Hirnstimulation: Nächtliches Gedächtnistraining
Es ist spät am Abend. Sonia* streift allein durch eine fremde Stadt und versucht, ihren Weg zur Unterkunft zu finden. Vor ihr liegt ein düsterer Wald. Durch ihn führt ein Pfad, der nur von wenigen Laternen beleuchtet wird. Sie beäugt ihn mit einer gewissen Skepsis. Als sie sieht, dass auch andere Leute ihn benutzen, läuft sie los. Ein Paar vor ihr bleibt plötzlich stehen; die beiden drehen sich um und packen sie, der Mann hält ihr einen Lappen vors Gesicht.
Als sie wieder zu sich kommt, befindet sie sich auf einer Bühne, über der ein Spiegel schwebt. Eine Gruppe von Männern umringt sie, bewaffnet mit Gewehren und Messern. Sie wollen sie zuerst foltern und dann töten. Sonja schafft es gerade noch, einen Stein aufzuheben und ihn in Richtung Decke zu werfen. Der Spiegel zerspringt. Glasscherben regnen herab und bohren sich in ihre Schulter und ihren Fuß. Verletzt gelingt ihr die Flucht in den Wald. Doch ihre Entführer nehmen die Verfolgung auf – und Sonja wacht schweißgebadet auf.
Dieser und ähnliche Albträume störten Sonias Schlaf monatelang mehrmals pro Woche. Die Schreckensnächte ließen sie schläfrig, reizbar und emotional erschöpft zurück – typische Symptome einer Albtraumstörung. Eine solche kann allein oder in Verbindung mit tiefer gehenden Problemen wie einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) auftreten. Schlafspezialisten der Genfer Universitätskliniken rieten ihr zu einer »Imaginationstherapie«. Sie sollte sich ein positives Ende des Traums ausdenken und es täglich einüben. Die neue Wendung überträgt sich in der Regel auf den Schlaf und verringert die Häufigkeit der Albträume.
Die Macht der Töne
Der Trick funktioniert jedoch nicht immer. Deshalb nahm Sonia an einer Studie teil, die eine weiterentwickelte Version dieser Technik testete. Die Anpassung zielte darauf ab, die Erinnerung an die neue Traumerzählung im Schlaf zu verstärken. Zwei Wochen lang entspannte sich Sonia jeden Abend für fünf Minuten in einem ruhigen Raum. Dabei stellte sie sich vor, dass der Weg durch den Wald zu einer Pforte in ein farbenfrohes Feld führte, in dem sie sich sicher fühlte. Während sie und 17 andere Menschen mit Albtraumstörung ihre neuen Geschichten einstudierten, hörten sie über Kopfhörer alle zehn Sekunden einen bestimmten Klavierakkord. Den Klang assoziierten sie schließlich mit ihrem Skript.
Im Schlaf wiederholt das Gehirn ausgewählte Erinnerungen des Tages und prägt sie sich dadurch ein
Nachts trugen sie ein spezielles Stirnband. Das in ihm verarbeitete Gerät erkannte, wann die Person in den traumreichen REM-Schlaf eintrat – benannt nach »rapid eye movements«, also den für diese Phase charakteristischen schnellen Augenbewegungen. Das Band übertrug dann über Vibrationen an ihrem Schädelknochen denselben Akkord, den sie im Wachzustand gehört hatte.
Im Schlaf wiederholt das Gehirn ausgewählte Erinnerungen des Tages und prägt sie sich dadurch ein. Fachleute bezeichnen das als Gedächtniskonsolidierung. In der Albtraumstudie erinnerte der Klavierakkord die Teilnehmer an ihre positiven Traumskripte. »Wir wollen diese spezifische Geschichte verstärken«, erklärt der Psychiater Lampros Perogamvros von der Universität Genf, der die Studie leitete.
Das Training zeigte Wirkung: Die Teilnehmenden berichteten von weniger beängstigenden und mehr angenehmen Träumen. »Selbst wenn man nur mit einem Szenario arbeitet, gehen Albträume zu dem gesamten Themenbereich, zum Beispiel gejagt zu werden, zurück«, erläutert Perogamvros. Der Effekt war bei Probanden und Probandinnen, die im Schlaf den Akkord vorgespielt bekamen, deutlich stärker als bei denjenigen, die ihn nicht hörten, stellten die Experten 2022 fest. Sonia hatte im Anschluss an die Studie keine Albträume mehr und ihre Stimmung verbesserte sich.
Durch die Hintertür ins Gehirn
Das ist nur eine der zahlreichen Untersuchungen, die das therapeutische Potenzial in der nächtlichen Ruhephase aufzeigen. »Im Schlaf sind die exekutive Kontrolle, das rationale Denken, die logische Entscheidungsfindung und die Impulskontrolle ausgeschaltet«, erklärt Robert Stickgold, kognitiver Neurowissenschaftler an der Harvard Medical School. »Reize, die das Gehirn erreichen, werden in dieser Zeit anders und möglicherweise effektiver verarbeitet.«
»Im Schlaf sind die exekutive Kontrolle, das rationale Denken, die logische Entscheidungsfindung und die Impulskontrolle ausgeschaltet«Robert Stickgold, kognitiver Neurowissenschaftler an der Harvard Medical School
Die Techniken, mit denen Fachleute in den Schlaf »eindringen«, reichen vom Einsatz von mit Erinnerungen verbundenen Geräuschen und Gerüchen bis hin zur elektrischen Hirnstimulation. Viele dieser Methoden entstanden, als man begann, die Rolle des Schlafs beim Erinnern und bei der Kognition zu untersuchen. Mitunter lassen sie sich auch für therapeutische Zwecke nutzen. »Ich wünsche mir Anwendungen, die Menschen dabei helfen, mit dem richtigen Fuß aufzustehen«, betont Ken Paller, Gedächtnis- und Schlafforscher an der Northwestern University.
Manche Expertinnen und Experten warnen jedoch vor möglichen Risiken solcher Eingriffe. So besteht etwa die Sorge, die Manipulation im Schlaf könnte unvorhergesehene Folgen haben. Denkbar wäre, dass sie eine Art Ungleichgewicht im Gedächtnis bedingt und so das Lernen behindert, meint etwa die Neurowissenschaftlerin Gina Poe von der University of California in Los Angeles. »Wir befinden uns in einer beängstigenden Phase«, betont Poe. »Wir wissen nicht genug. Es ist so ähnlich wie bei einem Kleinkind. Wir können laufen, wissen aber nicht, wohin wir gehen oder wie wir Gefahren vermeiden können.«
Von der Messung zur Beeinflussung
Schon vor 2000 Jahren stellten Menschen Vermutungen über die Rolle des Schlafs bei der Stärkung des Gedächtnisses an. Im 1. Jahrhundert n. Chr. schrieb der römische Schriftsteller und Gelehrte Marcus Fabius Quintilianus, »dass der Abstand einer einzigen Nacht die Erinnerung stark verbessert«. Einzelheiten der dafür verantwortlichen Prozesse blieben bis ins 20. Jahrhundert hinein jedoch komplett im Dunkeln. Erst die Erfindung des Elektroenzephalogramms ermöglichte es, die Hirnaktivität mit Hilfe von Elektroden auf der Kopfhaut zu messen. Studien zeigten daraufhin, dass das schlafende Gehirn charakteristische elektrische Rhythmen produziert.
Der menschliche Schlaf verläuft in mehreren Phasen, die sich etwa alle 90 Minuten wiederholen. Pro Nacht erleben wir in der Regel insgesamt vier bis sechs solcher Zyklen. Sie beginnen mit einer Periode des leichten Schlummers, der in zwei Phasen unterteilt wird. In der zweiten erzeugen Neurone Salven von elektrischen Signalen, die man Schlafspindeln nennt – offensichtlich deshalb, weil ihre Form im Elektroenzephalogramm die Namensgeber an auf einen Stab aufgewickelte Wolle erinnerte. Der Schlummer geht in den Tiefschlaf über, in dem die Spindeln weiterhin vorhanden sind. Dazu kommen langsame, rhythmische Impulse elektrischer Erregung, die über die Hirnoberfläche wandern. Sie gaben dieser dritten Phase den Beinamen »Slow wave«-Schlaf (Schlaf mit langsamen Wellen). Überlagert wird das Ganze von hochfrequenten Wellen unterschiedlicher Intensität, den Ripples. Im REM-Schlaf, dem vierten Stadium, sind Neurone so aktiv wie tagsüber und feuern auch ähnlich willkürlich. Währenddessen erleben Menschen die meisten umfassenden und bizarren Träume.
In den 1970er Jahren stellte der Neurowissenschaftler David Marr am Trinity College in Cambridge eine Theorie dazu auf, wie das Gehirn im Schlaf neue Daten mit bereits vorhandenem Wissen verknüpft. Laut seinem Modell speichert der Hippocampus, eine tief im Gehirn liegende Region in beiden Hemisphären, tagsüber Informationen. Dabei angelegte Gedächtnisspuren bleiben jedoch fragil, bis sie im Schlaf verstärkt werden. Hierbei gelangen sie zur Großhirnrinde, die sie langfristig speichert und mit anderen Erinnerungen zusammenführt.
Schlaf spielt eine entscheidende Rolle dabei, herauszufiltern, was im Langzeitgedächtnis landen sollte
1994 veröffentlichten Matthew Wilson und Bruce McNaughton eine viel zitierte Studie, die dies untermauerte. Sie enthält Hirnwellenaufzeichnungen, denen zufolge der Hippocampus im Slow-wave-Schlaf offenbar Erinnerungen festigt, indem er sie wieder abruft. Während sich eine Ratte im Wachzustand durch ein Labyrinth bewegte, spiegelten neuronale Aktivitätsmuster in ihrem Hippocampus wider, wo sie sich gerade befand. Im Schlaf zeichneten die Forscher ihre Hirnaktivität erneut auf und fanden dieselben Muster. Es wirkte, als würde das Gehirn den Pfad wiederholen, um ihn sich einzuprägen. Ein Jahrzehnt später gelang es Fachleuten um Philippe Peigneux von der Université Libre de Bruxelles, diesen Vorgang auch beim Menschen nachzuweisen: mit Hilfe der Positronenemissionstomografie, einer Methode, die den Blutfluss als Hinweis auf neuronale Aktivität misst. Jene Bereiche des Gehirns, die in den Scans hell aufleuchteten, als Testpersonen durch Straßen in einer virtuellen Stadt navigierten, wurden während des Tiefschlafs reaktiviert. Das Ausmaß korrelierte mit der Fähigkeit der Probanden, sich die Routen zu merken.
Wie Marr prognostizierte, war die Wiederholung von Erinnerungen im Hippocampus der Schlüssel dafür, diese zu festigen. Das Areal scheint bestimmte Erlebnisse als »erinnerungswürdig« zu markieren. Der Großteil der im täglichen Leben einströmenden Informationen ist entbehrlich und bleibt auf der Strecke. »Beim Einkauf im Supermarkt waren die kleinen Tomaten ausverkauft … die Erinnerung daran wollen Sie nicht für den Rest Ihrer Tage behalten«, nennt Robert Stickgold als Beispiel. »Fast alles wird vergessen.« Schlaf spielt eine entscheidende Rolle dabei, herauszufiltern, was im Langzeitgedächtnis landen sollte.
Eine Sinfonie aus drei Hirnregionen
Anfang der 2000er Jahre wussten Fachleute bereits, dass die meisten der pulsierenden Hirnaktivitäten, die im Tiefschlaf auftreten, im präfrontalen Kortex entstehen. Wie Wellen bewegen sie sich dann gleichförmig und regelmäßig von diesem Entscheidungszentrum aus zum hinteren Teil des Organs. Tierstudien und Untersuchungen an Menschen mit Epilepsie – insbesondere solchen, denen Elektroden ins Gehirn implantiert wurden, um sich anbahnende Anfälle zu erkennen – fanden weitere im Schlaf auftretende Rhythmen, die an Gedächtnisprozessen beteiligt zu sein schienen. Dazu zählen die Ripples aus dem Hippocampus, die wahrscheinlich ein mentales Wiederholen der Erlebnisse anzeigen. Ihre Spitzen fallen mit den Tiefpunkten der Schlafspindeln aus dem Thalamus zusammen. Im Wachzustand sendet dieser Knotenpunkt ausgewählte Sinnesinformationen zur Interpretation an die Großhirnrinde. Während des Schlafs blockiert er jedoch die meisten Signale, weshalb Betroffene ihre Umgebung nicht wahrnehmen. Dabei scheint die Anzahl der Schlafspindeln pro Minute laut Gina Poe mit der Lernfähigkeit einer Person zu korrelieren.
»Der Hippocampus, der Thalamus und der Kortex arbeiten zusammen und verstärken damit bestimmte Erinnerungen«Robert Stickgold, kognitiver Neurowissenschaftler an der Harvard Medical School
Eine weitere Auffälligkeit ist, dass sowohl die Ripples als auch die Spindeln mit den langsamen Wellen auf- und abschwellen. Das ist wohl kein Zufall, sondern integraler Bestandteil des nächtlichen Informationstransfers. »Es gibt diese dreiteilige Sinfonie«, erklärt Stickgold. »Der Hippocampus, der Thalamus und der Kortex arbeiten zusammen und verstärken damit bestimmte Erinnerungen.«
Konkrete Belege dafür, dass das schlafende Gehirn Informationen analysiert und abspeichert, blieben lange dürftig. Das änderte sich, als Fachleute Wege fanden, um diesen Prozess zu beeinflussen. Anfang der 2000er Jahre machte sich der Verhaltensneurowissenschaftler Jan Born, der mittlerweile in Tübingen forscht, daran, die Hirnwellen zu manipulieren. Er und sein Team an der Universität Lübeck verabreichten schlafenden Versuchspersonen schwache oszillierende Stromimpulse, und zwar über an der Kopfhaut angebrachte Elektroden. Das sollte die Amplitude der langsamen Wellen erhöhen. Tatsächlich verbesserte die Maßnahme das Gedächtnis, wie die Gruppe um Born 2006 berichtete. Allerdings schien die Stärke des elektrischen Felds in den anatomischen Falten des Gehirns unvorhersehbar zu schwanken.
Daher spielten die Forscher in der Folgestudie schlafenden Testpersonen stattdessen leise Klicks vor, die zeitlich auf ihre langsamen Wellen abgestimmt waren. Eine einzige Nacht mit einer solchen akustischen Stimulation erhöhte die Stärke und Dauer der Wellen und die der Spindeln erheblich. Verglichen mit ihrer Leistung nach einer Nacht ohne Eingriff verbesserten die Töne, wie gut sich die Probandinnen und Probanden 120 Wortpaare merken konnten, berichtete das Team 2013. Die Arbeit stellte damit einen direkten Zusammenhang zwischen den Oszillationen im Slow-wave-Schlaf und dem Gedächtnis her. Zugleich wies sie auf eine Möglichkeit hin, ihn zu nutzen, um die Erinnerungsfähigkeit zu steigern.
Dem alternden Gedächtnis auf die Sprünge helfen
Solche Ergebnisse machen Hoffnung auf entsprechende medizinische Anwendungen. So werden etwa schlafassoziierte langsame Wellen im Alter schwächer, was womöglich zu altersbedingten Gedächtnisproblemen beiträgt. Könnte ihre Stärkung diese lindern? Der Schlafforscher Roneil Malkani und die Neurologin Phyllis Zee vom Northwestern University College haben das in Zusammenarbeit mit Ken Paller und anderen Fachleuten getestet. Bei fünf von neun Personen mit leichter kognitiver Beeinträchtigung verbesserte eine Behandlung mit Tönen deren Fähigkeit, sich an Wortpaare zu erinnern.
Die Beschallung in der Untersuchung dauerte nur eine Nacht. Um aber einen schleichenden Gedächtnisverlust zu bremsen, braucht es vermutlich eine langfristige Anwendung. Theoretisch ließe sich das erreichen, indem man Menschen chirurgisch Elektroden implantiert und ihr Gehirn dann jede Nacht im Schlaf stimuliert. Eine Arbeitsgruppe um den Neurochirurgen Itzhak Fried von der University of California in Los Angeles belegte bereits, dass man die Erinnerungsfähigkeit von Patientinnen und Patienten damit steigern kann. Die Elektroden hatte Fried Menschen mit schwerer Epilepsie ins Gehirn eingesetzt, um bei ihnen Anfälle frühzeitig zu erkennen. Als die Testpersonen schliefen und anfallsfrei waren, nutzte er sie, um ihre Hirnwellen zu erfassen und zu beeinflussen.
Während sich langsame Wellen ausbildeten, sandte eine der Elektroden einen Stromimpuls aus, die »das Zusammentreffen von Ripples, Schlafspindeln und langsamen Wellen« verstärken sollte, so Fried. Alle sechs Personen, deren präfrontaler Kortex eine Nacht lang derart stimuliert wurde, erinnerten sich danach besser an Bilderpaare als nach einer Nacht ohne diese Anregung, berichten die Fachleute im Jahr 2023. Wie sehr sich das Gedächtnis verbesserte, korrelierte mit der Verschiebung der elektrischen Muster im Gehirn.
Selektive Festigung
Neben einem allgemeinen Gedächtnisboost, der sich erzielen lässt, wenn man die elektrischen Wellen im schlafenden Gehirn verstärkt, suchen Experten nach weiteren Anwendungsgebieten. So testen sie etwa unterschiedliche Wege, um lediglich bestimmte Erinnerungen zu verbessern. Der erste Versuch dazu arbeitete mit Gerüchen. Jan Borns Team ließ Probandinnen und Probanden einen Rosenduft schnuppern, während sie sich die Lage von Objekten in einem Raster merken sollten. Anschließend rochen einige der Teilnehmer im Schlaf den Duft. Geschah dies in der Slow-wave-Phase, rief ihr Gehirn das zuvor Gelernte nochmals auf. Das verstärkte ihre Erinnerung an die Lage der Objekte erheblich, berichteten die Forscher und Forscherinnen 2007. Als Vergleichsgruppen dienten Testpersonen, die dem Duft während des Schlafs nicht ausgesetzt waren, sowie solche, die ihn nur während des REM-Schlafs zu riechen bekamen. Laut Hirnscans aktivierte der Rosengeruch den Hippocampus deutlich – ein weiterer Hinweis darauf, dass der Reiz auf Gedächtnisprozesse einwirkte.
Zwei Jahre später zeigten Fachleute um Ken Paller einen ähnlichen Effekt mit Tönen. Die Probanden bekamen spezifische, passende Klänge zu hören, während sie sich die Positionen von 50 Objekten auf einem Computerbildschirm einprägten. So erschien etwa das Bild einer Katze zusammen mit einem Miauen und ein Teekessel wurde von einem Pfeifen begleitet. Im Anschluss machten die Teilnehmenden ein Nickerchen und bekamen dabei 25 der Geräusche zu hören. Nach dem Aufwachen erinnerten sie sich besser an die Positionen der jeweils passenden Objekte als an die der anderen. Wenn sie also ein Pfeifen gehört hatten, aber kein Miauen, konnten sie die Lage des Teekessels auf dem Bildschirm genauer angeben als die der Katze.
Paller nennt seine Methode »gezielte Gedächtnisreaktivierung«. 2022 demonstrierte sein damaliger Doktorand Nathan Whitmore, dass diese GGR die Erinnerung an Gesichter und Namen steigern kann. Am stärksten wirkte das bei denjenigen, die den längsten ununterbrochenen Slow-wave-Schlaf hatten. GGR könnte älteren Menschen mit Gedächtnisproblemen helfen, sich an die für sie wichtigsten Fakten zu erinnern, hofft Paller.
Bewegungsabläufe im Schlaf verfeinern
Die Schlafstimulation kann auch das prozedurale Gedächtnis verbessern. Dieses ermöglicht es uns unter anderem, ein Klavierstück einzuüben oder eine PIN ohne Nachdenken einzutippen. Nach dem Schlafen führen wir gelernte Abfolgen von Fingerbewegungen schneller aus. Unsere Leistung steigert sich zusätzlich, wenn die Erinnerung an die Sequenz während der Slow-wave-Phase reaktiviert wird – beispielsweise, wenn man in der Zeit Tönen lauscht, die man schon beim Üben gehört hat.
Eine ähnliche Methode könnte die Genesung nach einer bestimmten Art von Schlaganfällen beschleunigen: nämlich solchen, die Betroffene daran hindern, grundlegende Bewegungen auszuführen. Zur Rehabilitation gehört in diesen Fällen das tägliche Üben der verlorenen Fähigkeiten. »Wenn Sie Ihre Zahnbürste benutzen oder nach dem Salzstreuer greifen wollen, müssen Sie einige Muskeln selektiv anspannen und andere locker lassen«, sagt Paller. Um diese Fertigkeiten zu trainieren, entwickelte der Neurologe Marc Slutsky von der Northwestern University in Illinois ein einfaches Videospiel im Stil der 1980er Jahre: Der Spieler soll den Cursor von der Bildschirmmitte zu einem von acht roten Quadraten bewegen. Dafür muss er einen oder zwei spezifische Muskeln aktivieren. Hat er das Ziel erreicht, wird es grün.
»Es macht einen Unterschied, wann genau wir die Töne abspielen«Penelope Lewis, Neurowissenschaftlerin an der Cardiff University in Wales
In einer 2021 publizierten Studie zeigte eine Arbeitsgruppe um Paller und Slutsky, dass GGR Menschen dabei helfen kann, bei dem Spiel besser abzuschneiden. Während sie sich auf ein Ziel konzentrierten, hörten 20 gesunde, junge Erwachsene ein jeweils individuelles Geräusch wie ein Miauen, einen Trommelwirbel oder eine Glocke. Nachdem sie einige Stunden geübt hatten, machten sie ein 90-minütiges Nickerchen. Als sie in den Slow-wave-Schlaf fielen, bekamen sie einen Teil der Laute in Fünf-Sekunden-Intervallen vorgespielt. Nach dieser Intervention verbesserte sich die Leistung der Testpersonen. Sie bewegten den Cursor schneller und effizienter in Richtung der Ziele und spannten eher die richtigen Muskeln an. Das traf aber wieder nur auf diejenigen roten Quadrate zu, die zu den beim Nickerchen abgespielten Geräuschen gehörten.
Die ausgefeiltesten Versionen von GGR koordinieren akustische Signale mit den langsamen Wellen. »Es macht einen Unterschied, wann genau wir die Töne abspielen«, erklärt die Neurowissenschaftlerin Penelope Lewis von der Cardiff University in Wales. Ihr Team fand heraus, dass die Technik Menschen dabei helfen kann, sich Beziehungen zwischen Objekten zu merken. Bei den Versuchen ging es um eine versteckte Rangfolge in Gruppen von sechs Fotos. Das funktionierte jedoch nur, wenn die bei der Übung genutzten Geräusche zum Höhepunkt der langsamen Wellen wiederholt wurden. Ertönten sie in deren Tiefpunkt, blieb der Effekt aus. Eine ähnliche Beobachtung machten Bernhard Staresina, kognitiver Neurowissenschaftler an der University of Oxford, und Hong-Viet Ngo, jetzt an der University of Essex. Die Forscher maßen bei Testpersonen ein verbessertes Gedächtnis für Verb-Bild-Assoziationen, nachdem sie spezifische akustische Signale mit dem Anstieg der langsamen Wellen synchronisierten. Darüber hinaus verlängerten sich die Wellen, wenn die Reize in dieser Phase erfolgten, und die Amplitude der zugehörigen Spindeln nahm zu.
Eingriffe in den Slow-wave-Schlaf können auch Emotionen beeinflussen, die mit bestimmten Erlebnissen verbunden sind. Damit ließe sich womöglich die psychische Gesundheit mancher Patientinnen und Patienten fördern. Eine Arbeitsgruppe um den kognitiven Neurowissenschaftler Xiaoqing Hu von der University of Hong Kong nutzte die GGR, um negativen Erinnerungen einen positiven Dreh zu geben. Zuerst brachten die Fachleute den Probanden bei, unsinnige Wörter mit beunruhigenden Fotos zu assoziieren. Im Anschluss spielten sie diese Wörter während des Slow-wave-Schlafs zusammen mit positiven Begriffen ab. Nach dem Aufwachen fühlten sich die Testpersonen von den Bildern weniger abgestoßen als zuvor, berichtete das Team im Jahr 2023. Auch hier war der Effekt am stärksten, wenn die Intervention mit der Aufwärtsphase der langsamen Wellen zusammenfiel.
Emotionale Verarbeitung im REM-Schlaf
Die Rolle des Slow-wave-Schlafs bei der Gedächtniskonsolidierung ist inzwischen gut belegt. Welche Funktion die REM-Phase hierbei hat, ist jedoch weniger klar. Die Träume, die wir in diesem Zeitraum erleben, erscheinen oft chaotisch und unlogisch. Teile des präfrontalen Kortex, die das rationale Denken steuern, schlummern. Währenddessen bleiben Hirnregionen, die Wahrnehmung, Bewegung und Gefühle verarbeiten, weiter aktiv. Eine neuere Theorie besagt, dass unsere fantastischen Träume die mit Erinnerungen verbundenen Emotionen zähmen. Das könne Menschen dabei unterstützen, ein umfassenderes Verständnis für das zu erlangen, was ihnen widerfährt.
»Das Träumen im REM-Schlaf bietet eine Art nächtliche Therapie«Matthew Walker, Neurowissenschaftler an der University of California in Berkeley
»Das Träumen im REM-Schlaf bietet eine Art nächtliche Therapie«, schrieb der Neurowissenschaftler Matthew Walker in seinem 2017 veröffentlichten Buch zum Thema. »Es9-+ zieht den schmerzhaften Stachel aus schwierigen, sogar traumatischen emotionalen Erfahrungen.« Während des REM-Schlafs sinkt der Noradrenalinspiegel gesunder Menschen ab. Der Neurotransmitter steuert Angstreaktionen wie Schwitzen, Herzrasen und Pupillenerweiterung. So werden Erinnerungen, die in der Zeit auftauchen, von diesen physiologischen Reaktionen abgekoppelt. Laut Walker und anderen Fachleuten befreit sie das von ihrer emotionalen Ladung.
Stimmt die Theorie, könnte das Wiedererleben schwieriger Erlebnisse in der REM-Phase dazu beitragen, mit ihnen verbundene negative Gefühle zu entschärfen. In einer Studie aus dem Jahr 2021 bewerteten Menschen beunruhigende Bilder als weniger verstörend, nachdem sie diese mit bestimmten Geräuschen assoziiert hatten, die ihnen dann im REM-Schlaf vorgespielt wurden. Ertönten die Klänge hingegen während des Slow-wave-Schlafs, zeigte sich kein Effekt. Wenn das auch bei autobiografischen Erinnerungen funktioniert, könnte es einen Weg zur Behandlung von Depressionen oder PTBS ebnen, glaubt Penelope Lewis.
»Psychotherapie ist eine Form des Lernens. Mit der GGR können wir dieses Lernen fördern«Sophie Schwartz, Neurowissenschaftlerin an der Universität Genf
Träume in der REM-Phase könnten zudem durch unbewusstes Lernen dazu beitragen, mit einem bestimmten Ereignis verknüpfte, starke Emotionen zu entschärfen. Anstatt das beunruhigende Erlebnis im Schlaf eins zu eins nachzuspielen, träumen Menschen häufig von einer harmloseren, verwandten Erinnerung. Das führt dazu, dass sie beides – den Traum und das Erlebte – unterschwellig miteinander verbinden.
Die GGR ließe sich nutzen, um diese neue Perspektive auf Erlebtes zu unterstützen, wie die anfangs erwähnte Genfer Studie über Albtraumstörungen demonstrierte. Vielleicht kann die Methode sogar traditionelle Psychotherapien effektiver machen. Jeder psychotherapeutische Ansatz zielt auf eine Veränderung von Verhalten, Gewohnheiten und Gedanken ab. »Psychotherapie ist eine Form des Lernens«, fasst die Neurowissenschaftlerin Sophie Schwartz von der Universität Genf zusammen und fügt hinzu: »Mit der GGR können wir dieses Lernen fördern.«
Breiter Einsatz erfordert neue technische Lösungen
Für die meisten Studien müssen Testpersonen ins Schlaflabor kommen, was die Anwendungsmöglichkeiten der Behandlung einschränkt. Menschen wollen dort schließlich nicht länger als ein oder zwei Nächte verbringen. Doch »eine tragbare Technologie könnte man gut in den Alltag integrieren«, meint Heidi Johansen-Berg, kognitive Neurowissenschaftlerin in Oxford. »Selbst wenn der einmalige Nutzen recht gering ist, wäre es vorstellbar, dass er sich im Lauf einer längeren Behandlung erheblich steigert.«
»Selbst wenn der einmalige Nutzen recht gering ist, wäre es vorstellbar, dass er sich im Lauf einer längeren Behandlung erheblich steigert«Heidi Johansen-Berg, kognitive Neurowissenschaftlerin an der University of Oxford
Für eine breite Anwendung braucht es also kommerzielle, im eigenen Zuhause nutzbare Geräte. Einen Prototyp testen Forschende derzeit mit Schlaganfallpatienten. Das System besteht aus einer Smartwatch, die Bewegungen und Daten zur Herzfrequenz erfasst, sowie einem damit gekoppelten Smartphone, das Töne abspielen kann. Mit maschinellem Lernen identifiziert es Tiefschlafphasen und lässt in diesen Zeiten die Geräusche erklingen. Eine 2022 von Nathan Whitmore und anderen veröffentlichte Studie belegt, dass sich Personen, die es drei Nächte lang angewandt haben, besser an die Position von Objekten erinnern – solange die Klänge so leise sind, dass sie den Schlaf nicht stören.
Für wiederkehrende Albträume gibt es in den USA bereits eine ärztlich verschreibbare Handy-App, die biometrische Daten von Apple-Watch-Sensoren nutzt. Detektiert sie nachts eine steigende Herzfrequenz und Unruhe, gibt die Uhr periodische sanfte Vibrationen ab, um den Traum zu unterbrechen, ohne den Schläfer zu wecken. 2023 erschienen Ergebnisse aus einer Studie mit 65 Kriegsveteranen, die an traumabedingten Albträumen litten: Sofern das Gerät mindestens die Hälfte der Zeit getragen wurde, verbesserte sich die Schlafqualität nach Aussage der Probanden deutlich.
Ein handschuhähnlicher Schlafdetektor – entwickelt am Massachusetts Institute of Technology von einem Team um Adam Haar Horowitz – könnte Albträume ebenfalls verringern. Das Gerät überwacht über Kontakte am Handgelenk und an der Hand physiologische Anzeichen für den Schlafbeginn. Es kann mit einer App verbunden werden, die Sprachanweisungen gibt.
»Man beeinflusst, welche Erinnerungen im Gehirn bevorzugt verstärkt werden. Wenn man das jede Nacht macht, wer weiß, was für Ungleichgewichte so entstehen könnten?«Penelope Lewis, Neurowissenschaftlerin an der Cardiff University in Wales
Trotz der viel versprechenden Möglichkeiten warnen Expertinnen und Experten vor Risiken, die mit dem Manipulieren des Gedächtnisses einhergehen. »Man beeinflusst schließlich, welche Erinnerungen im Gehirn bevorzugt verstärkt werden«, erklärt Lewis. »Wenn man das jede Nacht macht, wer weiß, was für Ungleichgewichte so entstehen könnten?« Außerdem stören die Interventionen möglicherweise den Schlaf. In einem Experiment von Whitmore und Paller nahm beispielsweise die Gedächtnisleistung ab, wenn man die Töne zu laut abspielte. »Es gibt noch vieles, was wir verstehen müssen, bevor wir die Methode allgemein empfehlen können«, erläutert Lewis.
Abgesehen von den etwaigen Anwendungsmöglichkeiten haben die Experimente auch das Verständnis darüber vertieft, wie Schlaf das Gedächtnis und Emotionen beeinflusst – und wie er die Sicht der Menschen auf die Welt und auf sich selbst prägt. »Dafür ist die Nacht da«, betont Robert Stickgold. »Es geht darum, all die Informationen, die wir tagsüber erhalten, mit denen zu verknüpfen, die wir bereits haben. Und zwar in einer Weise, die es uns erlaubt, die Welt und unser Leben darin in ein für uns schlüssiges Narrativ zu verpacken.«
* Name von der Redaktion geändert
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