News: Im Zikadenleben zählen Zahlen
Bemerkenswert an diesen Tieren ist nicht nur ihre Pünktlichkeit – die Prognosen liegen höchstens eine Woche daneben, sondern auch ihre Lautstärke ist beispiellos. Denn bei 100 Dezibel hört man selbst den Straßenverkehr nicht mehr. Schließlich ist auch ihr massenhaftes Auftreten von einigen Millionen Tieren pro Hektar sowie das Rätsel ihrer massenhaften Vermehrung in Intervallen von 13 oder 17 Jahren mehr als erstaunlich und bewirkt eine entsprechend hohe Anziehungskraft auf Touristen und Journalisten. Das massenhafte Auftreten der Zikaden kann evolutionsbiologisch so erklärt werden, dass potenzielle Räuber der Zikaden – beispielsweise Vögel oder Wespen – übersättigt werden. Kurzum es ist immer dafür gesorgt, dass genügend Zikaden überleben, um die Art zu erhalten.
Die Vermehrung im Intervall von 13 oder 17 Jahren erklärt man ebenfalls mit Jäger-Beute-Beziehungen: Wäre die Zyklenlänge beispielsweise zwölf Jahre, so könnten die Zikaden von allen synchronisierten Räubern gefressen werden, die alle 1, 2, 3, 4, 6 und 12 Jahre erscheinen. Mutieren die Zikaden jedoch in einen Zyklus von 13 Jahren, so sind nur noch die Arten, die jedes Jahr oder alle 13 Jahre auftreten, Fressfeinde. Im Allgemeinen sollten demnach Primzahlen – also Zahlen, die nur durch sich selbst und durch eins teilbar sind – für Vermehrungsintervalle bevorzugt sein. Die nächstgrößere Primzahl nach der 13 ist die 17 – also genau die Zykluslänge der Zikaden im Verbreitungsgebiet im Nordosten der USA. Obwohl diese evolutionsbiologische Erklärung schon recht alt ist, gab es noch keine mathematische Modellierung der Evolution dieser Insekten.
Mario Markus und Oliver Schulz vom Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie und Eric Goles von der Universidad de Chile entwickelten jetzt ein Evolutionsmodell, das durch Mutation und Selektion von Räuber und Beute Primzyklen der Beute erzeugt. Die deutsch-chilenische Forschergruppe konnte mathematisch zeigen, dass ein Primzyklus der Beute stabil gegenüber zyklenverändernden Mutationen von Räubern oder Beute ist, und dass ein Nicht-Primzyklus der Beute nach einer endlichen Zahl von Mutationen verändert wird.
Dann gingen die Forscher zwei Wege: Im ersten Weg betrachteten sie – neben der zeitlichen Entwicklung – auch die räumlichen Aspekte der Insektenvermehrung, indem sie die Wechselwirkung zwischen benachbarten Populationen berücksichtigten. Dabei erhielten sie – wie in der Natur – durch Selbstorganisation entstandene Territorien, in denen 13 und 17 Jahre als bevorzugte Zyklen vorkommen.
Im zweiten Weg kehrten sie der Natur den Rücken und nahmen als Anfangsbedingungen Zyklen an, deren Länge bis an die Grenzen der Rechenkapazität reichten, auch wenn sie biologisch völlig unrealistisch waren. In solchen Fällen war die Simulation bei sehr hohen Primzahlen stabil, was zugleich heißt, dass das Modell sehr große Primzahlen erzeugt. Dies ist jedoch von grundsätzlichem Interesse, auch über die Biologie hinaus: Denn bei der Jagd nach immer größeren Primzahlen werden immer neue Rekorde erzielt. Das Einzigartige an der deutsch-chilenischen Arbeit ist, dass die Primzahlen mit einem biologischen Modell erzeugt werden. Das Evolutionsmodell verknüpft damit zum ersten Mal Zahlentheorie und biologische Modellierung.
In den biologischen Annahmen des Modells gibt es bisher noch Lücken, da der Jäger der Zikaden noch nicht gefunden wurde. Die Biologin Christine Simon von der University of Connecticut spekuliert etwa, dass eine ausgestorbene parasitische Wespe der Jäger gewesen sein könnte, kalifornische Wissenschaftler denken an den Pilz Massospora cicadina, der Zikaden befällt. Nach den Physikern und Informatikern sind jetzt also wieder die Biologen an der Reihe, weiterzuforschen.
Die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) ist eine vorwiegend von Bund und Ländern finanzierte Einrichtung der Grundlagenforschung. Sie betreibt rund achtzig Max-Planck-Institute.
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