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Insektensterben in den Tropen: Zu heiß für Sechsbeiner

Selbst in offensichtlich unberührten Tropenwäldern scheint es einen schleichenden Verlust an Artenvielfalt zu geben. Hinweise darauf finden Fachleute bei Insekten und auch bei Vögeln, die von dieser Beute leben. Steckt der Klimawandel dahinter?
Eine Sammlung bunter tropischer Käfer

In Zentralamazonien, etwa 80 Kilometer nördlich der brasilianischen Stadt Manaus, scheint die Welt auf den ersten Blick noch in Ordnung zu sein. Während sich die Sägen und Brände anderenorts immer weiter in die grüne Wildnis hineinfressen, ist der Wald hier noch weitgehend intakt. Weder gibt es nennenswerte Kahlschläge noch wurde das Reich der Bäume in kleine Fragmente zerstückelt. Und auch sonst hat der Mensch die Landschaft hier kaum verändert. Trotzdem scheint der lange Arm der Zivilisation bis in diese entlegene Region zu reichen.

Schon seit Jahrzehnten sind Philip Stouffer von der Louisiana State University und seine Kollegen hier der reichen Vogelwelt auf der Spur. Etwa um das Jahr 2008 fiel ihnen auf, dass sie manche ihrer alten Bekannten immer seltener zu Gesicht bekamen. War das Zufall oder ein Besorgnis erregender Trend? Um das herauszufinden, haben die Forscher die Daten von örtlichen Vogelzählungen aus mehr als 35 Jahren analysiert. Die Ergebnisse der 2020 in den »Ecology Letters« veröffentlichten Studie sind ernüchternd. Denn trotz der scheinbar intakten Landschaft sind etliche Vogelarten seit dem Beginn der 1980er Jahre massiv zurückgegangen.

»Wir glauben, dass hier eine Erosion der biologischen Vielfalt im Gange ist«, sagt Philip Stouffer. »Und das ausgerechnet in einem Gebiet, von dem wir dachten, dass wir seinen Reichtum erhalten können.« Was steckt hinter dem rätselhaften Schwund? Einige Probleme, die der Vogelwelt anderswo zu schaffen machen, kann das Team für sein Untersuchungsgebiet praktisch ausschließen. So werden die betroffenen kleinen Vögel dort kaum gejagt oder in Fallen gefangen. Es sind keine invasiven Arten aufgetaucht, die ihnen als Konkurrenten oder Feinde zu Leibe rücken könnten. Und es gibt auch keine Hinweise auf neue Krankheitserreger.

Vielmehr scheint das Schicksal der einzelnen Arten von ihren kulinarischen Vorlieben abzuhängen. So sind viele Vögel, die sich von Früchten ernähren, seit Anfang der 1980er Jahre sogar häufiger geworden. Schlecht sieht es dagegen für Insektenfresser wie den Stummelschwanz-Ameisenvogel (Myrmornis torquata) oder den Orpheus-Zaunkönig (Cyphorhinus arada) aus, die am Boden unter abgefallenen Blättern nach Kleingetier stöbern. Möglicherweise wird für solche Arten das Futter knapp, weil der Klimawandel ihre Beutetiere dezimiert.

Entomologe auf Nachtfalterjagd | Mit Lichtfallen untersuchen Biologen die Vielfalt tropischer Nachtfalter. In einigen Regionen mussten sie in den letzten Jahren einen deutlichen Rückgang bei der Diversität und Menge der Insekten feststellen.

Noch sind das allerdings nur Vermutungen. Denn bisher ist wenig darüber bekannt, wie sich veränderte Temperatur- und Niederschlagsverhältnisse auf die Insektenwelt am Boden und in der untersten Etage des Regenwalds auswirken. Umso wichtiger ist es in den Augen der Forscher, über diese Zusammenhänge mehr herauszufinden. »Selbst in den am wenigsten berührten Regionen des Planeten scheinen sich Dinge zu verändern, ohne dass wir überhaupt etwas davon wissen«, sagt Philip Stouffer. »Wir müssen da dringend besser hinschauen.«

Raupen als Mangelware

Tatsächlich kommen auch aus anderen Tropenregionen Hinweise auf einen schleichenden Insektenschwund, der nichts mit der Zerstörung des Walds zu tun hat. Daniel Janzen und Winnie Hallwachs von der University of Pennsylvania untersuchen zum Beispiel schon seit 1978 Raupen und deren Parasiten in der Area de Conservación Guanacaste im Nordwesten Costa Ricas.

Dieses 1260 Quadratkilometer große Schutzgebiet-Netzwerk umfasst tropische Trocken-, Nebel- und Regenwälder und gehört seit 1999 zum Welterbe der Menschheit. Das Gebiet sei von globaler Bedeutung für den Schutz der tropischen Artenvielfalt, betont die UN-Kulturorganisation UNESCO, die den Titel verleiht. Tatsächlich leben in dieser grünen Schatzkammer nicht nur mehr als 7000 Pflanzenarten und charismatische Säugetiere wie Tapire, Jaguare und verschiedene Affen. Dazu kommen nach Schätzungen von Janzen und Hallwachs mindestens eine halbe Million Arten von Insekten, Spinnen, Tausendfüßern und anderen Gliedertieren.

Doch obwohl die Fläche der geschützten Gebiete in der Region seit 1971 immer weiter angewachsen ist, beobachten die Forscher bei der Menge und Vielfalt von Insekten den umgekehrten Trend: Die Heerscharen von Nachtfaltern und ihren Raupen, die früher am Rand des Trockenwalds unterwegs waren, sind seit etwa 1990 deutlich zurückgegangen.

Dokumentieren können die Forscher das unter anderem mit Fotos, die sie im Lauf der Jahre stets zur gleichen Jahreszeit und unter ganz ähnlichen Bedingungen in dunklen Neumondnächten aufgenommen haben. Das Bild vom 27. Mai 1984 zeigt eine Lichtfalle, an der es nur so vor Faltern wimmelte. Am 30. Mai 2019 hatten sich dagegen von den gleichen Lampen bloß noch ein paar Vertreter weniger Arten anlocken lassen.

Wie am Amazonas haben die Forscher auch in diesem Fall den Klimawandel als wahrscheinlichste Ursache des Insektenschwunds im Visier. Denn die Temperaturen und Niederschläge in der Area de Conservación Guanacaste haben sich in den letzten Jahrzehnten messbar verändert. Während das Thermometer in den 1960er und 1970er Jahren im Schnitt an 116 Tagen im Jahr auf Temperaturen von 32 Grad Celsius oder mehr kletterte, herrscht inzwischen an 193 Tagen eine solche Hitze. Zugleich hat sich die Trockenzeit, die jahrhundertelang rund vier Monate dauerte, auf mehr als sechs Monate verlängert. Und es wird immer schwieriger vorherzusagen, wann genau die Niederschläge kommen, wie lange sie dauern und wie viel Wasser sie bringen. Das macht den Insekten der Region das Leben zunehmend schwer. Denn das Leben der meisten ist auf den gewohnten Wechsel von Regen- und Trockenzeiten ausgerichtet.

Auf nichts ist mehr Verlass

So kriechen die Raupen des Nachtfalters Manduca dilucida normalerweise zu Beginn der Regenzeit im Mai und Juni durch den Trockenwald Costa Ricas. Dann verpuppen sie sich und verbringen die nächsten zehn Monate unter der Erde, bis sie zu Anfang der Regenzeit im Mai darauf als erwachsene Falter auftauchen, sich paaren und mit ihren Eiern ein neuer Zyklus beginnt.

In letzter Zeit aber gibt es im August oft eine besonders trockene und heiße Phase, die dann abrupt von einer deutlich kühleren zweiten Regenzeit im September abgelöst wird. In manchen Jahren lassen sich die Nachtfalter davon offenbar verwirren. Die Erwachsenen flattern dann schon im September statt im Mai um die Lichter, ihre Raupen gehen dementsprechend bereits im September und Oktober auf Fresstour.

Schmetterlinge saugen Salze auf Kaiman | Insekten spielen eine überragende Rolle in tropischen Ökosystemen – als Bestäuber, Zersetzer, Beute und Räuber. Doch selbst in relativ unberührten Regionen sind mittlerweile starke Veränderungen feststellbar.

Dieses falsche Timing überlebt der Nachwuchs meist nicht. Vielleicht machen ihm zu dieser Jahreszeit mehr Feinde und Parasiten zu schaffen oder es gibt weniger gutes Futter. Jedenfalls sind die einst ziemlich häufigen Falter deutlich seltener geworden. Statt Hunderten fangen die Forscher im Mai mit Glück noch ein halbes Dutzend in ihren Lichtfallen. Das hat auch Folgen für andere Arten, die auf diese Insekten angewiesen sind. Die parasitische Wespe Mokajoppa respinozai etwa, deren Nachwuchs in den Raupen heranwächst, finden die beiden US-Forscher in ihrem Untersuchungsgebiet nur noch sehr selten.

Doch der Klimawandel verändert nicht nur die Temperaturen und Niederschlagsmuster in den trockenen Gebieten der Region. In den Nebelwäldern an den Flanken der Vulkane lösen sich die dichten Wolken immer häufiger ganz auf oder ziehen sich zumindest in größere Höhen zurück. Auch die spezialisierten Bewohner dieser Ökosysteme müssen dadurch mit einer heißeren und trockeneren Umwelt zurechtkommen. Zudem verlieren viele Insektenarten aus dem Tiefland ihre kühlen und feuchten Refugien in den Wolken, in denen sie früher die Trockenzeit verbrachten. Und während die einen unter Wassermangel leiden, haben die anderen mit den häufigeren und extremeren Überschwemmungen zu kämpfen, die der Klimawandel mit sich bringt. Dieses Phänomen hat in Costa Rica wohl ebenfalls zum Verschwinden ganzer Nachtfaltergattungen beigetragen.

Die Tücken der Tropen

In vielen anderen tropischen Regionen sind Insekten und Co noch nicht lange und intensiv genug beobachtet worden, um einen möglichen Schwund nachweisen zu können. Es gibt aber Theorien, nach denen gerade die Bewohner dieser Regionen besonders empfindlich auf den Klimawandel reagieren könnten. Schließlich ist das typische Tropenklima ziemlich ausgeglichen und zeigt keine großen Schwankungen zwischen den Jahren oder Jahreszeiten. Deshalb können sich die Insekten dort womöglich nicht so gut auf neue Verhältnisse einstellen wie ihre Verwandten in höheren Breiten.

Hinweise darauf haben Curtis Deutsch von der University of Washington in Seattle und seine Kollegen schon 2008 gefunden, als sie die Temperaturvorlieben zahlreicher Insekten aus aller Welt analysierten. Aus Laborversuchen weiß man recht genau, wie viel Hitze und Kälte einzelne Arten vertragen und bei welchen Temperaturen sie sich am besten entwickeln. In einem Computermodell haben die Wissenschaftler diese Fitnesskurven mit Prognosen über die bis zum Ende des 21. Jahrhunderts zu erwartenden Klimaänderungen verknüpft.

Dabei zeigte sich ein klarer Trend: Zwar fiel die Erwärmung der Tropen im Vergleich mit anderen Regionen relativ bescheiden aus. Trotzdem hatte sie dort die verheerendsten Auswirkungen auf die Insektenwelt. Die Toleranz gegenüber höheren Temperaturen war bei den tropischen Arten im Schnitt nur ein Fünftel so hoch wie bei denen in gemäßigten Breiten. Nach Einschätzung des Forscherteams leben diese Tiere heute schon sehr nahe an jenen Verhältnissen, die sie am besten vertragen. Jede weitere Erwärmung kann sich daher negativ auswirken.

Curtis Deutsch und seine Kollegen halten es für unwahrscheinlich, dass die Tropenbewohner die negativen Folgen des Klimawandels durch Anpassungen oder das Abwandern in günstigere Gebiete vollständig kompensieren können. Ihren Berechnungen zufolge könnten die Wachstumsraten der dortigen Insektenpopulationen am Ende des 21. Jahrhunderts daher um bis zu 20 Prozent niedriger liegen als noch 100 Jahre zuvor.

Zahlreiche weitere Studien sind inzwischen ebenfalls zu der Erkenntnis gekommen, dass die tropischen Insekten besonders anfällig für die Folgen des Klimawandels sind. Ausgerechnet dort, wo die Ökosysteme mit ausgesprochen vielen Arten gefüllt sind, könnten die drohenden Verluste daher am größten sein. Arten der mittleren und hohen Breiten, die derzeit deutlich unter ihrem Temperaturoptimum leben, könnten dagegen von einem Wärmeschub zunächst sogar profitieren.

Blick in die Zukunft

Andere Experten bezweifeln das allerdings. Schließlich seien die Sechsbeiner in den gemäßigten Breiten gar nicht das ganze Jahr über aktiv, argumentieren etwa Frank Johansson von der Universität im schwedischen Uppsala und seine Kollegen. Daher litten diese Tiere nicht so stark unter den kalten Wintertemperaturen, wie man annehmen könnte – und würden dementsprechend auch weniger von einer Erwärmung profitieren.

Um diese Annahme zu überprüfen, hat sich das schwedische Team die von Curtis Deutsch analysierten Daten noch einmal vorgenommen und in den Fitnesskurven die Aktivitätszeiten der einzelnen Arten berücksichtigt. Laut diesen neuen Berechnungen könnten die Bewohner der gemäßigten Breiten ähnlich stark unter dem Klimawandel leiden wie ihre tropische Verwandtschaft.

Für das künftige Schicksal der einzelnen Arten spielt jedoch nicht nur ihre Temperaturtoleranz eine Rolle, sondern auch die geografische Verfügbarkeit ihrer Lebensräume. Und in dieser Hinsicht sind die Bewohner der gemäßigten Breiten im Vorteil. »In Europa zum Beispiel besteht für viele Insekten die Möglichkeit, den klimatischen Bedingungen hinterherzuziehen, solange ihre sonstigen Ansprüche erfüllt sind«, sagt Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle. Wem es also in südlicheren Regionen zu warm wird, verschiebt sein Verbreitungsgebiet weiter nach Norden. »Bei einigen Artengruppen beobachten wir schon, dass sie ihr Vorkommen in nördlichere Regionen ausdehnen oder sich dort neu ansiedeln«, berichtet der Forscher.

Flucht in die höheren Breiten

Wie die künftige Verbreitung aussehen könnte, haben er und seine Kollegen schon vor einigen Jahren für Tagfalter und Hummeln simuliert. Mit Computerprogrammen haben sie durchgespielt, welche Regionen die Ansprüche der einzelnen Arten in Zukunft erfüllen könnten. Für viele Tagfalter und Hummeln dürfte Europa demnach auch künftig noch Gebiete mit der passenden Kombination von Lebensbedingungen bieten. Die Tiere können dann sozusagen dorthin auswandern.

»In vielen tropischen Lebensräumen besteht eine solche Möglichkeit dagegen nicht«, sagt Settele. Das liegt nicht nur an den Insekten selbst, sondern auch an ihren Refugien. So können die dortigen Wälder bloß sehr eingeschränkt ausweichen, weil es die für sie günstigen Bedingungen unter den neuen klimatischen Konstellationen kaum noch geben dürfte. Und selbst wenn für sie noch Nischen existieren würden, könnten sie sich wegen ihres sehr langsamen Wachstums dort nicht so schnell entwickeln. Damit haben dann auch die Bewohner solcher Wälder schlechte Karten. »In Europa hingegen haben wir insbesondere in der Kulturlandschaft zum Teil Lebensräume, die weniger komplex und daher auch anspruchsloser sind«, erklärt der Ökologe. »Diese können wahrscheinlich eher ›wandern‹ als die Wälder der Tropen.«

Klar scheint jedenfalls zu sein, dass der Klimawandel zumindest für einen Teil der Insektenwelt eine echte Bedrohung ist. Zwar haben die Sechsbeiner im Lauf ihrer 450 Millionen Jahre währenden Geschichte schon allen möglichen Kapriolen getrotzt. Nun aber scheint die ungewöhnlich rasche Veränderung der Temperatur- und Niederschlagsverhältnisse sie vor extreme Herausforderungen zu stellen. Und vor diesem Einfluss sind Falter und Co offenbar nirgends sicher. Auch nicht an den entlegensten Flecken der Erde.

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