Empathie: Gespiegelte Nadelstiche
Sich in andere hineinzuversetzen, fällt Menschen von Natur aus leicht. Sie verdanken das der wundersamen Eigenschaft ihres Gehirns, Bewegungen und Sprache von Mitmenschen, deren Schmerz und Emotionen automatisch neuronal widerzuspiegeln. Letztlich damit alle einander besser verstehen und voneinander lernen. Jetzt scheint es so, als könne auch der übrige Körper fremde Erfahrungen nachbilden - allerdings zum Selbstschutz.
Anfang der 1990er Jahre erwischten die italienischen Neurologen Vittorio Gallese und Giacomo Rizzolati Affen beim Nachäffen. Was sich banal anhört, war tatsächlich wissenschaftliches Neuland – und eine Überraschung. Eigentlich untersuchten sie nur, wie Makaken Greifbewegungen beim Erdnüssefuttern koordinieren. Dazu hörten sie mit Elektroden die zuständigen Neuronengruppen im Gehirn ab. Die Zellen feuerten immer dann, wenn die Affen nach den Nüssen griffen. Plötzlich registrierten die Apparate der Forscher Signale von einem Versuchstier, das gerade scheinbar unbeteiligt herumsaß: Dieses hatte lediglich das Grabschen eines Affenkollegen beobachtet – doch wie sich zeigte, waren beim mentalen Nachvollzug des Gesehenen die gleichen Nervenzellen aktiv, wie wenn das Tier selbst gehandelt hätte.
Gallese nannte die beim virtuellen Nachäffen beteiligten Neurone Spiegelneurone. Sie gelten inzwischen als Schlüsselkandidaten, um Vorgänge zu erklären, bei denen Menschen voneinander lernen und sich gegenseitig verstehen. Ein wesentliches Augenmerk liegt dabei auf der menschlichen Fähigkeit zur Empathie – also der Gabe, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können.
Wie tief die Resonanz fremden Erlebens im eigenen Gehirn reicht, deutete sich in den vergangenen Jahren an. Mit modernen bildgebenden Verfahren wiesen britische Wissenschaftler um Chris Frith nach, dass Mitleid im wortwörtlichen Sinne Mit-Leiden bedeutet. Bei jeweils einer Person eines Liebespaares verfolgten sie die Stoffwechselaktivität in verschieden Gehirnbereichen – und zwar dann, wenn ihr selbst oder ihrem Partner kurze Stromstöße verpasst wurden: Das beobachtete Erregungsmuster – die so genannte Schmerzmatrix – war bei selbst erlebten und miterlebten Elektroschocks annähernd deckungsgleich. Bei den reagierenden Arealen handelte es sich vorwiegend um affektiv-assozierte Gebiete, also solche, die Emotionen hervorbringen. Nach Ansicht der britischen Forscher ist das gefühlsmäßige Echo im Kopf mitverantwortlich für das Entstehen und Festigen sozialer Bindungen.
Einen Extremfall empathischer Verbindung schilderten australische Neuropsychologen vor gut zehn Jahren. Einer ihrer Patienten war so überempfindlich, dass er, wenn ihm seine Frau eine schmerzende Stelle ihres Körpers zeigte, genau dort körperlichen Schmerz empfand. Eine solche Reaktion blieb jedoch aus, wenn die Frau ihrem Mann nur von den Beschwerden erzählte. Weil der Patient sich auch bei eigenen Berührungen ausgesprochen empfindlich zeigte, vermuteten die Psychologen außer den damals gerade bekannt werdenden Spiegelneuronen auch einen Mechanismus vor Ort und nicht im Gehirn als Ursache. Denn am leichtesten ließe sich die Dünnhäutigkeit des Mannes ja mit hochsensiblen Schmerzrezeptoren erklären. Aber warum spürte er dann die Schmerzen seiner Frau?
Von einer anderen Ecke aus näherten sich nun wiederum italienische Wissenschaftler um Salvatore Aglioti und Alessio Avenanti von der Universität Rom dem Problem. Ihr Ausgangspunkt waren jüngste Forschungsergebnisse, die gezeigt hatten, dass zugefügte Schmerzen in der Körperperipherie nicht nur auf spezielle Schmerzrezeptoren, sondern auch auf sensomotorische Neurone wirken. Diese finden sich etwa in Nervenfasern, die von Gliedmaßenmuskeln über das Rückenmark zum Gehirn führen. Bei schmerzhaften Stimuli – bespielsweise Nadelstichen – in die betreffenden Muskeln vermindern die sensomotorischen Neuronenfasern drastisch ihre Erregbarkeit. Die römischen Psychologen wollten nun wissen, was in solchen Nerven geschieht, wenn die untersuchte Person die Nadelstiche nur beobachtet.
Die Versuchsteilnehmer hatten also diesmal Glück – sie wurden gar nicht gepikst, sondern sahen die Tortur im Dienste der Wissenschaft lediglich auf einem Bildschirm. In den Videos war eine Hand Ziel der Nadelstiche – und zwar entweder der Muskel zwischen Daumen und Zeigefinger oder auf der anderen Seite des Handrückens jener Muskel, welcher den kleinen Finger bewegt. Die Wissenschaftler horchten dann die von den Muskeln – der Beobachter wohlgemerkt – wegführenden sensomotorischen Nervenfasern ab. Und tatsächlich spürten Avenanti und seine Kollegen auch auf dieser vergleichsweise primitiven neuronalen Ebene die Fähigkeit zur Empathie auf.
Denn auch bei den Schmerzzuschauern fiel die Erregbarkeit in den Nerven ab – aber nur an den Muskeln, in die auch in dem Video der Stich erfolgte. Dagegen zeitigte das Piksen in den gegenüberliegenden Muskel der Hand ebenso wenig einen solchen Effekt wie das Malträtieren einer Tomate, eines Fußes oder das Streicheln des gleichen Handmuskels mit einem Wattestäbchen. Der Körper reduzierte die Erregbarkeit in den Nerven übrigens umso stärker, je gravierender die Versuchsperson parallel dazu die gesehenen Stiche auf einer Schmerzskala einstufte.
Nach Einschätzung von Aglioti handelt es sich bei dem Phänomen, ortsgenau auf fremde Stiche so zu reagieren, als sei man selbst gestochen worden, um eine ganz neue Form von Empathie. Während die erste, die vorwiegend in höheren emotionalen Zentren des Gehirns ansässig ist, sozialen Zwecken nütze, könnte diese zweite Empathieform Umwelterfahrungen von anderen Menschen direkt auf dem eigenen Körper kartieren, und damit letztlich dem Selbstschutz dienen. So könne das Abdrehen der sensorischen Neurone bestimmte Körperabschnitte quasi einfrieren, wenn dort das baldige Zufügen von Schmerzen zu erwarten sei.
Sieht es auf dem ersten Blick so aus, als mache jeder Mensch in seinem Leib seine eigenen, ganz privaten Erfahrungen, scheint es nun so, als seien wir zumindest im Schmerz vereint – jedenfalls dann, wenn wir dabei gegenseitige Augenzeugen sind. Vielleicht finden Neurologen aber demnächst heraus, dass die körperliche Empathie auch bei angenehmeren Erfahrungen als Nadelstichen waltet.
Gallese nannte die beim virtuellen Nachäffen beteiligten Neurone Spiegelneurone. Sie gelten inzwischen als Schlüsselkandidaten, um Vorgänge zu erklären, bei denen Menschen voneinander lernen und sich gegenseitig verstehen. Ein wesentliches Augenmerk liegt dabei auf der menschlichen Fähigkeit zur Empathie – also der Gabe, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können.
Wie tief die Resonanz fremden Erlebens im eigenen Gehirn reicht, deutete sich in den vergangenen Jahren an. Mit modernen bildgebenden Verfahren wiesen britische Wissenschaftler um Chris Frith nach, dass Mitleid im wortwörtlichen Sinne Mit-Leiden bedeutet. Bei jeweils einer Person eines Liebespaares verfolgten sie die Stoffwechselaktivität in verschieden Gehirnbereichen – und zwar dann, wenn ihr selbst oder ihrem Partner kurze Stromstöße verpasst wurden: Das beobachtete Erregungsmuster – die so genannte Schmerzmatrix – war bei selbst erlebten und miterlebten Elektroschocks annähernd deckungsgleich. Bei den reagierenden Arealen handelte es sich vorwiegend um affektiv-assozierte Gebiete, also solche, die Emotionen hervorbringen. Nach Ansicht der britischen Forscher ist das gefühlsmäßige Echo im Kopf mitverantwortlich für das Entstehen und Festigen sozialer Bindungen.
Einen Extremfall empathischer Verbindung schilderten australische Neuropsychologen vor gut zehn Jahren. Einer ihrer Patienten war so überempfindlich, dass er, wenn ihm seine Frau eine schmerzende Stelle ihres Körpers zeigte, genau dort körperlichen Schmerz empfand. Eine solche Reaktion blieb jedoch aus, wenn die Frau ihrem Mann nur von den Beschwerden erzählte. Weil der Patient sich auch bei eigenen Berührungen ausgesprochen empfindlich zeigte, vermuteten die Psychologen außer den damals gerade bekannt werdenden Spiegelneuronen auch einen Mechanismus vor Ort und nicht im Gehirn als Ursache. Denn am leichtesten ließe sich die Dünnhäutigkeit des Mannes ja mit hochsensiblen Schmerzrezeptoren erklären. Aber warum spürte er dann die Schmerzen seiner Frau?
Von einer anderen Ecke aus näherten sich nun wiederum italienische Wissenschaftler um Salvatore Aglioti und Alessio Avenanti von der Universität Rom dem Problem. Ihr Ausgangspunkt waren jüngste Forschungsergebnisse, die gezeigt hatten, dass zugefügte Schmerzen in der Körperperipherie nicht nur auf spezielle Schmerzrezeptoren, sondern auch auf sensomotorische Neurone wirken. Diese finden sich etwa in Nervenfasern, die von Gliedmaßenmuskeln über das Rückenmark zum Gehirn führen. Bei schmerzhaften Stimuli – bespielsweise Nadelstichen – in die betreffenden Muskeln vermindern die sensomotorischen Neuronenfasern drastisch ihre Erregbarkeit. Die römischen Psychologen wollten nun wissen, was in solchen Nerven geschieht, wenn die untersuchte Person die Nadelstiche nur beobachtet.
Die Versuchsteilnehmer hatten also diesmal Glück – sie wurden gar nicht gepikst, sondern sahen die Tortur im Dienste der Wissenschaft lediglich auf einem Bildschirm. In den Videos war eine Hand Ziel der Nadelstiche – und zwar entweder der Muskel zwischen Daumen und Zeigefinger oder auf der anderen Seite des Handrückens jener Muskel, welcher den kleinen Finger bewegt. Die Wissenschaftler horchten dann die von den Muskeln – der Beobachter wohlgemerkt – wegführenden sensomotorischen Nervenfasern ab. Und tatsächlich spürten Avenanti und seine Kollegen auch auf dieser vergleichsweise primitiven neuronalen Ebene die Fähigkeit zur Empathie auf.
Denn auch bei den Schmerzzuschauern fiel die Erregbarkeit in den Nerven ab – aber nur an den Muskeln, in die auch in dem Video der Stich erfolgte. Dagegen zeitigte das Piksen in den gegenüberliegenden Muskel der Hand ebenso wenig einen solchen Effekt wie das Malträtieren einer Tomate, eines Fußes oder das Streicheln des gleichen Handmuskels mit einem Wattestäbchen. Der Körper reduzierte die Erregbarkeit in den Nerven übrigens umso stärker, je gravierender die Versuchsperson parallel dazu die gesehenen Stiche auf einer Schmerzskala einstufte.
Nach Einschätzung von Aglioti handelt es sich bei dem Phänomen, ortsgenau auf fremde Stiche so zu reagieren, als sei man selbst gestochen worden, um eine ganz neue Form von Empathie. Während die erste, die vorwiegend in höheren emotionalen Zentren des Gehirns ansässig ist, sozialen Zwecken nütze, könnte diese zweite Empathieform Umwelterfahrungen von anderen Menschen direkt auf dem eigenen Körper kartieren, und damit letztlich dem Selbstschutz dienen. So könne das Abdrehen der sensorischen Neurone bestimmte Körperabschnitte quasi einfrieren, wenn dort das baldige Zufügen von Schmerzen zu erwarten sei.
Sieht es auf dem ersten Blick so aus, als mache jeder Mensch in seinem Leib seine eigenen, ganz privaten Erfahrungen, scheint es nun so, als seien wir zumindest im Schmerz vereint – jedenfalls dann, wenn wir dabei gegenseitige Augenzeugen sind. Vielleicht finden Neurologen aber demnächst heraus, dass die körperliche Empathie auch bei angenehmeren Erfahrungen als Nadelstichen waltet.
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