Ökologie: Invasion der Papageien
Auf dem New Yorker Green-Wood Cemetery schenkt man den Lebenden dieselbe Aufmerksamkeit wie den Toten. Gärtner pflegen den 194 Hektar großen Friedhof als Arboretum und als Habitat für mehr als 200 Brut- und Zugvogelarten. Doch viele Naturliebhaber interessieren sich überhaupt nicht für die heimischen Vögel. Stattdessen stehen sie am Eingangstor und richten ihre Ferngläser auf dessen neugotische Turmspitze. Sie wollen Papageien sehen.
Der städtische Friedhof beherbergt dutzende Mönchssittiche (Myiopsitta monachus) – langschwänzige, taubengroße, leuchtend grüne Papageien mit grau abgesetzter Stirn und Brust. Nicht nur am Green-Wood Cemetery, sondern in ganz New York City haben die Vögel ihre fassgroßen Nester aus Zweigen gebaut. Auch im benachbarten Bundesstaat Connecticut siedeln sie. Überall in den Vereinigten Staaten, ob in Chicago, Miami, New Orleans, Los Angeles oder Dallas, trifft man auf Mönchssittiche und andere Papageienarten. Guayaquilsittiche leben auf dem Telegraph Hill von San Francisco; Rosenköpfchen schmücken die Palmen von Phoenix. In den zehn größten Städten Mexikos sind Papageien allgegenwärtig, ebenso wie in Barcelona, Amsterdam, Brüssel, Rom oder auch in Tel Aviv und Singapur. Mit klangvollem Kreischen erobern Papageien die ganze Welt.
Von den rund 380 auf der Erde lebenden Papageienarten besitzen mindestens 60 eine Brutpopulation in einem Land außerhalb ihres natürlichen geografischen Verbreitungsgebiets. Jede erfolgreiche Neuansiedlung hat ihre eigene Geschichte: Einige davon scheinen harmlos zu verlaufen, andere stellen eine Bedrohung für die lokale Tierwelt dar; manche Arten sind in ihrem ursprünglichen Lebensraum nach wie vor verbreitet, andere finden in Städten ein Refugium, das sie vor dem Aussterben bewahrt. Sie alle tauchen als Nebenprodukt des weltweiten Haustier- und illegalen Wildtierhandels auf. Bekanntermaßen gelten Papageien als intelligent, anpassungsfähig, kreativ – und laut. »Es sind extrem gesellige Tiere, die in einer kognitiv komplexen sozialen Umgebung leben«, erklärt die Biologin Grace Smith-Vidaurre, die an der Michigan State University die Vögel erforscht. »Sie ähneln uns Menschen in vielerlei Hinsicht.«
So häufig wie Tauben
Die Geschichte der New Yorker Papageien beginnt in Südamerika. Als Smith-Vidaurre mehr über die Herkunft und das Verhalten der Mönchssittiche herausfinden wollte, hielt sie es für wichtig, die Tiere in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet aufzusuchen, das sich über Teile des zentralen Südamerikas einschließlich Argentinien und Uruguay erstreckt. Sie fragte den Wissenschaftler, der ihren Forschungsaufenthalt in Uruguay finanzierte, ob es bei ihm schwierig sei, die Vögel zu finden. Er verneinte und erklärte, er könne sie direkt von seinem Fenster aus hören – sie kämen dort so häufig vor wie Tauben. Die Sittiche leben in Städten, ernähren sich von Kultur- und Gartenpflanzen und nisten in exotischen Parkbäumen oder auf Hochspannungsleitungen.
Nicht immer sei klar, was eine bestimmte Papageienart in Habitaten jenseits ihrer natürlichen Verbreitungsgebiete so erfolgreich mache, sagt Smith-Vidaurre. Bei den Mönchssittichen gibt es jedoch Erklärungsansätze. Schon Charles Darwin (1809–1882) sah in der Vogelart 1839 einen bedeutenden Schädling der Landwirtschaft in Südamerika. »Diese Papageien leben stets in Schwärmen und richten große Verheerungen auf den Maisfeldern an«, notierte er in seinem Tagebuch. »Man erzählte mir, dass in der Nähe von Colonia [del Sacramento in Uruguay] innerhalb eines einzigen Jahres 2500 getötet wurden.«
Mönchssittiche gehören zu den wenigen Papageien, deren Kolonien Nester aus Zweigen bauen: aufwändig gestaltete, mehrkammerige Gebilde, welche die Vögel gemeinsam nutzen. Dank dieser Nester können die Sittiche in den gemäßigten Regionen Südamerikas überleben, wo die Temperaturen an kühlen Wintertagen oft unter zehn oder sogar fünf Grad Celsius fallen – sowie in der noch kälteren Stadt New York.
Ungewollte Ausbreitung
Die uruguayische Regierung betrachtet die Mönchssittiche nach wie vor als bedeutende Agrarschädlinge, und die Behörden des Landes führen regelmäßig Ausrottungsmaßnahmen durch. In den vergangenen fünf Jahrzehnten gehörte Uruguay zudem zu den Spitzenexporteuren dieser Vögel.
»Es sind extrem gesellige Tiere, die in einer kognitiv komplexen sozialen Umgebung leben«Grace Smith-Vidaurre, Michigan State University
Der Handel mit Wildtieren wird streng durch lokale, nationale sowie internationale Gesetze geregelt, insbesondere durch das Washingtoner Artenschutzabkommen CITES (Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora). Hier werden Listen von Arten geführt, deren Handel genehmigungspflichtig oder komplett verboten ist; darunter finden sich auch zahlreiche Papageienspezies. Mönchssittiche stehen derzeit zwar nicht darauf, doch in einigen Regionen – etwa im US-Bundesstaat Kalifornien – ist ihre Haltung als Haustier untersagt, da die Gefahr besteht, dass sie sich dann dort ungewollt ausbreiten und Schaden anrichten.
Die Attraktivität der Papageien für uns Menschen trug entscheidend dazu bei, dass sie heute weltweit zu finden sind. Jahrtausendelang hat man mit ihnen Handel getrieben und sie in die unterschiedlichsten Regionen transportiert. Bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. hielt sich Alexander der Große (356–323 v. Chr.) Papageien, die er aus Indien mitgebracht hatte. Auch bei den Römern waren exotische Vögel als Haustiere beliebt. In Nordamerika fanden Archäologen Knochen von Scharlacharas im Chaco Canyon in New Mexico – hunderte Kilometer nordwestlich ihres mittelamerikanischen Verbreitungsgebiets – und datierten sie mit Hilfe der Radiokarbonmethode auf das 10. Jahrhundert n. Chr.
»Diese Papageien leben stets in Schwärmen und richten große Verheerungen auf den Maisfeldern an«Charles Darwin
Dass Papageien außerhalb ihrer natürlichen Verbreitungsgebiete neue Populationen etablieren, scheint allerdings ein jüngeres Phänomen zu sein. 1855 wurden sie zwar bereits in Großbritannien nachgewiesen, aber erst in den 1960er Jahren stieg die Nachfrage nach Papageien als Haustieren sprunghaft an. Da immer mehr Vögel ihren Besitzern entflogen oder von ihnen frei gelassen wurden, bildeten sich in Städten rund um die Welt Papageienkolonien. In jener Zeit wurden Mönchssittiche zu Tausenden aus Südamerika in die Vereinigten Staaten importiert. 1968 brüteten die Vögel bereits in Illinois, 1971 auf Long Island. Und ab den 1970er Jahren kursierten Berichte über brütende Mönchssittiche in North Dakota.
Nordamerikas Papagei
Papageien sind in Nordamerika keineswegs neu. Der Karolinasittich (Conuropsis carolinensis), ein geselliger grüner Vogel mit gelbem Kopf, besiedelte einst weite Teile im Osten der USA. Sein Verbreitungsgebiet soll sich von Florida und der Atlantikküste westlich bis nach Texas und nördlich bis zu den Bundesstaaten Illinois und sogar New York erstreckt haben – also zum Großteil über jene Regionen, in denen heute der Mönchssittich vorkommt. Ebenso wie Letzterer teilte sich auch der Karolinasittich seinen Lebensraum regelmäßig mit Menschen und galt mitunter als Ernteschädling. Doch im Gegensatz zum heutigen urbanen Mönchssittich bevorzugte er feuchte Wälder mit altem Baumbestand. 1939 erklärte man ihn für ausgestorben – vermutlich hatte ihm eine Kombination aus Entwaldung, konkurrierenden invasiven Arten, eingeschleppten Krankheiten sowie der Jagd den Garaus gemacht. Es ist gut möglich, dass der Mönchssittich einen Teil der zuvor vom Karolinasittich besetzten Nischen einnimmt; aber es handelt sich um einen anderen Vogel, der in einer veränderten Welt lebt, in der es für anpassungsfähige Arten nur so von Möglichkeiten wimmelt.
Obgleich der Mönchssittich durch menschlichen Einfluss an fremde Orte gelangte, waren es die Vögel selbst, die das Beste aus ihren neuen Lebensumständen gemacht haben. Juan Carlos Senar, Forschungsleiter am Museu de Ciències Naturals de Barcelona, hatte aus purer Neugier begonnen, sich mit den Mönchssittichen in seiner Stadt zu beschäftigen. Bereits in den 1970er Jahren, bevor die Vögel zum Problem wurden, führte das Museum Forschungsarbeiten zu ihnen durch. Es ging um die Frage, wie sich Papageien fernab ihrer Heimat an eine andere Umgebung adaptieren. Senar beobachtete bei den Vögeln Verhaltensänderungen. So brüteten sie zunächst im Winter, als wenn in ihrer Ursprungsregion auf der Südhalbkugel Sommer herrschte, aber mit zunehmender Gewöhnung an die neue Umwelt verschoben sie ihren Brutzeitraum.
Im Jahr 2000 beauftragte die katalanische Regierung Senar und sein Team mit einer offiziellen Zählung der Mönchssittiche in Barcelona. Wie die Fachleute feststellten, war die Population der Vögel geradezu explodiert; mittlerweile geht ihre Zahl in die Tausende. Mit der steigenden Anzahl werden auch die problematischen Auswirkungen deutlich. Die Tiere halten sich normalerweise in von Menschen bewohnten Gebieten auf, wo sie – im Gegensatz zu anderen Papageien, die in Höhlen nisten – nicht unmittelbar mit heimischen Wildtieren konkurrieren. Dabei geraten die Sittiche jedoch manchmal mit Menschen in Konflikt, weil sie ihre Nester häufig auf Strommasten bauen und dadurch die Stromversorgung unterbrechen oder sogar Brände auslösen können.
»Wenn wir zu lange warten, wird es unmöglich, die Mönchssittiche unter Kontrolle zu bekommen«Carlos Senar, Museu de Ciències Naturals de Barcelona
In Barcelona verursachen die Vögel ganz unterschiedliche Schäden. Eine von Senars Untersuchungen hat ergeben, dass Mönchssittiche auf einer landwirtschaftlichen Nutzfläche außerhalb der Stadt für Ernteverluste von 28 Prozent beim Mais, 36 Prozent bei Pflaumen und 37 Prozent bei Birnen verantwortlich waren. Zudem knabbern sie für den Nestbau unzählige Zweige von lebenden Bäumen ab und fressen die Nahrung heimischer Vogelarten.
Senar erklärt nachdrücklich, dass er die Mönchssittiche liebt – er genießt es, ihnen zuzuschauen, und er verdient mit ihrer Erforschung seinen Lebensunterhalt. Doch es mache einen Unterschied, ob sich nur ein paar oder Tausende von ihnen in der Stadt herumtreiben. Wenn man nichts unternähme, um ihre Population zu regulieren, könnten sie binnen Kurzem Ökosysteme außerhalb der Stadtgrenzen in Mitleidenschaft ziehen, befürchtet Senar. »Sie sind unglaublich clever. Wenn wir zu lange warten, wird es nahezu unmöglich werden, sie unter Kontrolle zu bekommen.«
Forschungsnetz zur Überwachung der Halsbandsittiche
Eine weitere, ebenso liebenswerte Papageienart verdeutlicht, wie schwierig es tatsächlich werden kann, die Vögel zu kontrollieren, wenn sie sich außerhalb ihres natürlichen Verbreitungsgebiets ansiedeln: Der Halsbandsittich (Psittacula krameri), auch bekannt als Kleiner Alexandersittich, lebt in Südasien und Afrika südlich der Sahara, wo er besonders gut in vom Menschen veränderten Habitaten gedeiht. Der mindestens seit Viktorianischer Zeit als beliebter Käfigvogel gehaltene grüne Papagei mit den langen Schwanzfedern und dem pinkfarbenen Schnabel entkam in den letzten Jahrzehnten immer häufiger seinen Besitzern; und es dauerte nicht lange, bis er sich in den Städten Eurasiens und darüber hinaus etablierte. Anders als Mönchssittiche bauen Halsbandsittiche keine eigenen Nester. Sie sind auf Nisthöhlen angewiesen – eine begrenzte Ressource für die heimische Tierwelt – und scheuen nicht davor zurück, um solche Plätze zu kämpfen.
Als Halsbandsittiche anfingen, die Städte zu kolonisieren, schlossen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen, um die Vögel und deren Auswirkungen zu studieren. 2013 bis 2017 finanzierte die europäische Forschungsinitiative COST (Coopération européenne dans le domaine de la recherche scientifique et technique) das an der University of Kent angesiedelte Fünfjahresprojekt »ParrotNet«, bei dem ein Netz aus europäischen Fachleuten die Aufgabe erhielt, die Papageien zu überwachen und die Ergebnisse den lokalen Behörden mitzuteilen.
Emiliano Mori, Biologe an der italienischen Forschungsbehörde Consiglio Nazionale delle Ricerche und ehemaliges Mitglied von ParrotNet, wurde erstmals während eines Sommerurlaubs am Mittelmeer auf die Halsbandsittiche aufmerksam. Der Wissenschaftler fragte sich, wie sich die Papageien wohl auf die heimische Artenvielfalt auswirkten, und begann daraufhin, die Folgen ihrer Invasion genauer zu beobachten. Schon bald entdeckte er, dass Halsbandsittiche die Nisthöhlen einer kleinen europäischen Eulenart, der Zwergohreule (Otus scops), besetzten. Die Papageien dezimierten die Population der Eulen zwar nicht unmittelbar, vertrieben sie jedoch von ihren bevorzugten Plätzen.
Die Belege über negative Konsequenzen des Vordringens von Halsbandsittichen in neue Regionen mehren sich. Im Vereinigten Königreich verdrängen sie Vögel von Futterplätzen, und sie schrecken auch nicht davor zurück, Konkurrenten wie Blaumeisen oder Hausratten zu töten, während ihre Populationen in Städten rund um den Erdball weiter anschwellen.
»Ihre Anwesenheit bringt nichts Gutes«Emiliano Mori, Consiglio Nazionale delle Ricerche
»Ihre Anwesenheit bringt nichts Gutes«, betont Mori. »Wir können zwar nicht das gesamte Ausmaß ihrer Wirkung abschätzen, aber jedes Mal, wenn wir nachschauen, entdecken wir etwas Neues.« Forscher fänden fortwährend weitere von den Vögeln beeinträchtigte Arten, erläutert er.
ParrotNet informiert die Bevölkerung über die Probleme durch kurze Broschüren in verschiedenen Sprachen. In Spanien hat man sogar damit begonnen, Halsbandsittiche zu beseitigen. Derartige Ausrottungsprogramme stoßen wegen der anhaltenden Faszination der Menschen für diese Vögel allerdings auf Widerstand.
Proteste gegen die Bekämpfung
Der Niedlichkeitsfaktor der Papageien sei nach wie vor eine Herausforderung bei den Bemühungen, die Tiere in Schach zu halten, meint die Biologin Jane Anderson, die sich an der Texas A&M University in Kingsville auf charismatische invasive Arten spezialisierte. Anderson erforschte die Halsbandsittiche auf der hawaiianischen Insel Kaua'i, wo sie die lokale Landwirtschaft und heimische Tierwelt gefährden. Anhand von getöteten Exemplaren bestimmte die Wissenschaftlerin, wann die Sittiche brüten und wie man die (auf den ersten Blick gleich aussehenden) jungen von ausgewachsenen Weibchen unterscheiden kann. Sie erinnert sich an zahlreiche öffentliche Protestaktionen, welche die Maßnahmen zur Bekämpfung der invasiven Papageien zu behindern versuchten. Menschen fühlen sich zu Tieren mit babyartigen Merkmalen hingezogen – ein in der Psychologie als »Kindchenschema« bekanntes Phänomen: vergleichsweise riesige Augen, einen großen Kopf, einen weich wirkenden Körper. Das Töten von Schlangen mag keinen besonderen Aufschrei hervorrufen, doch Menschen mögen nun einmal Papageien.
Es sei wichtig, sich zu vergegenwärtigen, wie die Vögel eigentlich hierherkamen, sagt Anderson. Die Biologin möchte die Papageien keinesfalls dämonisieren, vielmehr betrachtet sie deren Kontrolle als ein Rückgängigmachen des von Menschen verursachten Schadens. »Die Wahrheit ist, dass der Mensch diese Tiere an die verschiedensten Orte gebracht hat. Ich kann verstehen, dass man es toll findet, einen Papagei in Barcelona zu sehen. Aber diese Vögel sollten dort nicht sein.«
Auch gilt es zu bedenken, dass unsere Großstädte keine sterilen Plätze sind, wo keinerlei schützenswerte Wildtiere leben. Städte können ökologisch ebenso wertvoll sein wie ihr Umland – New York City bildet beispielsweise einen bedeutenden Tummelplatz für Zugvögel. Am besorgniserregendsten dürfte die Tatsache sein, dass der Halsbandsittich eine bedrohte Fledermaus, den Riesenabendsegler (Nyctalus lasiopterus), ausgerechnet von jenem Ort verdrängt, an dem ihre größte bekannte Kolonie in Europa lebt: im María-Luisa-Park im spanischen Sevilla. Beim Kampf um die Baumhöhlen werden die Fledermäuse dort sogar mitunter von den Sittichen getötet.
Refugium für bedrohte Arten
Paradoxerweise können Städte für einige Papageienarten jedoch auch lebensnotwendige Habitate darstellen. Australische Metropolen beherbergen zahlreiche heimische Papageien, darunter den Gelbhaubenkakadu (Cacatua galerita). Dieser große, weiße, nach seinem irokesenschnittartigen Kopfschmuck benannte Vogel ist in den Gärten von Melbourne, Brisbane, Sydney und darüber hinaus ein alltäglicher Anblick. Obgleich sein Bestand insgesamt im Rückgang begriffen ist, wird er nicht als gefährdete Art eingestuft und hat in Städten einen Platz zum Überleben gefunden. Die Vögel bewohnen urbane Räume, seit es diese gibt, betont Lucy Aplin vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell, die auch an der Autralian National University in Canberra lehrt. »Papageien haben das Potenzial, sich bei entsprechender Gelegenheit schnell an anthropogene Veränderungen anzupassen.«
»Papageien haben das Potenzial, sich schnell an anthropogene Veränderungen anzupassen«Lucy Aplin, Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie
Im Gegensatz zu Mönchs- und Halsbandsittichen, die im Alter von einem bis drei Jahren mit der Brut beginnen und dabei jeweils mindestens drei Eier legen, brüten Gelbhaubenkakadus im Allgemeinen erst, wenn sie wenigstens drei bis vier Jahre alt sind, und legen pro Nistsaison nur zwei bis drei Eier. Sie sind wählerisch, was den Nistplatz betrifft, und suchen bevorzugt geräumige Höhlen in alten Bäumen auf. Trotzdem gedeihen sie prächtig in den großen Ballungsräumen Australiens.
Bestimmte Eigenschaften der Gelbhaubenkakadus prädestinieren sie geradezu für das Stadtleben. Zum einen fressen sie als Generalisten alles, was ihnen in den Schnabel kommt: von Früchten über wirbellose Tiere bis zum weggeworfenen Hühnerknochen. Zum anderen handelt es sich um hochintelligente soziale Wesen, die in der Lage sind, Probleme zu lösen und ihre Lösungen an andere weiterzugeben. Rund um das Stadtleben können diese Vögel eine regelrechte Kultur aufbauen und ihr Wissen über soziale Netzwerke austauschen – ähnlich wie Menschen es tun. So beobachtete Aplins Arbeitsgruppe ein bei Gelbhaubenkakadus in Sydney entstandenes Verhalten: Die Tiere haben gelernt, Mülltonnen zu öffnen. Eine Gruppe im Süden der Stadt beherrschte den Trick als Erstes und vermittelte ihr Können an Artgenossen auf nahe gelegenen Schlafplätzen. Vögel außerhalb des Netzwerks wissen nicht unbedingt, wie man die Abfallbehälter aufbekommt. Bei ihren Forschungsarbeiten fand Aplin zudem heraus, dass sich die Kakadus in Subkulturen aufgespaltet haben, da sie beim Öffnen der Mülltonnen unterschiedliche Techniken einsetzen.
Für einige gefährdete Papageienarten sind Städte womöglich mehr als nur ein weiterer behaglicher Platz, an dem sie sich zu Hause fühlen, sondern geradezu ein Rettungsanker. In einigen der größten Metropolen der Welt überdauern Papageien, deren Wildpopulationen vom Aussterben bedroht sind. Ein Beispiel: der Gelbwangenkakadu (Cacatua sulphurea) in Hongkong.
In den 1980er und 1990er Jahren seien über den Heimtierhandel zehntausende Gelbwangenkakadus aus ihrem Ursprungsland Indonesien nach Hongkong exportiert worden, erzählt Astrid Andersson, die als Postdoc an der University of Hong Kong forscht. Eine hinreichende Zahl Papageien entkam aus der Gefangenschaft oder wurde von ihren Besitzern frei gelassen und konnte in der Stadt eine Kolonie gründen. Obwohl ein Großteil Hongkongs bewaldet ist, nisten die Kakadus bevorzugt in den Zierbäumen des Stadtgebiets, wo sie auch auf Nahrungssuche gehen, und verdrängen dabei offensichtlich keine einheimischen Vogelarten.
Rund 200 Gelbwangenkakadus leben in Hongkong, etwa zehn Prozent ihres verbliebenen Bestands, sagt Caroline Dingle von der University of Hong Kong. Populationsrückgänge als Folge von Wilderei im natürlichen Lebensraum veranlasste die Weltnaturschutzunion IUCN dazu, die Art als vom Aussterben bedroht einzustufen. Andersson untersucht, ob Gelbwangenkakadus tatsächlich eine adäquate Zuflucht in der Stadt gefunden haben, wo sie keinem Wildereidruck ausgesetzt sind. »Es ist durchaus möglich, dass diese Populationen, wenn man sie in den Städten ein wenig unterstützt, als Archen für ihre Art fungieren können – als ›Backup-Populationen‹ für die natürlichen«, meint Andersson.
Veränderte Stimmen
Dennoch führen Stadtpapageien keineswegs nur ein angenehmes Leben. Es gibt Fressfeinde: Verwilderte Halsbandsittiche fallen zum Beispiel Greifvögeln zum Opfer, wie Emiliano Mori berichtet. Auch beim Gelbwangenkakadu ist weitere Forschungsarbeit nötig, um zu überprüfen, ob die Population in Hongkong als genetisches Reservoir zur Erhaltung der Art dienen kann oder sich durch das Stadtleben vielleicht schon zu stark verändert hat. Im Rahmen ihrer Studien geht Andersson ebenfalls der Frage nach, inwieweit sich die städtischen Kakadus genetisch von ihrer Ursprungspopulation unterscheiden.
Eine ähnliche Frage beschäftigt auch Grace Smith-Vidaurre. Sie erforscht die komplexen Lautäußerungen von Mönchssittichen in den Vereinigten Staaten sowie die diesbezüglichen Unterschiede zwischen wild lebenden und eingeführten Individuen. Jeder Papagei hat seine eigene, unverwechselbare Stimme mit einer veränderlichen Schreifrequenz. Die Rufe der Vögel im neuen Habitat erscheinen jedoch weniger komplex als die ihrer Artgenossen im natürlichen Verbreitungsgebiet, fand Smith-Vidaurre heraus. »Irgendetwas in ihrer Umgebung schränkt vielleicht ihr Vermögen ein, diese stimmliche Signatur zu erzeugen und wahrzunehmen«, vermutet sie. Aber wie beständig sind solche Veränderungen?, fragt sich die Forscherin. Könnte ein eingeführter Papagei wieder in seine Heimat zurückkehren und dort überleben?
Ob zum Guten oder Schlechten (und manchmal sogar beides): Papageien haben unsere Städte erobert. Ihre Fähigkeit, in von Menschen veränderten Lebensräumen zu gedeihen, ist ein Beleg für das, was diese Vögel so besonders macht und warum wir uns für ihren Erhalt in freier Wildbahn einsetzen sollten, während wir gleichzeitig auf die potenziellen Auswirkungen eingeschleppter Tiere achten müssen. Sie sind Erfinder, Problemlöser, Kontakteknüpfer und Überlebenskünstler – Eigenschaften, denen sie auch unsere Bewunderung verdanken. Manchmal ist es einfach nur vergnüglich, stehen zu bleiben und die Papageien zu bestaunen.
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