CERN: Freier Fall für Antimaterie
Antimaterie ist in mancher Hinsicht das Gegenteil von gewöhnlicher Materie: Antiprotonen tragen die gegensätzlich gepolte elektrische Ladung von Protonen. Ein Unterschied zeigt sich auch, wenn man die Flugrichtung von Antiteilchen in subatomaren Reaktionen mit denen ihrer Teilchenpendants vergleicht. Forscher der Alpha-Kollaboration am Genfer Kernforschungszentrum CERN haben nun untersucht, ob Teilchen und Antiteilchen sich auch in einer weiteren Eigenschaft unterscheiden: ihrer Masse.
Seit Isaac Newtons Zeiten kennen Physiker zwei Massen: Die "träge" Masse bestimmt, wie stark ein Körper auf Beschleunigung reagiert, die "schwere" (oder auch gravitative) Masse entscheidet darüber, mit welcher Kraft ein Körper von der Schwerkraft eines anderen Objekts angezogen wird. Eines der experimentell genau vermessenen Grundprinzipien von Albert Einsteins Gravitationstheorie ist, dass schwere und träge Masse von Materie identisch sind. Aber gilt das auch für Antimaterie? Wirkt die Schwerkraft vielleicht ein klein wenig anders auf sie?
Viele überzeugende experimentelle und theoretische Arbeiten legten nahe, dass es diesen Unterschied nicht geben könne, räumen die Forscher gleich im ersten Satz ihrer Studie ein. Aber zwei Aufsätze aus den 1990er Jahren sowie zwei Aufsätze, die in keinem Fachjournal veröffentlicht wurden, stellten in Frage, ob diese Aussage allgemeingültig sei und ob nicht vielleicht doch ein Unterschied zwischen beiden Massen bei der Antimaterie existiere. Auch betonen die Physiker, dass es bisher kein Experiment gebe, in dem neutrale Antimaterie-Atome dem freien Fall überlassen wurden.
Im Alpha-Experiment am CERN erzeugen Forscher seit einigen Jahren mit großem Aufwand Antiwasserstoffatome, mit denen solch ein Versuch nun erstmals ansatzweise gelungen ist. In den Jahren 2010 und 2011 konnten die Physiker insgesamt 434 Atome des Antiwasserstoffs mit Hilfe starker Magnetfelder für mehr als 400 Millisekunden einfangen. Anschließend entkamen die Antiteilchen aus der Falle und annihilierten mit den Atomen in der zylinderförmigen Wand, die den röhrenförmige Alpha-Detektor umgibt.
Für ihre Studie verglichen die Physiker der Alpha-Kollaboration die Positionen der Annihilationen mit den Ergebnissen von Flugbahnsimulationen, die sie für verschiedene Werte der schweren Masse von Antiwasserstoff durchgeführt hatten. Demnach können die Physiker nun ausschließen, dass die schwere Masse von Antiwasserstoff mehr als 110-fach größer als seine träge Masse ist. Für den Fall, dass auf Antiwasserstoff gar eine negative Schwerkraft wirke, könne die schwere Masse höchstens dem 65-Fachen seiner trägen Masse entsprechen.
Die Forscher räumen ein, dass ihr Ergebnis noch weit davon entfernt sei, kleine Unterschiede in der schweren Masse von Materie und Antimaterie tatsächlich zu erproben. Erst solche winzigen Abweichungen dürften von umfassendem Interesse sein. "Aber unser Experiment ist ein wichtiger erster Schritt auf dem Weg zu einer genauen Gravitationsmessung von eingefangener, neutraler Antimaterie", schreiben sie. In Zukunft soll unter anderem das AEgIS-Projekt, das derzeit am CERN vorbereitet wird, die schwere Masse der Antimaterie genauer untersuchen.
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