Zoologie: Kopflos, aber ausbaufähig
Was ging da eigentlich im Kopf von Gliedertieren vor, in den letzten Jahrmillionen? Keiner weiß es so genau - bis jetzt endlich ein exotischer Ozean-Kerf unter dem Mikroskop reinen Tisch macht und ausplaudert, wie sein und seiner Verwandten Hirn hin- und herschwappte.
Asselspinnen können nicht sprechen. Außerdem gibt es zwar, rein technisch, Asselspinnen-Omas von kleinen Asselspinnen-Enkeln, niemals aber würden sich erstere in ein asselspinnengerechtes Ohrensessel-Analogon setzen, um von letzteren umringt ("Oma, erzähl doch mal von früher!") so etwas zu sagen wie: "Also, ich erzähle jetzt die Geschichte, wie wir Asselspinnen unseren Kopf bekommen haben. Es war einmal eine uralte, kopflose Asselspinnen-Ahnin, die ...". Aber, wie gesagt, das alles geht eben nicht. Also müssen wir uns die Geschichte von Amy Maxmen erzählen lassen.
Sie arbeitet an der Harvard-Universität, und findet Asselspinnen ziemlich spannend. Dafür gibt es einige wirklich gute Gründe, nicht zuletzt optische: Die bizarren Kreaturen des Meeresbodens scheinen aus nichts als Beinen zu bestehen, genauer gesagt, aus acht ziemlich langen. Erst bei genauem Hinsehen entdeckt man zwischen diesen eine Art Körperrest, in dem die Extremitäten eben verankert sind. An diesem Zentrum finden sich noch allerlei Merkwürdigkeiten mehr, da muss man dann aber schon sehr, sehr genau nachsehen.
Ein Grund mehr dafür, dass die Asselspinnen ziemlich spannend sind, ist im Übrigen ihre mysteriöse Herkunft – auch darüber, mit wem die Tiere eigentlich verwandt sind, disputieren Fachleuten heftig. Im Augenblick stecken die Pantopoda mit der Großgruppe unter einer Decke, in der auch Spinnen und Skorpione beheimatet sind. Und eben das ist falsch, meldet Maxmen nun nach ihrem mühseligen mikroskopischen Martyrium.
Der von ihr untersuchte winzige Gegenbeweis heißt Chelifore und ist eben eines jener genannten Mundanhängsel. Eigentlich dachte man bislang, diese seien etwas den Cheliceren analoges, jenen namengebenden typischen Mundklauen aller Cheliceraten, eben der Spinnen und Spinnenverwandten. Tatsächlich aber, und wir bleiben kurz im Zoologen-Original-Idiom, "entspringt die Innervation der Cheliforen, anders als die der Cheliceren, nicht dem Deuto-, sondern dem Protocerebrum."
Sensationell, was allerdings vielleicht erst nach einer Übersetzung klar wird: die Nerven des Mundwerkzeugs, und damit das Mundwerkzeug selbst, stammen ursprünglich nicht aus dem mittleren, sondern dem vorderen der drei Kopfsegmente der Asselspinne. Daraus ergeben sich zwei Schlussfolgerungen – eine wohl nur für Asselspinnenverwanschafts-Spezialisten spannende, und eine ziemlich weit reichende. Zur ersten: Weil Cheliceren nicht Cheliforen sind, sind Asselspinnen sicher nicht näher mit Spinnentieren als mit anderen Gliedertieren verwandt, sondern eine Außenseitergruppe. Gut, das hätte man mit gesundem Menschenverstand nach einem kurzen Blick auf einen typisch bizarren Vertreter vielleicht schon ahnen können.
Was Maxmen eigentlich wirklich herausgefunden hat, erschließt sich erst auf einen zweiten Blick: Die Asselspinnen sind die einzigen bekannten Arthropoden mit Kopfanhängen, die durch Nerven des vorderen der drei Hirnabschnitte versorgt werden. Das es derartiges überhaupt gibt, erschüttert eine der beiden Seiten im Disput um die Entstehung des Arthropodenkopfes: jene Vertreter, die den vorderen Abschnitt des Arthropodenhirns, das Protocerebrum, bislang als umquartiertes Nervenbündel-Überbleibsel eines mittlerweile verschwundenen, vorderen Kopf-Präsegmentes namens "Akron" ansehen, welches sich sonst nur noch als kümmerlicher Rest, dem "Labrum", vor den Mundwerkzeugen vieler Gliedertiere bemerkbar macht.
Mehr spricht nun für die Gegentheorie: Das Protocerebrum liegt in seinem immer schon ureigenen, dem vordersten Kopfsegment, das früher einmal Körperanhänge trug, die nur mittlerweile bei allen heutigen Arthropoden verloren gingen. Bei allen außer eben den Asselspinnen, die damit vielleicht auch den ursprünglichen Kopf-Bau des Vorfahren aller Arthropoden gut widerspiegeln. Ein "Akron" gab es damit wohl nicht, und das Labrum der Insekten und Spinnen ist tatsächlich ein im Laufe der Evolution gründlich umgemodelter Rest der ursprünglichen vordersten Extremitäten.
Graham Budd von der Universität Uppsala findet die Idee gut: Die hypothetische "mystische Struktur" namens Akron könne endlich zu Grabe getragen werden&nsbp;[2]. Die Gegenseite mag allerdings noch einen Pfeil im Köcher haben – sollte bei einer unabhängigen Verwandtschaftsanalyse herauskommen, dass trotz der jetzt vorgetragenen Indizien Asselspinnen und andere Spinnentiere doch nah verwandte Schwestergruppen sind, dann wäre ein ziemlich unentwirrbares Kuddelmuddel an Hinweisen entstanden, das nicht ganz so leicht aufzulösen sein dürfte. Endloser Disput, Teil X.
Bis dahin gilt aber erst einmal: Das Akron ist tot, es lebe das einst protocerebral versorgte Labrum, sowie die Asselspinne, die hiermit bis auf Widerruf als lebendes Fossil aller Arthropoden gelten muss. Sie ist dem primitiven Gliedertier-Universalvorfahren zumindest im Kopf ziemlich ähnlich. Übrigens, dieser gemeinsame Vorfahr lebte wohl irgendwann einmal vor rund 530 bis 490 Millionen Jahren. An derart graue Vorzeiten hätte sich wahrscheinlich eine Asselspinnen-Oma ohnehin nicht erinnern können, selbst wenn sie sprechen und erzählen könnte.
Sie arbeitet an der Harvard-Universität, und findet Asselspinnen ziemlich spannend. Dafür gibt es einige wirklich gute Gründe, nicht zuletzt optische: Die bizarren Kreaturen des Meeresbodens scheinen aus nichts als Beinen zu bestehen, genauer gesagt, aus acht ziemlich langen. Erst bei genauem Hinsehen entdeckt man zwischen diesen eine Art Körperrest, in dem die Extremitäten eben verankert sind. An diesem Zentrum finden sich noch allerlei Merkwürdigkeiten mehr, da muss man dann aber schon sehr, sehr genau nachsehen.
Genau das tat Maxmen. Um es sich nicht allzu einfach zu machen, interessierte sie sich aber nicht nur für die wenigen großen, ausgewachsenen Asselspinnenarten mit ihrer imposanten Beinspannweite von knapp 30 Zentimetern, sondern für den heranwachsenden Larvennachwuchs [1]. Hier sind, vage am Vorderende des unentwickelten Restkörpers der winzigen Larven, mit viel Mühe die wachsenden Mundwerkzeuge und deren Nervenstränge zu finden. Für ein derart kleinteiliges Interesse gibt es allerdings gute Gründe, wie Maxmen und Kollegen versichern – denn anhand der Kopfanhängselverdrahtung der Asselspinnenlarven glauben sie klären zu können, wie bei allen lebenden und toten Gliederfüßervertretern einmal der Kopf entstand. Eine Frage, die den Insekten-, Spinnen-, Skorpion- und Krebs-Genealogie-Freaks unter den Wissenschaftlern seit Jahrzehnten einfach keine Ruhe lässt: Schon 1975 bekam die Streitfrage den passenden Beinamen "Endloser Disput".
Ein Grund mehr dafür, dass die Asselspinnen ziemlich spannend sind, ist im Übrigen ihre mysteriöse Herkunft – auch darüber, mit wem die Tiere eigentlich verwandt sind, disputieren Fachleuten heftig. Im Augenblick stecken die Pantopoda mit der Großgruppe unter einer Decke, in der auch Spinnen und Skorpione beheimatet sind. Und eben das ist falsch, meldet Maxmen nun nach ihrem mühseligen mikroskopischen Martyrium.
Der von ihr untersuchte winzige Gegenbeweis heißt Chelifore und ist eben eines jener genannten Mundanhängsel. Eigentlich dachte man bislang, diese seien etwas den Cheliceren analoges, jenen namengebenden typischen Mundklauen aller Cheliceraten, eben der Spinnen und Spinnenverwandten. Tatsächlich aber, und wir bleiben kurz im Zoologen-Original-Idiom, "entspringt die Innervation der Cheliforen, anders als die der Cheliceren, nicht dem Deuto-, sondern dem Protocerebrum."
Sensationell, was allerdings vielleicht erst nach einer Übersetzung klar wird: die Nerven des Mundwerkzeugs, und damit das Mundwerkzeug selbst, stammen ursprünglich nicht aus dem mittleren, sondern dem vorderen der drei Kopfsegmente der Asselspinne. Daraus ergeben sich zwei Schlussfolgerungen – eine wohl nur für Asselspinnenverwanschafts-Spezialisten spannende, und eine ziemlich weit reichende. Zur ersten: Weil Cheliceren nicht Cheliforen sind, sind Asselspinnen sicher nicht näher mit Spinnentieren als mit anderen Gliedertieren verwandt, sondern eine Außenseitergruppe. Gut, das hätte man mit gesundem Menschenverstand nach einem kurzen Blick auf einen typisch bizarren Vertreter vielleicht schon ahnen können.
Was Maxmen eigentlich wirklich herausgefunden hat, erschließt sich erst auf einen zweiten Blick: Die Asselspinnen sind die einzigen bekannten Arthropoden mit Kopfanhängen, die durch Nerven des vorderen der drei Hirnabschnitte versorgt werden. Das es derartiges überhaupt gibt, erschüttert eine der beiden Seiten im Disput um die Entstehung des Arthropodenkopfes: jene Vertreter, die den vorderen Abschnitt des Arthropodenhirns, das Protocerebrum, bislang als umquartiertes Nervenbündel-Überbleibsel eines mittlerweile verschwundenen, vorderen Kopf-Präsegmentes namens "Akron" ansehen, welches sich sonst nur noch als kümmerlicher Rest, dem "Labrum", vor den Mundwerkzeugen vieler Gliedertiere bemerkbar macht.
Mehr spricht nun für die Gegentheorie: Das Protocerebrum liegt in seinem immer schon ureigenen, dem vordersten Kopfsegment, das früher einmal Körperanhänge trug, die nur mittlerweile bei allen heutigen Arthropoden verloren gingen. Bei allen außer eben den Asselspinnen, die damit vielleicht auch den ursprünglichen Kopf-Bau des Vorfahren aller Arthropoden gut widerspiegeln. Ein "Akron" gab es damit wohl nicht, und das Labrum der Insekten und Spinnen ist tatsächlich ein im Laufe der Evolution gründlich umgemodelter Rest der ursprünglichen vordersten Extremitäten.
Graham Budd von der Universität Uppsala findet die Idee gut: Die hypothetische "mystische Struktur" namens Akron könne endlich zu Grabe getragen werden&nsbp;[2]. Die Gegenseite mag allerdings noch einen Pfeil im Köcher haben – sollte bei einer unabhängigen Verwandtschaftsanalyse herauskommen, dass trotz der jetzt vorgetragenen Indizien Asselspinnen und andere Spinnentiere doch nah verwandte Schwestergruppen sind, dann wäre ein ziemlich unentwirrbares Kuddelmuddel an Hinweisen entstanden, das nicht ganz so leicht aufzulösen sein dürfte. Endloser Disput, Teil X.
Bis dahin gilt aber erst einmal: Das Akron ist tot, es lebe das einst protocerebral versorgte Labrum, sowie die Asselspinne, die hiermit bis auf Widerruf als lebendes Fossil aller Arthropoden gelten muss. Sie ist dem primitiven Gliedertier-Universalvorfahren zumindest im Kopf ziemlich ähnlich. Übrigens, dieser gemeinsame Vorfahr lebte wohl irgendwann einmal vor rund 530 bis 490 Millionen Jahren. An derart graue Vorzeiten hätte sich wahrscheinlich eine Asselspinnen-Oma ohnehin nicht erinnern können, selbst wenn sie sprechen und erzählen könnte.
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