Meeresschutz: Ist der Ozean noch zu retten?
Im frühen 15. Jahrhundert erreichten portugiesische Seefahrer ein ungewöhnlich ruhiges, von einem Teppich aus goldbraunem Seetang bedecktes Gebiet des Atlantischen Ozeans. Träge drifteten ihre Schiffe, die allein durch die Kraft der Meeresströmungen getrieben wurden, unter einem windstillen Himmel dahin. Auf Grund der starken Ähnlichkeit mit einer Pflanze aus ihrer portugiesischen Heimat gaben die Seeleute der Braunalge den Namen Sargassum, und die Region wurde schließlich als die Sargassosee bekannt.
Inzwischen gilt dieser Teil des Atlantiks, von dem man zunächst annahm, es handele sich um eine ozeanische Wüste, als eine Art Regenwald des Meeres. Die Sargassosee zählt zu den außergewöhnlichsten und wertvollsten Ökosystemen unserer Erde und ist derartig reich an Nährstoffen, dass die in den Flüssen Europas und Amerikas lebenden Aale Wanderungen von vielen tausend Kilometern zurücklegen, um sich in diesen Gewässern fortzupflanzen.
Doch die Sargassosee stellt zugleich eine der am meisten verschmutzten und ökologisch beeinträchtigten Regionen des offenen Ozeans dar. Unmengen von Plastikmüll fangen sich in dem Wirbel aus Meeresströmungen, die dieses uferlose Seegebiet begrenzen, und als Folge der stark befahrenen Schifffahrtsrouten sind die hier lebenden Fischbestände zunehmend im Schwinden begriffen.
Wissenschaftler setzen sich daher nachdrücklich für den Erhalt der Sargassosee ein, und Regierungsvertreter aus zehn Ländern haben bereits ein unverbindliches Abkommen unterzeichnet, um dieses marine Ökosystem zu schützen. Ihre Bemühungen werden allerdings durch eine klaffende Lücke in den internationalen Rechtsvorschriften eingeschränkt, denn wie die Hälfte unseres Planeten unterliegt auch die Sargassosee nicht der individuellen Kontrolle einer einzelnen Nation. In einer bis zu 200 Seemeilen (370 Kilometer) breiten Zone vor der Küstenlinie kann jedes Land eigenständig darüber entscheiden, ob es seine Meeresgebiete schützt oder wirtschaftlich nutzt. Alles, was sich außerhalb dieser so genannten ausschließlichen Wirtschaftszone befindet, fällt unter den Begriff der internationalen Gewässer – die hohe See.
Völlig ungeschützt: Das offene Meer
Die Hochsee macht zwei Drittel aller Weltmeere aus, umfasst 90 Prozent der gesamten marinen Lebensräume und liefert jährliche Fischereierträge von bis zu 16 Milliarden US-Dollar (etwa 13,7 Milliarden Euro). Auch in anderer Hinsicht sind die offenen Ozeane von Bedeutung, denn sie gelten als ein Reservoir für wertvolle Minerale, wirksame Arzneimittel und umfassende Öl- und Gasreserven.
Während das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (United Nations Convention on the Law of the Sea, kurz UNCLOS) Aktivitäten in internationalen Gewässern wie etwa den Meeresbodenbergbau oder das Verlegen von Seekabeln regelt, werden Aspekte der internationalen Seeschifffahrt und des Walfangs sowie die Belange von Fischerei und Naturschutz auf regionaler Ebene von einer bunten Mischung aus etwa 20 weiteren Organisationen überwacht. Es existiert jedoch kein übergreifender Vertrag, der den Schutz der Artenvielfalt und den Erhalt empfindlicher Ökosysteme der Weltmeere in irgendeiner Weise garantiert.
Zurzeit gewinnen allerdings die Bemühungen um den Schutz der hohen See verstärkt an Dynamik. Im September dieses Jahres werden die Vereinten Nationen in New York City über ein Abkommen verhandeln, das aller Voraussicht nach eine Erweiterung des Seerechtsübereinkommens darstellen wird. In dem soll vereinbart werden, wie man die riesige gemeinschaftliche Ressource der Hochsee angemessen schützen kann, etwa durch Ausweisung von Naturschutzgebieten und Regulierung von Aktivitäten wie beispielsweise den Tiefseebergbau. Ferner könnte im Rahmen dieses Vertrags auch ein Weg gefunden werden, um alle Länder von der Erforschung bestimmter Tiefseeorganismen (deren Gene und Proteine möglicherweise eine Grundlage für neue Medikamente oder andere Substanzen bilden) profitieren zu lassen – beispielsweise durch eine gerechte Aufteilung finanzieller Erlöse oder durch Technologietransfer.
Schon jetzt werden die Verhandlungen als ein Pariser Klimaabkommen der Meere gepriesen, als eine entscheidende Gelegenheit zum Erhalt der am wenigsten erforschten Regionen unseres Planeten. »Wir haben die einmalige Chance, einen Vertrag auszuhandeln, der die Verwaltung von Aktivitäten auf hoher See in die Hände der Länder legt«, erklärt Lance Morgan, Präsident des Marine Conservation Institute in Seattle, Washington, einer gemeinnützigen Organisation zum Schutz der Meere.
Die Vereinten Nationen, regionale Fischereiverbände und Non-Profit-Organisationen haben bereits zahlreiche internationale Meeresregionen ausgewählt, die wie die Sargassosee besonderen Schutz verdienen. Einige Forscher sind jedoch skeptisch, ob die politischen Entscheidungsträger bei der Festlegung von Schutzgebieten und der Beurteilung von Umweltfolgen tatsächlich den wissenschaftlichen Empfehlungen folgen werden. Mit diesem Leitfaden zum Schutz der Hochsee möchte »Nature« im Vorfeld der Verhandlungen einen Überblick über die aktuelle wissenschaftliche Diskussion zu diesem Thema geben.
Sperrzonen im Ozean
Ein Schwerpunkt des Abkommens wird darin bestehen, sich auf ein Verfahren zur Ausweisung von Meeresschutzgebieten (Marine Protected Areas, kurz MPAs) zu einigen, in denen zumindest bestimmte Wirtschaftsaktivitäten gänzlich verboten sind. Werden MPAs in sinnvoller Art und Weise und an geeigneten Stellen eingerichtet, können sie in Meeresregionen mit starkem Artenschwund durchaus einen Beitrag zur Wiederherstellung der Biodiversität leisten. Selbst wenn Schutzgebiete nicht in der Lage sind, die Plastikverschmutzung oder die zunehmende Erwärmung und Versauerung der Ozeane aufzuhalten, tragen sie dennoch dazu bei, die Populationen verschiedener Meeresbewohner in ihrer Größe und Diversität zu stärken und ihre Resilienz gegenüber diesen Stressfaktoren zu erhöhen.
Um ein Massensterben von Meereslebewesen zu verhindern, sollten mindestens 30 Prozent der Weltmeere, die die verschiedenen Ökosysteme zu gleichen Teilen repräsentieren, für jegliche kommerzielle Nutzung gesperrt werden, raten Wissenschaftler. Knapp sieben Prozent der Ozeane sind derzeit gesetzlich geschützt – zumindest auf dem Papier. Allein in den vergangenen drei Jahren wurden 13 der weltweit größten Meeresschutzgebiete (jedes umfasst eine Fläche von mehr als 100 000 Quadratkilometern) in Küstengewässern rund um den Globus ausgewiesen. Die Errichtung dieser MPAs wurde im Wesentlichen durch ein von den Vereinten Nationen vereinbartes Ziel vorangetrieben, das vorsieht, zehn Prozent der Ozeane bis zum Jahr 2020 unter Schutz zu stellen.
In der Praxis hat sich aber die Umsetzung von Erhaltungsmaßnahmen häufig als äußerst unzureichend erwiesen. Um wirklich effektiv zu sein, muss ein Meeresschutzgebiet bestimmte Schlüsselmerkmale erfüllen: Es sollte sich um eine so genannte No-Take-Zone handeln, in der jegliche Wirtschaftsaktivität untersagt ist, seine Fläche sollte mindestens 100 Quadratkilometer betragen und von der ungeschützten Umgebung dauerhaft durch physische Barrieren in Form von Tiefenwasser oder Sand getrennt sein; zudem sollte auf eine strenge Durchsetzung der Schutzvorschriften geachtet werden. In einer vergleichenden Untersuchung von 87 MPAs kamen Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass Gebiete, die nur ein bis zwei der genannten Merkmale aufwiesen, in ihrer ökologischen Beschaffenheit nicht von befischten Meeresregionen zu unterscheiden waren.
Dennoch sind in vielen küstennahen Meeresschutzgebieten die Öl- und Gasexploration, Schifffahrt und Fischerei ohne besondere Einschränkungen gestattet. Nur zwei Prozent der gesamten Ozeane stellen ausgewiesene No-Take-Zonen dar; diese MPAs liegen größtenteils in tiefen tropischen Gewässern von geringer wirtschaftlicher Bedeutung und tragen somit wenig dazu bei, die allgemeine Ausbeutung der Meere zu verringern. Was die Hochsee betrifft, ist gerade einmal ein halbes Prozent ihres Gebiets für die kommerzielle Nutzung tabu; fast alle dieser No-Take-Zonen gehören zum größten internationalen Meeresschutzgebiet, das sich im Rossmeer vor der antarktischen Küste befindet und von einem regionalen Gremium aus 25 Nationen ins Leben gerufen wurde. »Wie es häufig bei Schutzzonen in Küstengewässern der Fall ist, besteht auch bei MPAs auf hoher See die Gefahr, dass diese in Gebieten von geringem kommerziellen Interesse ausgewiesen werden«, gibt die Expertin für Umweltmanagement Elizabeth De Santo vom Franklin and Marshall College in Lancaster, Pennsylvania, zu bedenken. Noch ist nicht darüber entschieden worden, inwieweit wissenschaftliche Empfehlungen hinsichtlich der MPAs in den von den Vereinten Nationen ausgehandelten Vertrag einfließen werden.
Überwachung und Gesetzesvollzug
Haben sich die Vertragsparteien auf die Festlegung von Schutzgebieten geeinigt, ist es dringend geboten, entsprechende Basisdaten zu erfassen. Der Census of Marine Life, ein Projekt zur umfassenden Erforschung der marinen Artenvielfalt aus den Jahren 2000 bis 2010, hat zwar viel zum heutigen Wissen der Forscher über die Lebewesen der Hochsee beigetragen, doch die Weltmeere sind inzwischen sowohl wärmer als auch saurer geworden und werden in einem weitaus stärkeren Ausmaß befischt. Aus diesem Grund besteht ein dringender Bedarf an aktuellen Daten, der vielleicht auch eine Phase neuer Entdeckungen in diesen Meeresregionen in Gang setzen könnte.
Dank einer neuen Satellitentechnik ist es möglich, Verstöße gegen die in den Meeresschutzgebieten geltenden Vorschriften genau zu überwachen. Im Jahr 2014 gründeten die Non-Profit-Organisationen SkyTruth und Oceana in Zusammenarbeit mit Google eine Initiative zur satellitengestützten Kontrolle von Fischereiaktivitäten namens Global Fishing Watch (GFW), die es unter der Voraussetzung eines WiFi-Zugangs möglich macht, Fischer auf dem Meer in Echtzeit zu verfolgen. Die mit Hilfe dieser Methode gewonnenen Daten deuten an, dass sich das Einflussgebiet der kommerziellen Fischerei auf mehr als die Hälfte der Ozeane erstreckt und etwa viermal so groß ist wie die landwirtschaftlich genutzte Fläche der Erde.
Die strafrechtliche Verfolgung der Nichteinhaltung von Schutzbestimmungen ist jedoch eine politische Angelegenheit und unterliegt daher dem Ermessen einzelner Länder. Eine Analyse von mehreren hundert küstennahen MPAs führte zu dem Ergebnis, dass personelle Ausstattung und Höhe der Finanzmittel die stärksten Indikatoren für den Erfolg eines Schutzgebiets darstellten. Laut Auskunft der Wissenschaftler war der ökologische Effekt von Meeresschutzgebieten, die ausreichend Mitarbeiter für Patrouillenfahrten und die Überwachung von Aktivitäten innerhalb der Schutzzone besaßen, fast dreimal so hoch wie die Wirkung von MPAs mit unzureichenden personellen Kapazitäten.
Bewertung von Umweltbelastungen
Sowohl an Land als auch in Küstengewässern werden neue kommerzielle Aktivitäten einer Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) unterzogen, um ihren Nutzen gegen eine mögliche Beeinträchtigung der natürlichen Flora und Fauna abzuwägen. Auf hoher See sind jedoch nur bestimmte Tätigkeiten einer solchen Regulierung unterworfen. Für die Grundschleppnetzfischerei, eine überaus zerstörerische Art des Fischfangs, wurde beispielsweise erst im Jahr 2006 eine gesetzlich vorgeschriebene UVP eingeführt, nachdem dieser Fischereimethode bereits unzählige Tiefseekorallen zum Opfer gefallen waren. Und sogar heute noch müssen bei den vielfältigen Formen der pelagischen Fischerei, der Aquakultur auf dem offenen Meer sowie beim Start von Raketen, deren Trümmer als Müll im Ozean landen, keine potenziellen Umweltfolgen berücksichtigt werden. Wissenschaftler fordern daher strenge Regulierungen für neue Wirtschaftstätigkeiten auf hoher See. Insbesondere das Thema Tiefseebergbau könnte bei den bevorstehenden UN-Verhandlungen für Spannungen sorgen.
Die im Rahmen des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen gegründete Internationale Meeresbodenbehörde (International Seabed Authority, ISA) hat bislang 29 Explorationslizenzen an Firmen wie etwa den US-amerikanischen Rüstungs- und Technologiekonzern Lockheed-Martin vergeben. Diese Genehmigungen gestatten es den Unternehmen, in den für die Rohstoffgewinnung interessanten Bereichen der ozeanischen Rücken und hydrothermalen Schlote Untersuchungen des Meeresbodens vorzunehmen. Momentan beschäftigt sich die ISA mit der Ausarbeitung von Vorschriften, die festlegen, zu welcher Art von Umweltverträglichkeitsprüfungen die Bergbauunternehmen künftig verpflichtet werden sollen.
Die Tiefseebiologin Cindy Van Dover von der Duke University in Durham, North Carolina, verweist auf die Sorge vieler Wissenschaftler, dass die von der Internationalen Meeresbodenbehörde erarbeiteten Bestimmungen nicht streng genug ausfallen könnten. Noch immer ist die Frage ungeklärt, ob Firmen an aktiven hydrothermalen Schloten, die ja bekanntlich umfangreiche und außerordentlich vielfältige biologische Lebensgemeinschaften beherbergen, Rohstoffabbau betreiben dürfen. »Wir Wissenschaftler sind der Auffassung, dass aktive Hydrothermalquellen geschützt werden sollten«, erklärt Van Dover, denn bislang ist Forschern nicht bekannt, ob sich diese Ökosysteme von den bergbaulichen Eingriffen wieder regenerieren können.
»Im Zusammenhang mit der Grundschleppnetzfischerei haben unsere Untersuchungen gezeigt, dass Erholungszeiten, ganz besonders im Fall von komplexen Lebensräumen wie denen der Tiefseekorallen, unter Umständen mehrere hundert Jahre betragen können«, verdeutlicht der Tiefseebiologe Paul Snelgrove von der Memorial University im kanadischen St. John's. »Ich glaube, wir müssen akzeptieren, dass wissenschaftliche Überlegungen nicht das einzige Entscheidungskriterium darstellen, doch auf alle Fälle hoffen wir, dass sie als wesentliche Punkte in diesem Abkommen Berücksichtigung finden werden.«
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