Gen-Studie: Wo lag der Ursprung der indoeuropäischen Sprachen?

Wo wurde die Vorläuferin aller indoeuropäischen Sprachen ursprünglich gesprochen? Und wie verbreitete sich diese Sprachfamilie dann über fast ganz Europa und einen Großteil Asiens? Auf diese Fragen liefert nun die Genetik neue Antworten.
Dreh- und Angelpunkt ist bei all diesen Überlegungen die Kultur der Jamnaja: nomadisch lebenden Vieh- und Pferdezüchtern, deren Heimat in den Steppengebieten nördlich von Schwarzem und Kaspischem Meer lag. Sie verbreiteten bei ihrer raschen Expansion nach West und Ost ihre Kultur und vor allem die indoeuropäische Sprachfamilie über weite Teile Eurasiens.
Das vermuten Sprachhistoriker und Archäologen schon seit dem 19. Jahrhundert, auch wenn sie die Träger dieser Expansion ursprünglich noch nach ihren typischen Grabhügeln, den Kurganen, als »Kurgan-Kultur« bezeichneten. Im 4. Jahrtausend v. Chr. soll diese Expansion begonnen haben. Ultimativ endete sie erst in der Mongolei im Osten und in Irland im Westen, auch wenn in den Folgejahrtausenden andere Kulturen es übernahmen, die indoeuropäische Sprachfamilie in die Welt zu tragen.
Doch wie zutreffend ist dieses Szenario überhaupt? Als alternative Erklärung dazu entwarfen Fachleute in den 1980er Jahren die so genannte Anatolien-Hypothese. Sie besagt, dass sich die Idiome der Sprachfamilie mit den allerersten Bauern verbreitet hätten. Nachweislich zogen vor etwa 9000 Jahren einige Ackerbau und Viehzucht betreibende Gruppen aus der Region der heutigen Türkei entlang des Balkans nach Europa. Laut der Anatolien-Hypothese hatten sie dabei nicht nur landwirtschaftliche Techniken im Gepäck, sondern auch Sprachen aus der indoeuropäischen Großfamilie.
Jamnaja, wohin man blickt
Diese Annahme geriet 2015 ins Wanken, als zwei bahnbrechende Gen-Studien belegten, dass in fast allen Regionen, in denen heute indogermanische Sprachen gesprochen werden, genetische Spuren der Jamnaja zu finden sind. Damit wurde die Kurgan- oder, wie sie heute heißt: Steppen-Hypothese auch genetisch untermauert. »Das Erbgut der Jamnaja ist wie ein Markerfarbstoff, an dem sich die Verbreitung der indoeuropäischen Sprachen nachvollziehen lässt«, sagt der Genetiker David Reich von der Harvard University, der eine der beiden Studien leitete, gegenüber »Nature News«.
Doch das Grundproblem der Steppen-Hypothese, das zur Formulierung der Anatolien-Hypothese geführt hatte, blieb trotz der Jamnaja-Entdeckung bestehen: Die indoeuropäische Sprachfamilie umfasst auch einen inzwischen ausgestorbenen anatolischen Zweig, der sich bereits sehr früh vom Rest der Familie trennte und sich deshalb nur schwer in das Steppenszenario integrieren lässt. An diesem Zweig hängt unter anderem die Sprache der Hethiter, die im 2. Jahrtausend v. Chr. in Anatolien, also auf dem Gebiet der heutigen Türkei, lebten.
Folglich muss es erstens eine – wie auch immer geartete – Verbindung gegeben haben zwischen Anatolien im Süden und den Steppen im Norden. Und zweitens muss das Bindeglied zwischen den beiden Regionen sehr früh bestanden haben: womöglich bereits im 5. Jahrtausend v. Chr. und damit mutmaßlich vor der Jamnaja-Expansion. Der genetische »Markerfarbstoff« war in Anatolien jedenfalls nicht nachweisbar.
Auf der Suche nach einer Lösung analysierte nun ein internationales Forscherteam um David Reich und seinen Kollegen Iosef Lazaridis, ebenfalls von der Harvard University, das Erbgut von 428 Individuen, darunter zahlreiche Menschen, die sich anhand archäologischer Funde der Jamnaja-Kultur zuordnen lassen. Auch Angehörige älterer Bevölkerungsgruppen aus der Steppe und der südöstlich angrenzenden Kaukasusregion wurden genetisch analysiert. Die Ergebnisse erschienen in Form zweier Paper im Fachblatt »Nature« (1, 2).
Erstmals führt eine Spur zu den Anatoliern
Die Suche nach dem Ursprung der Jamnaja führte schließlich in ein Gebiet zwischen dem Kaukasus und der unteren Wolga. Dort entdeckten die Wissenschaftler eine genetische Signatur, die sie mit dem Kürzel CLV bezeichnen (»Caucasus-Lower Volga«) und bei deren Trägern es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Vorfahren der Jamnaja handelte. Denn dieselbe Gensignatur findet sich etwas später weiter westwärts am Unterlauf des Dnipro, wo sie, vermischt mit der DNA-Signatur ortsansässiger Jäger-und-Sammler-Gruppen, das klassische Jamnaja-Genom ergibt. Ursprünglich dürfte diese Population nur aus wenigen hundert Individuen bestanden haben, erläutert Reich. Den Zeitpunkt der Vermischung mit den Ortsansässigen datiert die Gruppe auf die Jahre ab 4000 v. Chr. Die Herausbildung der Jamnaja-Kultur und ihre rasante Expansion spielten sich in den Jahrhunderten darauf ab.
Das vielleicht noch bedeutendere Ergebnis der Untersuchung ist jedoch ein anderes: Die neu entdeckte CLV-Signatur tauchte auch an weiterer Stelle auf – in Anatolien. Bronzezeitliche Gruppen in den Gegenden südlich von Kaukasus und Schwarzem Meer tragen in ihrem Erbgut einen CLV-Anteil von rund zehn Prozent. Folglich muss es mindestens genetischen und womöglich auch sprachlichen Austausch zwischen diesen Populationen gegeben haben. Reich und Lazaridis vermuten nun in der CLV-Gruppe genau jene Gemeinschaft, in der die letzte gemeinsame Vorfahrin der anatolischen und der restlichen indoeuropäischen Sprachen gesprochen wurde – mit anderen Worten, die Studie lieferte den ersten Kandidaten für das lang gesuchte »protoindoanatolische« Bindeglied.
Wo Gene wandern, wandern nicht unbedingt auch Sprachen
Das sei »ein sehr intelligentes Szenario«, gegen das man nur wenig einwenden könne, kommentiert der Linguist Guus Kroonen von der Universität Leiden in der »New York Times« diese Überlegung. Aber das letzte Wort in dieser Sache sei wohl noch immer nicht gesprochen.
Ein Gegenargument beispielsweise stammt aus einem Aufsatz von 2023. Kroonens Institutskollege Alwin Kloekhorst wies darin darauf hin, dass im Osten Anatoliens – also dort, wo die CLV-Einwanderer als Erstes angelangt wären – zunächst keine anatolische Sprache fassbar ist. Stattdessen scheinen sich die Vorläufer des Hethitischen und seiner Verwandten vom Westen, also vom Bosporus her, ausgebreitet zu haben. Für Kloekhorst lag darum der Schluss nahe, dass sich auch die Vorfahren der Hethiter und anderer anatolischer Gruppen von Westen her vorwärts arbeiteten und nicht über den Kaukasus.
Und auch für eine Herkunft im Südosten gibt es Argumente, die etwa Paul Heggarty von der Katholischen Universität Perus in Lima zusammengetragen hat. In seinem Modell ist das protoindoanatolische Bindeglied viel weiter östlich und in einer noch früheren Epoche zu suchen.

Beide Einwände rühren an ein Grundproblem aller genetischen Untersuchungen, das auch Koautor Iosef Lazaridis im Gespräch mit »Nature News« einräumt: »Wir können nicht beweisen, dass diese Menschen [gemeint sind die CLV-Leute] wirklich Anatolisch sprachen. Leider hatten sie keine Tafeln mit der Aufschrift ›Ich spreche Anatolisch‹ im Grab.«
Wieder und wieder zeigt die Geschichte, dass Sprachen auch ohne ihre Sprecherinnen und Sprecher wandern, man denke etwa an die Verbreitung von Latein durch die Römer. Und umgekehrt können Menschen wandern und am Zielort ihre alte Sprache für immer aufgeben. Das schränkt die Aussagekraft von alter DNA für die Sprachgeschichte erheblich ein.
Der Krieg verhindert weitere Forschung
Trotzdem könnten weitere Gen-Studien an den Jamnaja und ihren Nachbarn vielleicht doch noch Aufschluss bringen. Dem stehen allerdings inzwischen schwer wiegende diplomatische Hürden entgegen. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist es schwierig geworden, örtliche Fachleute für die notwendige Kooperation zusammenzubringen. Die ersten Jamnaja verortet das Team anhand alter Ausgrabungen in der von Russland besetzten südukrainischen Ortschaft Mychajliwka, inzwischen eine frontnahe Siedlung, die hinter drei Reihen Schützengräben und Minenfeldern verborgen liegt.
Die aktuelle Studie wurde noch vor mehr als zehn Jahren als gemeinsames Projekt russischer und ukrainischer Wissenschaftler begonnen. Nach der Invasion im Jahr 2022 war eine Fortsetzung nicht mehr möglich. Das zeigt sich nun auch bei der Publikation der Ergebnisse: »Es war undenkbar, dass russische und ukrainische Forschende als Koautoren desselben Artikels auftauchen«, sagt Reich in »Nature News«. Darum wurden zwei separate Publikationen aufgesetzt, eine mit ukrainischen und eine mit russischen Autoren.
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