Geduld lernen: Nein. Jetzt!
»Gleich«, »bald«, »morgen«: Bei Kindern reichen manchmal schon die unscheinbarsten Wörter, um ein kleines Familiendrama auszulösen. Ganz gleich, ob es um den Zoobesuch geht, die Gutenachtgeschichte oder darum, dass Mama sich unbedingt das selbst gemalte Bild anschauen soll: Wenn Kinder etwas möchten, muss es sofort passieren – jetzt!
Dass bei ihnen Geduld noch keine Tugend ist, hat mehrere Gründe. So haben sie etwa noch kein ausgereiftes Verständnis für Zeit. Dauert eine halbe Stunde länger als 15 Minuten? Weshalb fühlen sich fünf Minuten mal kurz an, wenn es danach ins Bett geht, und mal ewig, wenn Oma und Opa erst in fünf Minuten zu Besuch kommen? Wann ist »gleich«, und weshalb muss man so unglaublich lange warten, bis Weihnachten ist? Solche und ähnliche Fragen stellen die Jüngsten schlicht vor Rätsel.
Allgemein seien Kinder präsenzorientiert und lebten im Hier und Jetzt, erklärt Marc Wittmann vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg. »Was wir als Erwachsene etwa in Meditationskursen erst lernen müssen, können Kinder noch. Das hat damit zu tun, dass ihre Zukunftsperspektive nicht so ausgeprägt ist«, sagt der Psychologe, der seit Jahren zum Thema Zeitwahrnehmung forscht. »Zukunft ist so abstrakt, dass Kinder sie nicht konstruieren können.«
Erst im Grundschulalter entwickeln Mädchen und Jungen die Fähigkeit vorauszudenken. Jean Piaget (1896–1980), der als Pionier der kognitiven Entwicklungspsychologie gilt, sprach auch von der Phase der konkreten Operationen. Sie beginnt im Alter von etwa sieben Jahren. Das Handeln der Kinder – und damit auch ihr Denken – wird ab diesem Zeitpunkt immer abstrakter. Zwar ist man inzwischen zu der Erkenntnis gekommen, dass Kinder schon deutlich früher als von Piaget angenommen zu kompetentem Denken in der Lage sind. So entwickeln sie zum Beispiel bereits mit rund vier Jahren die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und deren Perspektive zu übernehmen. Ein abstraktes Vorstellungsvermögen, das die Basis für ein Zeitverständnis bildet, besitzen sie in den ersten Lebensjahren hingegen noch nicht.
Emotionale Selbstregulation braucht Zeit
Darum ist Zeit insbesondere für Kleinkinder nicht greifbar. Begriffe wie »nachher« und »später« haben für sie keine Bedeutung. Dazu kommt: Geduld ist nicht angeboren. Werden sie auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet, sorgt das deshalb bei den Kleinsten für Frust, Wut und Unverständnis.
Kleine Kinder können diese Reaktion nicht bewusst steuern, sagt Birgit Elsner, Leiterin der Abteilung Entwicklungspsychologie an der Universität Potsdam. »Hat ein kleines Kind ein Bedürfnis, muss dieses schnell befriedigt werden, sonst hat es negative Gefühle. Und das ist es, was wir als Ungeduld bezeichnen.« Um die negativen Gefühle, die mit dem Vertrösten einhergehen, von allein abzuschwächen und sich zu beruhigen, ist die Fähigkeit zur emotionalen Selbstregulation vonnöten. Doch die muss sich erst entwickeln, erklärt die Expertin. Das dauert oft die gesamte Kindheit und Jugend über. Erst im jungen Erwachsenenalter ist der präfrontale Kortex, der sich an der Stirnseite des Gehirns befindet und eine zentrale Rolle bei der Handlungsplanung sowie der Impulskontrolle spielt, vollständig ausgereift. Studien deuten darauf hin, dass es Kindern umso besser gelingt, auf positive Dinge zu warten, je stärker der präfrontale Kortex bereits mit dem Striatum vernetzt ist – einem Kerngebiet im Vorderhirn, das mit Motivationsvorgängen im Zusammenhang steht und außerdem Teile des neuronalen Belohnungssystems beherbergt.
»Mit etwa sechs Monaten entdecken Kinder häufig erste Möglichkeiten, um sich selbst zu regulieren«Birgit Elsner, Entwicklungspsychologin
Vorher sind Kinder deshalb auf Hilfe von außen angewiesen, um ihre Ungeduld zu zügeln. Das gilt umso mehr, je jünger sie sind. »Mit etwa sechs Monaten entdecken Kinder häufig erste Möglichkeiten, um sich selbst zu regulieren«, erklärt Birgit Elsner. Diese Fähigkeit verbessere sich dann zunehmend – wenn die Eltern mithelfen. »Schon Babys lernen, wenn ihre Eltern ruhig mit ihnen sprechen und sie streicheln, dass ihnen Dinge wie diese dabei helfen können, sich zu beruhigen«, sagt Elsner.
Im Kindergartenalter haben viele Jungen und Mädchen bereits Verhaltensweisen erlernt, um die eigenen Gefühle zu kanalisieren und auch mit kürzeren Wartezeiten zurechtzukommen. Die mögen für Erwachsene manchmal nervtötend sein, etwa wenn das Kind an der Bushaltestelle plötzlich beginnt, laut zu singen oder umherzuhüpfen. Tatsächlich nutzen Kinder solche Strategien aber, um sich abzulenken und negative Emotionen zu regulieren. So überbrücken sie beispielsweise den Zeitraum, bis endlich der Bus mit Oma und Opa ankommt.
Manche Kinder sind einfach ungeduldiger als andere
Ob Kinder, die besonders geduldig sind und ihre Gefühle gut regulieren können, auch später als Erwachsene erfolgreicher sind, ist noch nicht abschließend geklärt. Ende der 1960er Jahre führte der Persönlichkeitspsychologe Walter Mischel seinen berühmten Marshmallow-Test durch. Dazu bot Mischel mit seinem Team vier- bis sechsjährigen Kindern eine Süßigkeit an. Sie hatten die Wahl, diese unmittelbar zu essen oder abzuwarten und dafür später ein zweites Marshmallow zu erhalten. Jahre nach dem Versuch untersuchte die Gruppe die Kinder erneut und stellte fest, dass jene Probanden, die bereits in jungen Jahren über eine gute Impulskontrolle verfügten, später erfolgreicher in der Schule waren als die Teilnehmer, die nicht abwarten konnten. Außerdem wiesen sie auch eine höhere Sozialkompetenz auf. Seitdem wurde viel über die Aussagekraft des Marshmallow-Tests diskutiert. Er ist jedoch nach wie vor ein gutes Beispiel, um zu zeigen, wie unterschiedlich Kinder sich verhalten, wenn es darum geht abzuwarten.
Dass manche Kinder ungeduldiger sind als andere, hängt vermutlich auch mit der Persönlichkeit zusammen. »Schon bei Babys ist das Temperament ausgeprägt«, sagt Birgit Elsner. Während manche Säuglinge sich erstaunlich gut mit sich selbst beschäftigen können, werden andere bereits nach wenigen Sekunden unruhig und lassen sich auch nicht so schnell beruhigen. »Die Fähigkeit zur Emotionsregulation hat wahrscheinlich auch eine angeborene Komponente«, schlussfolgert Elsner.
Andere Faktoren spielen jedoch ebenfalls eine Rolle. So zeigen Untersuchungen etwa, dass Mädchen im Durchschnitt ein wenig geduldiger sind als Jungen. Der Unterschied ist allerdings gering, und je nach Studiendesign fällt er mal etwas größer, mal etwas kleiner aus. Außerdem haben kulturelle Faktoren einen Einfluss darauf, in welchen Situationen sich Kinder besser oder schlechter beherrschen können. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Kaichi Yanaoka von der Universität Tokio stellten die Geduld von Kindern aus Japan und den USA im Jahr 2022 auf zwei verschiedene Arten auf die Probe: Einmal sollten die Kleinen einer leckeren Süßigkeit, einmal einem Geschenk für gewisse Zeit widerstehen. Kinder aus Japan zeigten sich dabei geduldiger, wenn es galt, auf das Essen zu warten, die Teilnehmer aus den USA konnten sich beim Präsent besser beherrschen. Die Autoren vermuten, dass dies mit unterschiedlichen Bräuchen zusammenhängt. So sei es in Japan üblicher, beim Essen zu warten, etwa, bis alle in Ruhe Platz genommen und dem Koch für die Speisen gedankt haben, während man in den USA mehr Wert darauf lege, dass Kinder nicht direkt über Geschenke herfallen.
Routinen erleichtern das Warten
Wie also gehen Eltern nun am besten damit um, wenn die Kleinen schnell ungehalten werden, und wie unterstützen sie ihre Kinder dabei, Geduld zu entwickeln? Förderlich wirken sich von Anfang an Routinen aus. Auf diese Weise lernen Kinder ihren Tagesablauf kennen und wissen genau, welche Handlung auf die nächste folgt. Bereits ab einem Alter von sechs Monaten erkennen Kleinkinder ein Muster in zeitlichen Abläufen: Holen die Eltern Löffel und Schüssel aus dem Schrank, gibt es wenig später Brei. Werden die Vorhänge zugezogen, ist wenig später Schlafenszeit. Solche Strukturen geben den Jüngsten Sicherheit und erleichtern ihnen das Abwarten.
Je älter Kinder werden, desto mehr wollen sie den Tagesablauf nach ihrer Vorstellung formen. Spätestens in der Autonomiephase mit etwa zwei Jahren stellen sie früher oder später fest, dass sich die eigenen Wünsche nicht immer mit denen der Erwachsenen decken. Und auch im Kindergartenalter fällt es vielen schwer, die eigenen Gefühle zu regulieren, wenn etwas nicht so funktioniert, wie sie es sich wünschen. Sind Unruhe, Weinen oder Schreien die Folge, sollten Eltern diese Gefühlsausbrüche unbedingt ernst nehmen, rät Elsner. Zu schimpfen, die Emotionen der Kleinen als unnötig abzutun oder sie gar zu ignorieren, sei kontraproduktiv, erklärt die Expertin. Denn die negativen Gefühle werden dadurch nur noch weiter verstärkt, dem aufgeregten Kind fällt es dann noch schwerer, seine Emotionen zu regulieren.
Schon bei Babys hilft es, einzelne Handlungen zu erklären
Stattdessen gilt es, auf das Kind einzugehen, seine Emotionen anzuerkennen und ihm das Abwarten zu erleichtern. Dabei sollte man dem Kind mitteilen, dass man seine Gefühle versteht, und gemeinsam nach einer Lösung suchen. Fragen wie »Was glaubst du, wie wir die Wartezeit verkürzen können?« können die Situation ebenso beruhigen wie konkrete Vorschläge zur Überbrückung der Wartezeit. Schon bei Babys hilft es, einzelne Handlungen zu erklären: »Zuerst nehme ich die Schüssel, dann rühre ich deinen Brei um und dann kannst du essen.« Auf diese Weise unterstützen Eltern ihre Kinder darin, Strukturen zu erkennen, und fördern so die Geduld der Jüngsten.
Bei Kleinkindern ab etwa zwei Jahren können Dinge wie ein Adventskalender helfen, längere Zeiträume begreifbar zu machen: Jeden Tag im Dezember darf das Kind ein Türchen öffnen, bis am 24. Dezember endlich Heiligabend ist. Auf diese Weise wird nicht nur die Wartezeit versüßt, es lernt gleichzeitig auch, dass Vorfreude etwas Schönes ist und Abwarten mit positiven Erlebnissen verknüpft sein kann. Vor dem Geburtstag können Eltern auf einen ähnlichen Trick zurückgreifen und die Kleinen etwa jeden Tag einen Ballon auf einem Bild ausmalen lassen.
Geht es um kürzere Zeiträume, sollten Eltern möglichst konkrete Aussagen machen. »Morgen fahren wir zu Oma und Opa« ist auch für Dreijährige oft ein abstrakter Satz. »Noch einmal schlafen, dann fahren wir zu Oma und Opa« ist hingegen anschaulicher. Und statt »Ich bin gleich fertig und dann basteln wir« könnten Eltern besser sagen: »Wenn ich die Spülmaschine zu Ende ausgeräumt habe, basteln wir.« Auch das Vorlesen eines Buchs oder andere Aktionen helfen Kindern dabei, Wartezeiten zu überbrücken und sie mit positiven Erlebnissen zu füllen. So lernen die Kleinen Schritt für Schritt, wie man auch mal warten kann.
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