse. Traumatisierte traumatisieren andere.

Mit Mobbing, Kindesmissbrauch, Schlägen für Ehefrauen bis hin zur Folter. Kinder, die nur Draufhauen gelernt haben, werden zu brutalen Tätern. Vor Kurzem wurde der Fall eines Sohnes bekannt, der im Erbschaftsstreit seinen Vater enthauptete. Thérèse spricht von »einem Kreislauf, der Seelen zerstört«.

Genozid wird in Therapie aufgearbeitet

Die wichtigste Erkenntnis aus ihrer eigenen Forschung: Heilung gelingt, wenn präzise diagnostiziert und die Heilmethode darauf abgestimmt wird. Bei Claudine entschied sie sich für die Narrative Expositionstherapie. Im Kopf einer schwer traumatisierten Person schwirren schockierende Erinnerungen chaotisch herum. In Flashbacks wird Vergangenes zur bedrohlichen Gegenwart. Überwältigung, immer wieder.

Im geschützten Raum der Therapie gelang es Thérèse und Claudine, den Horrortrip während des Genozids zu rekonstruieren. Wie sie, die Siebenjährige, vor den Horden der Hutu-Milizen floh. Wie sie von den Mitgliedern ihrer Familie getrennt wurde, die ermordet wurden; sie weiß bis heute nicht, wo ihre Leichen begraben sind.

Wie sie als Einzige den Beschuss des Waisenhauses in Burundi überlebte, in das sie sich mit anderen Kindern gerettet hatte. Wie Hutus sie zwangen, zuzusehen, als sie einer Schwangeren den Bauch aufschlitzten, und ihr befahlen, den blutigen Fötus in die Hände zu nehmen, um sie zu quälen. Alles wurde aufgeschrieben, alles klar der Vergangenheit zugeordnet, um die Dämonen dorthin zu verbannen.

Und wenn die Erinnerungen wiederkommen, fragte Claudine. Dann packst du sie in den Safe. Eine Imaginationsübung: Claudine sollte sich jedes belastende Erlebnis als einen Gegenstand vorstellen, den sie in einem Safe verschließt. Und wenn ich wieder Blut rieche, fragte Claudine, eine häufige Form von Flashback.

Sie gab Claudine eine Seife. Jedes Mal, wenn ihr Gehirn ihr Ekel erregende Empfindungen vorgaukelt, schnuppert sie jetzt daran. »Die belastenden Erinnerungen sind tief im Gehirn eingebrannt«, sagt Thérèse, »sie können nicht gelöscht werden. Aber man kann sie mit etwas Positivem überschreiben.«

Ihre Botschaft: Trauma ist heilbar

Derzeit betreut sie mehr als 120 Patienten, die meisten weiblich. Die Kosten der Behandlung und das Busgeld übernehmen meist Förderer aus dem Ausland. Wenn nicht, macht sie ehrenamtlich weiter. Zu diesem Engagement ist sie zufällig gekommen. Für das Masterstudium wurde sie der psychologischen Fakultät zugeteilt.

»Ich wollte da gar nicht hin. Was für ein Glücksfall, so habe ich meine Berufung gefunden.« Vor zehn Jahren hat sie die Mental Health Diginity Foundation (MHDF) gegründet, um ihre Erfahrungen und Methoden weiterzuverbreiten. Derzeit betreut sie zwölf Whatsapp-Gruppen mit mehr als 500 Teilnehmenden im Bereich psychische Gesundheit. Ihre Botschaft: Trauma ist heilbar.

Das hat sie vielhundertfach bewiesen. Zu Beginn einer Behandlung führt sie psychologische Tests mit den Klientinnen durch. Auf einer Skala von eins bis zehn stufen sie ein, wie stark sie unter Symptomen leiden. Die gleichen Tests am Ende zeigen: Zu 90 Prozent geht es den Patienten deutlich besser. Sie fühlen sich dem Alltag gewachsen, können Konflikte mit anderen bewältigen. Bei den zehn Prozent ohne Besserung hatte es erneut Gewalterfahrungen gegeben.

Peace Circle als Teil der Gruppentherapie | Im Dialogkreis fassen die Teilnehmenden Vertrauen zueinander und teilen, was ihnen auf der Seele liegt. Über Traumata sprechen, anderen mit offenem Herzen zuhören: Das hat nach Erfahrung von Thérèse Uwitonze starke therapeutische Wirkung.

Kaum Investitionen in seelische Gesundheit

Die Arbeit der MHDF-Stiftung ist ein Anfang, weil Thérèse leicht verstehbare Heilmethoden entwickelt. Damit sie jedoch landesweit zum Einsatz kommen könnten, bräuchten Menschen in psychologischen Berufen, die für Ruanda noch neu sind, Aus- und Fortbildungen, um mit Klienten therapeutisch arbeiten zu können, statt sie mit Pillen abzuspeisen. Krankenversicherungen müssten die Behandlungen bezahlen.

Doch die ruandische Regierung investiert wenig in seelische Gesundheit. Ihr Kredo: Lasst uns nach vorne schauen, das ist der beste Weg, um die Vergangenheit zu überwinden. Ein fataler Irrtum, wie die Erfahrungen von Thérèse zeigen. Oft hat sie gesehen, wie Trauma trennt: von Anteilen des Selbst, denn das überwältigende Geschehen wird in der Psyche gleichsam eingefroren; von anderen Menschen, die als bedrohlich empfunden werden; von Hoffnung und Lebensmut, was apathisch werden lässt. Kulturelle Prägungen verhindern, dass Verletzungen überhaupt gezeigt werden dürfen.

In Ruanda gilt jedoch seit alters das »Hisha mu nda«, wörtlich: es im Magen verstecken. Runterschlucken, keine Schwäche zeigen, ein Lächeln aufsetzen, egal, wie dreckig es einem geht. Die Betondecke aus Leid, die auf dem Land liegt, bleibt unsichtbar.

Traumafolgen können von Generation zu Generation weiterwirken

In ihren wissenschaftlichen Studien analysierte Thérèse, wie Traumafolgen von Generation zu Generation weiterwirken. Sie zeigen sich individuell verschieden, »deshalb nehme ich mir viel Zeit für die Diagnose«. Etwa bei dem 56-jährigen Karisa, der heute im Behandlungszimmer Platz nimmt. Der groß gewachsene Mann mit den grauen Haarstoppeln fühlt sich oft niedergeschlagen, trinkt zu viel Alkohol, schleppt sich durch schlaflose Nächte.

Thérèse legt ein Seil im Raum aus. »Das ist deine Lebenslinie. Links deine Kindheit, hier bei der Schlaufe die Gegenwart, am anderen Ende deine Zukunft.« Aus einem Sack kippt sie Steine auf den Betonboden. Große stehen für sehr schlimme Erlebnisse, kleine für bewältigbare. Sie legt Blumen dazu, Symbole für freudige Erfahrungen. Karisa legt sein Leben aus: Ein schwerer Brocken steht für den Genozid, kleinere Steine für die Zeit danach, als er Angst hatte, die Hutu-Mörder würden ins Dorf zurückkehren.

Ans Seilende legt er eine große rote Hibiskusblüte: »Eines Tages werde ich ein eigenes Haus besitzen, mit Ziegen und Hühnern.« Thérèse zeichnet seine Etappen auf ein Blatt. In den nächsten Sitzungen werden sie beginnen, die Steine aus dem Weg zu räumen. Die schwersten zuerst.

Eine Lebenslinie erstellen | Das Seil symbolisiert den zeitlichen Verlauf, die großen Steine schwer traumatisierende Ereignisse, die kleinen Steine schwierige, aber bewältigbare Ereignisse, große und kleine Blumen symbolisieren schöne Ereignisse oder Hoffnungen. Die Übung mit der Lebenslinie dient zur Vorbereitung der eigentlichen Traumatherapie. Im Bild der 56-jährige Karisa Epaphrodite, ein Überlebender des Genozids an den Tutsi.

»Ich will keinen Mann, und ich brauche auch keinen«

Kein Bus fährt in Claudines Dorf, das auf einem der tausend Hügel thront. Man gelangt auf dem Soziussitz der Motorradtaxis über holprige Pfade dorthin. Claudine empfängt Besucher in der Haustür stehend, mit einem Lächeln, das gleichermaßen Freude über den Besuch und Besitzerstolz verrät. Der Hof mit Latrine und Stall ist gefegt. Auf den umfriedenden Hecken hat sie Hemdchen und Hosen ihrer Kinder zum Trocknen ausgebreitet.

Sie füttert die Kuh mit dem Gras, das sie auf dem eigenen Feld geschnitten hat. »Ich habe noch eine zweite Kuh. Die beiden geben so viel Milch, dass ich welche verkaufen kann.« Alle vier Kinder gehen zur Schule. Das ist ihr wichtig. Auch bei den Mädchen: »Die sollen mal selbstständig sein, unabhängig von irgendeinem Mann, der trinkt und sie schlägt.« Der Vater ihrer Kinder zahlt zumindest das Schulgeld. Mit ihm zusammenleben? »Ich will keinen Mann, und ich brauche auch keinen.« Sie ist stolz, dass sie, wie viele ruandische Frauen, allein zurechtkommt.

Claudine auf ihrem Hof | Ein eigenes Haus (zwei Autostunden von Butare, im Süden Ruandas, entfernt), zwei kleine Felder und zwei Kühe nennt Claudine heute ihr Eigen. Sie hat ihr Leben in den Griff bekommen.

Claudine, sind die dunklen Gedanken wirklich verschwunden? »Manchmal, wenn ich im Bett liege, schmeckt die Luft plötzlich wieder nach Blut.« Sie weiß dann, was zu tun ist. Sie steht auf und schnuppert an einem Stück Seife. Wenn das nicht hilft, macht sie eine Übung, die Thérèse ihr gezeigt hat. Mit der rechten Hand umfasst sie einzeln die Finger der linken und murmelt die gelernten Sätze: »Ich liebe mich. Ich akzeptiere mich so, wie ich bin. Ich bin eine starke Frau.« Dann kann sie schlafen.

Dieses Projekt wurde vom Europäischen Journalismus Zentrum durch den Solutions Journalism Accelerator finanziert. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt.

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