Ursprünge der Kunst: Höhlenmalereien der Neandertaler gefunden
Es sind Striche, Reihen von Punkten, vereinzelte Abbildungen von Tieren und Negativabdrücke von den Händen des Künstlers. Kein Vergleich mit der Pracht der berühmten Höhlenbilder in Lascaux oder Altamira. Malereien eben, wie sie unsere Ahnen in großer Zahl hinterlassen haben, und doch einzigartig: Denn sie stammen nicht von unseren Ahnen. Die in rotem Ocker aufgebrachten Formen und Figuren an den Wänden dreier spanischer Höhlen sind so alt, dass sie nur von Neandertalern stammen können.
Mit diesem Ergebnis trat ein vielköpfiges internationales Forscherteam um Dirk Hoffmann vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig an die Öffentlichkeit. »Die meisten meiner Kollegen werden überwältigt sein«, prophezeit sein Institutskollege Jean-Jacques Hublin, der nicht an der Untersuchung beteiligt war, gegenüber dem Magazin »Science«, in dem die Ergebnisse der entscheidenden Altersdatierung publik gemacht wurden.
Denn die Kunstform der Höhlenmalerei schien bislang unseren direkten Ahnen vorbehalten, dem anatomisch modernen Menschen. Das ergab sich allein schon aus der Tatsache, dass die ältesten bekannten Darstellungen aus einer Zeit vor wenig mehr als 40 000 Jahren stammen – just also aus dem Zeitraum, als unsere Vorfahren mit moderner Werkzeugtechnologie im Gepäck aus Afrika kommend in Europa eintrafen. Und das folgte auch aus dem Bild, das sich Forscher von den scheinbar kulturell und geistig unterlegenen Neandertalern machten. Schließlich war in den Jahrhunderttausenden vor Eintreffen des afrikanischen Zuzüglers wenig Innovatives zu beobachten gewesen.
Und doch hatten sich in den vergangenen Jahren oder gar Jahrzehnten die Hinweise gemehrt, dass der Neandertaler lange vor Eintreffen des modernen Menschen zu künstlerischem Ausdruck in der Lage gewesen sein könnte. Das belegten etwa mit Ocker verzierte Muschelschalen, die in der spanischen Cueva de los Aviones gefunden wurden und die so alt waren, dass sie eigentlich nur von unserer Schwesterart stammen können. Und das zeigte viel deutlicher noch ein tief in der französischen Bruniquel-Höhle verstecktes Bauwerk aus Stalagmiten, das mit einem Alter von 176 000 Jahren klar vor Ankunft des modernen Menschen entstand.
Und nun gleich drei quer über ganz Spanien verteilte Höhlen mit Malereien: La Pasiega im Nordosten Spaniens, Maltravieso im Westen und Ardales im Süden. Während man bei den anderen Artefakten noch darüber diskutieren konnte, ob sie tatsächlich mit künstlerischer Absicht geschaffen wurden, erübrigt sich diese Debatte bei Höhlenmalereien. Wer gezielt eine Ockerpaste über Hand und Felswand schmiert oder pustet, so dass nur noch der Negativabdruck der Hand zurückbleibt, der hat eine klare Vorstellung davon, was er erreichen will – das Ziel, das dieser Mann oder diese Frau verfolgt, kann nur der künstlerischen, rituellen, spirituellen oder kommunikativen Sphäre entstammen. Von »symbolischem Denken« sprechen Wissenschaftler.
Erfolg bei der Datierung
Bekannt sind die eher unauffälligen Malereien der drei Höhlen schon länger. Dass Hoffmann und Kollegen sie nun den Neandertalern zuordnen, liegt allein an den verbesserten Datierungsmöglichkeiten. Die Forscher machten sich zu Nutze, dass das Wasser, das über die Höhlenwände rinnt und auf den Malereien Kalkablagerungen bildet, winzige Spuren Uran enthält. Aus dem Mengenverhältnis des heute noch vorhandenen Urans zu seinem Zerfallsprodukt Thorium lässt sich ablesen, wann die Kalkablagerungen entstanden. Liegen sie über oder unter dem Ockerstrich, ergibt sich ein Höchst- respektive Mindestalter, wobei dank Fortschritten in der Analytik inzwischen geringste Probenmengen für ein erstaunlich präzises Ergebnis genügen. Der Schaden an der Felskunst reduziert sich so auf ein Minimum. Gemeinsam mit anderen Experten in der Uran-Thorium-Datierung machte sich MPI-Forscher Hoffmann daran, das Alter diverser Höhlenmalereien in Südwesteuropa zu ermitteln. Und fand schließlich, unter lauter erwartbaren Ergebnissen, drei bemerkenswerte Ausreißer.
Für die Malereien in den drei Höhlen gibt das Team in »Science« jetzt Mindestalter von 64 800 Jahren (La Pasiega), 66 700 Jahren (Maltravieso) und 65 500 Jahre (Ardales) an. Die Kunst der Höhlenmalerei ist mit einem Schlag gut 20 000 Jahre älter geworden.
Zudem gab es in Ardales offenbar mindestens eine weitere Episode vor 45 900 Jahren – für die Teammitglieder ein Beleg dafür, dass sie es nicht mit einem zeitlich begrenzten Aufblühen von Kreativität zu tun haben, sondern mit einer »langen Tradition, die gut und gerne zur Entstehungszeit der Ringkonstruktion in der Bruniquel-Höhle in Frankreich zurückreichen mag«. Also noch weitere 100 000 Jahre in die Vergangenheit.
Das untermauert eine andere aktuelle Veröffentlichung, bei der Hoffmann ebenfalls als Erstautor auftritt. Mit Hilfe der Uran-Thorium-Datierung hat das Wissenschaftlerteam darin das Alter der Fundschichten bestimmt, in der die bereits erwähnten gefärbten Muschelschalen aus der Cueva de los Aviones auftauchten. Laut dem Artikel in »Science Advances« gelangte der mutmaßliche Schmuck bereits vor 115 000 Jahren in die Erde.
Neandertaler: Nase vorn?
Damit sind entsprechende Funde aus dem Wirkungskreis des Homo sapiens merklich jünger. Bisherige Rekordhalter wie gefärbte Muschelschalen aus der Blombos-Höhle in Südafrika kratzen höchstens an der 100 000-Jahr-Marke. Das älteste Handnegativ fand man in Sulawesi, es ist 39 900 Jahre alt, und eine wenig eindrucksvolle rote Scheibe in der Höhle El Castillo, Spanien, wurde auf 40 800 Jahre datiert. Auf Grund ihres Alters passte sie gerade noch ins Raster, um den praktisch zeitgleich eintreffenden anatomisch modernen Menschen zugeschrieben zu werden.
Läuft der Neandertaler damit unseren unmittelbaren Vorfahren in Sachen kultureller Innovationsfreude gar den Rang ab? Das bleibt auch angesichts der neuen Funde fraglich. Bekanntlich brachte es der Neandertaler nie zu vergleichbaren kulturellen und technologischen Höhenflügen wie der moderne Mensch, sondern starb aus. Seine Fähigkeiten zu symbolischem Denken mögen grundsätzlich vorhanden, gleichwohl aber begrenzt gewesen sein. Eine wirkliche intellektuelle Gleichwertigkeit folgt jedenfalls aus den Funden nicht.
Und lassen sich die Datierungen nicht auch umgekehrt deuten? Als Beleg für eine noch unerkannte Wanderung des anatomisch modernen Menschen ins heutige Spanien? Tatsächlich zeigen Forschungsergebnisse der jüngsten Vergangenheit, dass dessen Migration keineswegs in so geregelten Bahnen verlief wie einst angenommen. Doch: Ohne die zugehörigen Knochen oder Werkzeugfunde die Existenz einer Geisterpopulation anzunehmen, nur um das Bild des kognitiv minderbemittelten Neandertalers aufrechterhalten zu können, dürfte selbst hartgesottenen Skeptikern schwerfallen.
Für João Zilhão von der Universität de Barcelona, der an beiden Studien mitwirkte, ist darum die Debatte um die Kunstsinnigkeit des Neandertalers ein für alle Mal beendet. Seit Jahren verficht er engagiert die Idee einer kognitiven Gleichwertigkeit von modernem Mensch und Neandertaler, aller Kritik zum Trotz. »Ich möchte die Gesichter meine Kollegen sehen, wenn sie diese Paper lesen«, sagt er, ebenfalls in »Science«.
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