Astrophysik: Ins Innere von Pulsaren blicken
Seit einem halben Jahrhundert beobachten Astronomen und Physiker Pulsare, das sind schnell rotierende Neutronensterne, und fragen sich: Wie kann ein Körper mit nur 10 bis 20 Kilometer Durchmesser so viel Masse enthalten wie unsere Sonne? Wie ordnen sich die Bausteine der Materie an, um eine derart unvorstellbare Dichte zu ermöglichen? Mit Hilfe von Experimenten im Labor lassen sich diese Fragen nicht beantworten. Doch ein spezielles Röntgenteleskop, das Anfang Juni 2017 an Bord einer Dragon-Kapsel des Unternehmens SpaceX zur Internationalen Raumstation ISS gebracht wurde, könnte endlich Antworten liefern. Der »Neutron Star Interior Composition Explorer«, kurz NICER, soll den Astronomen erstmals einen Blick in die Herzen dieser geheimnisvollen Objekte ermöglichen.
Als eine Art kosmischer Leuchtturm schießen die Pulsare gebündelte Strahlen durchs All – ebendiese Eigenschaft führte im Jahr 1967 zu ihrer Entdeckung. Ein Neutronenstern ist der kollabierte Überrest eines explodierten Sterns. Das Verhalten der Materie in seinem dichten Kern könnte Erkenntnisse liefern über die fundamentalen Wechselwirkungskräfte von Elementarteilchen und über Schwarze Löcher sowie andere kosmische Objekte.
»Die Mission ist ein gewaltiger Schritt dahingehend, die Eigenschaften der dichtesten Materie im Kosmos zu verstehen«, sagt Tetsuo Hatsuda, theoretischer Physiker am japanischen Forschungszentrum RIKEN. »Seit der Entdeckung der Pulsare zählt der Zustand der Materie bei der im Kern eines Neutronensterns herrschenden extrem hohen Dichte zu den ungelösten Problemen sowohl der Kernphysik als auch der Astrophysik.«
»Mit NICER können wir erstmals eine ungefähre Vorstellung davon bekommen, wie Neutronensterne im Inneren aussehen«, hofft Nathalie Degenaar, Astrophysikerin an der Universität Amsterdam. Auf der Internationalen Raumstation soll das waschmaschinengroße Instrument Röntgenstrahlen von Hotspots an den magnetischen Polen der Neutronensterne empfangen. Daraus wollen die Forscher schließlich die Größe der Sterne berechnen.
»Mit NICER können wir erstmals eine ungefähre Vorstellung davon bekommen, wie Neutronensterne im Inneren aussehen«
Nathalie Degenaar
Dieser Wert ist von entscheidender Bedeutung: Bei einer bestimmten Größe dürfte der Kern des Neutronensterns starr sein, um dem Druck der Gravitation standzuhalten. Er besteht dann vermutlich aus frei beweglichen Neutronen, die dichter gepackt sind als in Atomkernen. Ist der Neutronenstern aber noch kleiner, so ist sein Kern vermutlich »weich«, eine Art Flüssigkeit, in der die Neutronen in ihre Bestandteile, die Quarks, aufgelöst sind. In noch exotischeren Modellen besteht der Kern aus so genannten Hyperonen. In normaler Materie kommen sie nicht vor; sie enthalten »Strange-Quarks«, also »seltsame Quarks«.
»Ferner hoffen wir, die kritische Masse von Neutronensternen zu bestimmen, oberhalb der die Gravitation den Druck überwiegt und der Stern zu einem Schwarzen Loch kollabiert«, so Zaven Arzoumanian, der am Goddard Space Flight Center der NASA tätig ist und als einer der wissenschaftlichen Leiter der NICER-Mission fungiert. Hätte man eine bessere Vorstellung von den extrem dichten Materiezuständen, ließen sich außerdem die Modelle für die letzten Momente der Verschmelzung zweier Neutronensterne verbessern – ein Ereignis, das die Gravitationswellendetektoren von LIGO im August 2017 erstmals auf der Erde nachgewiesen haben. Die Gravitationswellen solcher Kollisionen werden Physikern mittelfristig enorm dabei helfen, das Innere von Neutronensternen besser zu verstehen – und so vermutlich eine wichtige Ergänzung zu den von NICER gewonnenen Einsichten darstellen.
Masse bestimmt über Krümmung des Lichts
Das ISS-Instrument fängt von Pulsaren ausgesandte elektromagnetische Wellen auf. Das starke Gravitationsfeld der Neutronensterne verbiegt diese Strahlung. Über den zeitlichen Verlauf der Intensität können die Astronomen Informationen über das Gravitationsfeld erhalten und damit letztlich das Verhältnis von Masse zu Radius bestimmen. Zusätzlich lässt sich die Masse über das Spektrum der Röntgenstrahlung und seiner zeitlichen Veränderung ermitteln. Aus der Kombination beider Methoden können die Astronomen die Größe eines Neutronensterns mit doppelt so hoher Genauigkeit bestimmen, als es mit älteren Methoden möglich war.
Um diese komplexen Phänomene tatsächlich zu beobachten, muss NICER möglichst viele Photonen eines Pulsars empfangen. Das Gerät nutzt dazu insgesamt 56 Röntgendetektoren, die für den »weichen«, also den niederenergetischen Röntgenbereich von 0,2 bis 12 Kiloelektronenvolt optimiert sind. In diesem Spektrum leuchten die Neutronensterne am hellsten. Das Auftreffen der Röntgenphotonen auf die Detektoren lässt sich dabei mit einer Genauigkeit von weniger als 100 Nanosekunden bestimmen. »Die Präzision der Zeitmessung ist erheblich besser als alles, was es bislang gab«, sagt Ronald Remillard, Astrophysiker am Massachusetts Institute of Technology im US-amerikanischen Cambridge. Sobald das Instrument seine primäre Pulsar-Mission abgeschlossen hat, möchte der Wissenschaftler damit beobachten, wie Materie von Schwarzen Löchern aufgesogen wird.
NICER soll außerdem eine neue Navigationsmethode testen, mit der zukünftige Raumfahrzeuge ihre Positionen ohne Hilfe irdischer Teleskope bestimmen können. Ähnlich wie das irdische GPS Zeitsignale von Atomuhren auf Satelliten zur Positionsbestimmung nutzt, verwendet das neue System dazu die Radiosignale von zehn Pulsaren.
Laut Keith Gendreau, Astronom am Goddard Space Flight Center der NASA und einer der Chefwissenschaftler der NICER-Mission, soll die Technik bereits bei Orion-Missionen der NASA zumindest als Ergänzung zur konventionellen Navigation eingesetzt werden, falls der Test erfolgreich verläuft: "Wir können dann Pulsare für die Navigation in unserem Sonnensystem nutzen – und sogar darüber hinaus."
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