Teilchenphysik: Leicht, leichter, Neutrino
Der Vakuumtank, in dem das Neutrino auf die bislang genaueste »Waage« soll, hat die Größe eines Blauwals. So gesehen passt es ganz gut, dass der Koloss über den Wasserweg ans Karlsruher Institut für Technologie (KIT) gelangte. Die Reise begann beim Hersteller im niederbayerischen Deggendorf. Entlang der Donau ging es ins Schwarze Meer, von dort über das Mittelmeer, die Nordsee und schließlich auf dem Rhein nach Karlsruhe – eine knapp 9000 Kilometer lange Odyssee.
Wäre die Größe nicht, hätte man es auch einfacher haben können: Der direkte Landweg hat weniger als ein Zwanzigstel der Strecke. Mit mehr als 23 Meter Länge und einem Durchmesser von rund 10 Metern war der Metalltank aber einfach viel zu groß für den Transport auf den Straßen Süddeutschlands. So traf er erst nach einer sechswöchigen Schiffsreise in Karlsruhe ein.
Das war im Jahr 2006. Zwölf Jahre später ist das Experiment startbereit. Am Montag, den 11. Juni, wurde KATRIN, das »Karlsruher Tritium Neutrino Experiment«, eingeweiht. Von da an hoffen die 200 beteiligten Wissenschaftler, die an insgesamt 20 Institutionen arbeiten, der genauen Masse des Neutrinos auf die Spur zu kommen.
Zu leicht für diese Welt
Bislang existieren dafür lediglich Ober- und Untergrenzen, die sich – je nach Modell – auch deutlich unterscheiden. Grob kann man sagen, dass die Masse der drei bekannten Neutrino-Varianten irgendwo in den Bereich zwischen 0,01 und ein Elektronvolt (eV) fallen sollte. Genaueres weiß man bisher nicht.
Fest steht aber: Die Geisterteilchen sind die mit Abstand leichtesten Partikel im Teilchenzoo. Die nächstschwereren Partikel, die Elektronen, haben eine Masse von gut einer halben Million Elektronvolt (oder knapp 10−32 Kilogramm). Und alle weiteren Bestandteile des Mikrokosmos bringen es wiederum auf ein Vielfaches davon.
Neutrinos zu wiegen, ist noch aus einem anderen Grund eine knifflige Aufgabe: Die Teilchen scheren sich so gut wie nicht um Hindernisse. Durch Materie rauschen sie einfach hindurch; durch den menschlichen Körper fliegen pro Sekunde etwa hundert Billionen von ihnen. Nur ein winziger Bruchteil tritt mit Atomkernen in Wechselwirkung.
Ungünstige Vorrausetzungen, wenn man sich für ihre genauen Eigenschaften der Teilchen interessiert. Doch Physiker lassen sich davon nicht abschrecken. Vor allem, weil sie von Neutrinos und ihrer Masse so einiges lernen können – sowohl über die Welt im Allerkleinsten als auch über das Universum als Ganzes.
Widerspruch zum Standardmodell
Was genau, das weiß Susanne Mertens. Die Wissenschaftlerin ist seit zehn Jahren am KATRIN-Projekt beteiligt. Begonnen hat sie als Doktorandin am KIT, mittlerweile ist sie Professorin am Max-Planck Institut für Physik in München. Mertens zufolge würde der genaue Wert der Neutrinomasse handfeste Auswirkungen auf das Weltbild der Teilchenphysiker haben. Das berühmte Standardmodell, das alle bekannten Elementarteilchen und die Wechselwirkungen zwischen ihnen beschreibt, könnte damit präzisiert oder womöglich sogar neu formuliert werden.
Denn eigentlich sind Neutrinos im Standardmodell masselos. Seit Beginn des neuen Jahrtausends sind Physiker allerdings fest davon überzeugt, dass das nicht stimmen kann: Im Jahr 2001 wiesen Wissenschaftler des kanadischen Sudbury Neutrino Observatory nach, dass Neutrinos im Flug ihre Identität wechseln und von einer Art in die andere »oszillieren«. Das Gleiche hatten Forscher des japanischen Detektors Super-Kamiokande bereits 1998 beobachtet. Für diese Entdeckung gab es 2015 den Physik-Nobelpreis.
Möglich ist der Artenwechsel der Neutrinos aber nur, wenn Neutrinos eine Masse haben – die im Standardmodell aber eben nicht auftaucht. Offensichtlich weist die Theorie also Ungereimtheiten auf. Generell ist bisher unklar, wie die Winzlinge überhaupt zu einer Masse kommen sollen.
Rätselhafter Ursprung der Masse
Der Higgs-Mechanismus, der die Masse anderer Elementarteilchen erkärt, funktioniert bei den Fliegengewichten nicht wirklich. Theoretiker suchen deshalb nach alternativen Erklärungen – und haben auch schon eine Reihe von Ideen. Beim Verifizieren beziehungsweise Verwerfen dieser Theorien jenseits des Standardmodells käme ihnen ein möglichst genauer Wert für die Neutrinomasse sehr gelegen.
Unbestritten ist auch, dass Neutrinos eine wichtige Rolle im Kosmos spielen. Vielleicht könnten sie sogar zur ominösen Dunklen Materie beitragen. Möglicherweise gibt es sogar noch eine weitere »sterile« Variante, die als Teilchen für den Dunkelstoff in Frage käme. Mit einer Erweiterung namens »Tristan« könnte KATRIN nach diesen hypothetischen Partikeln Ausschau halten.
Im Zentrum des Karlsruher Experiments steht aber erst einmal die Masse der bekannten Neutrinos: Mit einem präzisen Wert für diese hätten Astrophysiker einen Parameter, der in ihre Simulationen zur Entstehung und Entwicklung des Universums verbessern würde.
Keine Waage – aber fast
Aber wie wiegt man nun Neutrinos? Um das zu verstehen, muss man sich den Inhalt des blauwalgroßen Tanks am KIT genauer ansehen. Erstaunlicherweise beinhaltet er zunächst einmal ziemlich wenig, nämlich »das größte Vakuum der Welt«, wie Mertens sagt. In der extrem voluminösen Leere gibt es praktisch keine Einflüsse von Gasmolekülen. So werden die empfindlichen Messungen im Tank nicht gestört.
Daher kann ein riesiges Spektrometer im Inneren selbst winzige Energiemengen extrem genau bestimmen. KATRIN ist also eigentlich keine Waage im herkömmlichen Sinn, sondern ein Energiemessgerät. Da aber Energie und Masse zwei Größen sind, die sich über Einsteins berühmte Formel E = mc2 ineinander umwandeln lassen, kann KATRIN auf die Masse der flüchtigen Teilchen schließen.
Elektronen im Visier
Dazu bestimmt das riesige Messgerät allerdings nicht die Energie von Neutrinos, sondern die von Elektronen. Die Ladungsträger stehen in direkter Verbindung zu Neutrinos, sind aber deutlich einfacher zu detektieren. Beide Teilchen entstehen beim Zerfall von Tritium-Atomkernen, denen KATRIN das »TRI« in seinem Namen verdankt.
Tritium ist ein radioaktives Wasserstoffisotop mit zwei zusätzlichen Neutronen im Kern. Es zerfällt mit einer relativ kurzen Halbwertszeit von rund zwölf Jahren in ein leichteres Heliumisotop, wobei jeweils ein Elektron und ein Neutrino freigesetzt werden. Die Zerfallsenergie verteilt sich auf beide Teilchen. »Das Elektron kann also niemals die gesamte Energie haben, weil das Neutrino existiert«, erklärt Mertens.
Dem Elektron fehlt dabei mindestens diejenige Energie, die der Neutrinomasse entspricht. Das Problem: In den allermeisten Fällen greift das Neutrino – neben derjenigen Energiemenge, die für seine nackte Masse notwendig ist – einen erheblichen zusätzlichen Anteil ab.
Gesucht: Zweifache Lottogewinner
Man weiß also nicht, wie viel der dem Elektron fehlenden Energie auf die Masse und wie viel auf die Geschwindigkeit des Neutrinos entfällt. In ganz seltenen Fällen ist die Sache aber klar, und genau nach diesen sucht KATRIN: Wenn nämlich das Elektron den maximal möglichen Teil der Zerfallsenergie aufnimmt, kann man aus dem fehlenden Part die Energie bestimmen, die in der Masse des Neutrinos steckt.
Um die seltenen Ereignisse mit KATRIN aufzuspüren, werden zunächst alle Elektronen von der radioaktiven Quelle freigesetzt und mittels eines Magnetfelds in Richtung Energiedetektor gelenkt. Auf dem Weg dorthin filtern die Messgeräte alle Elektronen mit zu wenig Energie heraus. Viele bleiben danach nicht mehr übrig. »Wenn man ein Elektron sein will, das tatsächlich Information über die Neutrinomasse liefert, ist das ungefähr so, wie wenn man zweimal hintereinander im Lotto gewinnt«, verdeutlicht Mertens die Seltenheit des gesuchten Ereignistyps.
100 Milliarden Elektronen pro Sekunde
Beim genannten Glücksspiel ließe sich die Gewinnwahrscheinlichkeit erhöhen, indem man einfach unzählige Scheine ausfüllen würde. KATRIN braucht also schlicht eine genügend große Menge an Tritium. So wird gewährleistet, dass ausreichend viele Zerfälle stattfinden – im Experiment sind das sekündlich 100 Milliarden. »Davon ist etwa ein Elektron pro Sekunde interessant, beinhaltet also Informationen über die Neutrinomasse«, sagt Mertens.
Ein wichtiger Faktor, damit man diese aussagekräftigen Kerlchen auch alle erwischt, ist die Größe des Tanks. Und die ist es auch, die KATRIN so komplex macht. Mit einem Magnetfeld werden die Elektronen in Richtung Detektor geführt. Das führt dazu, dass die geladenen Teilchen zusätzlich zur Vorwärts- eine Kreisbewegung vollführen – wie auf einer Korkenzieherbahn schlängeln sie sich um die Magnetfeldlinie.
»Es kann sein, dass ein energiereiches Elektron es nicht zum Detektor schafft, weil zu viel seiner Energie in der Kreisbewegung steckt.« Deshalb schwächen die Forscher zur Mitte des Tanks hin das Magnetfeld ab, um etwa das 20 000-Fache seines ursprünglichen Werts. So stellen die Physiker sicher, dass die gesamte Energie in der Vorwärtsbewegung steckt.
Allerdings darf das nicht abrupt geschehen, sondern nur ganz allmählich. Ein Drahtseilakt, der nur auf einer längeren Strecke gelingen kann. Deshalb ist der Tank von KATRIN mehr als 20 Meter lang. Auf diese Weise lässt sich aber bewerkstelligen, dass es nur die Elektronen mit der richtigen Energie bis ans Ende der voluminösen Kammer schaffen.
Der Countdown läuft
Am 11. Juni 2018 sollte es losgehen mit den Messungen. Die ersten Testläufe haben die Forscher bereits erfolgreich hinter sich gebracht. Gebannt hätten sie alle auf die Monitore geschaut, und als die gemessenen Spektren aussahen wie erwartet, sei die Freude groß gewesen.
Wenn alles läuft wie geplant, wird KATRIN sich in den kommenden fünf Jahren Betrieb einem genaueren Wert für die Neutrinomasse nähern. Dieser Zeitraum ist notwendig, um genügend von den seltenen energiereichen Elektronen zu erwischen. Erst dann reicht die Anzahl der Messungen aus, um statistische Schwankungen auszugleichen und die Masse mit ausreichender Präzision bestimmen zu können.
Konkurrenz aus der Kosmologie
Momentan ist allerdings noch unklar, ob am Ende ein Wert für die Neutrionmasse herauskommen wird: Schon jetzt gibt es Abschätzungen auf Basis kosmologischer Beobachtungen, die eine Höchstgrenze von 120 Millielektronvolt setzen. »Diese Limits sind mittlerweile so stark, dass KATRIN unter Umständen keinen Wert der Neutrinomasse messen wird«, erläutert Werner Rodejohann vom Max-Planck Institut für Kernphysik, der nicht an dem Experiment beteiligt ist.
»Wenn das Neutrino zu leicht ist, werden wir nur eine Obergrenze von 200 Millielektronvolt setzen können«, sagt auch Mertens. Das sei aber immer noch ein Erfolg, da dieser Wert um das Zehnfache kleiner wäre als die bisherige Obergrenze mit der Tritiummethode. Und das Ergebnis wäre unabhängig von kosmologischen Modellen, in die viele Annahmen über das frühe Universum einfließen. Das sei ein großer Vorteil gegenüber allen anderen Methoden, so Mertens. »Kosmologische Beobachtungen hängen sehr vom zu Grunde liegenden kosmologischen Modell ab.«
Das bedeutet: Bevor man misst, muss man Annahmen treffen. Ist die Hypothese falsch, dann ist der Messwert wertlos. Das kann bei KATRIN nicht passieren. Das sieht auch Werner Rodejohann so. Es sei wichtig, eine Messung der Neutrinomasse im Labor zu versuchen – schließlich könnte es sein, dass die Abschätzungen mit Hilfe der Kosmologie danebenliegen. In jedem Fall sei das Experiment beeindruckend, da die Messungen wahnsinnig schwierig und kompliziert seien.
Sehr wahrscheinlich wird das Karlsruher Experiment bereits nach einem halben Jahr weltbeste Limits für die im Labor ermittelte Neutrinomasse setzen. In fünf Jahren werden die Verantwortlichen einen Wert mit nie dagewesener Genauigkeit verkünden können.
Dann werden auch weitere Experimente die Jagd auf die Neutrinomasse eröffnet haben, etwa das US-amerikanische »Project 8«, das dem Tritiumzerfall mit einer anderen Methode nachspürt. Einen anderen Weg gehen mehrere Wissenschaftlerteams, welche das Gewicht der Teilchen anhand des Massenunterschieds der Isotope Holmium-163 und Dysprosium-163 ermitteln wollen, beispielsweise das Heidelberger ECHO-Experiment. Vielleicht gelingt es KATRIN oder einem der anderen Detektoren ja, das Neutrino tatsächlich auf die Waage zu legen.
Mitarbeit: Robert Gast
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