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Antimaterie: Der feine Unterschied wird greifbar

Die Ergebnisse eines neuen Experiments elektrisieren Physiker: Bald könnten sie verstehen, warum es im Weltall so viel mehr Materie als Antimaterie gibt.
Neutrinos vor schwarzem Hintergrund

Fast wäre es mit dem Universum nichts geworden. Als im Urknall Myriaden Elementarteilchen entstanden, verschwanden die meisten von ihnen gleich wieder. Denn neben der uns bekannten Materie war auch fast genauso viel Antimaterie entstanden. Binnen Sekundenbruchteilen trafen also all die Teilchen im jungen Kosmos auf entgegengesetzt gepolte Antiteilchen – und zerstrahlten so in etlichen Strahlungsblitzen.

Aber dabei wurde nicht sämtliche Materie vernichtet. Ein tapferer Rest überdauerte das Chaos am Anbeginn der Zeit. Zwar war das nur ein Bruchteil der ursprünglich im Urknall entstandenen Materie. Aber aus ihm bildeten sich im Lauf von Milliarden Jahren Sterne, Galaxien und Planeten. Und irgendwann auch Menschen.

Spur aus dem Quarksektor

Seit Jahrzehnten erklären Physiker diese kosmische Fügung mit einem subtilen Unterschied zwischen Materie und Antimaterie. Wegen ihm bildete sich im Inferno des Urknalls geringfügig mehr Materie, vermuten sie. Worin der Unterschied besteht, ist allerdings nach wie vor offen. Vermutlich ist es nur eine winzige Abweichung, die bei einigen seltenen Prozessen im Mikrokosmos zu Tage tritt.

So haben Wissenschaftler beispielsweise Antiwasserstoffatome im Labor untersucht, dabei aber bisher keine Abweichungen von gewöhnlichem Wasserstoff entdeckt. Einzig bei Quarks gibt es Hinweise auf den Materie-Antimaterie-Unterschied: Aus ihnen aufgebaute Partikel verhalten sich in manchen subatomaren Reaktionen ein wenig anders als Teilchen mit Antiquarks im Inneren, was selbst dann noch gilt, wenn man ihre unterschiedliche Ladung berücksichtigt.

Wissenschaftler sprechen von einer Verletzung der »CP-Symmetrie«. Aber die Differenz zwischen Quarks und Antiquarks ist viel zu klein, um die Materiedominanz nach dem Urknall zu erklären. Sie könnte allenfalls einen kleinen Teil der übrig gebliebenen Materie erklären.

Physiker vermuten deshalb, dass auch andere Elementarteilchen feine Unterschiede zu ihren Antiteilchen aufweisen. In den Fokus der Forscher sind hier vor allem Neutrinos geraten. Die geisterhaften Teilchen durchdringen Materie fast mühelos und sind praktisch nur mit großen Tanks unter der Erde überhaupt nachweisbar.

Außerdem haben sie einen beeindruckenden Trick auf Lager: Sie können mitten im Flug ihre Identität wechseln und sich von einer Art in eine andere verwandeln; Physiker sprechen von »Neutrinooszillationen«. Insgesamt stehen dabei nach heutiger Kenntnis drei Neutrinoarten zur Auswahl.

Wichtiges Puzzleteil?

Auf einer großen Konferenz in Heidelberg, der »28. Internationalen Konferenz für Neutrino- und Astrophysik«, haben Physiker Fortschritte bei der systematischen Untersuchung der schwer greifbaren Teilchen präsentiert. Den Experten zufolge könnten die Daten ein wichtiges Puzzleteil bei der Lösung des Materie-Antimaterie-Gleichgewichts enthalten, auch wenn sie bisher noch vorsichtig mit der Interpretation sind.

Antineutrino | Computerrekonstruktion einer Spur, die ein Antineutrino im NOvA-Detektor hinterlässt. Oben und unten sind verschiedene Perspektiven der Spur zu sehen.

Da sind zunächst die Ergebnisse des T2K-Experiments aus Japan, die bereits im Jahr 2017 für Aufsehen gesorgt haben. Sie deuten darauf hin, dass Antineutrinos mit einer anderen Wahrscheinlichkeit in andere Sorten oszillieren als Neutrinos, was für einen intrinsischen Unterschied sprechen würde.

Bisher können die T2K-Forscher allerdings nicht ausschließen, dass der Unterschied auf eine statistische Fluktuation zurückgeht, also nichts mit neuen Naturphänomenen zu tun hat. Bisher liegt die statistische Sicherheit hier bei rund »2 Sigma«, was einer Fehlerwahrscheinlichkeit von etwa fünf Prozent entspricht.

Neues Experiment bestätigt alte Fährte

Von daher hatte die Gemeinschaft der Neutrinoforscher gespannt auf die Ergebnisse eines anderen Experiments gewartet: Der NOvA-Detektor im US-Bundesstaat Minnesota analysiert einen Strahl aus Neutrinos, die ein Teilchenbeschleuniger im gut 800 Kilometer entfernten Forschungszentrum Fermilab auf den Weg geschickt hat.

In Heidelberg haben die Wissenschaftler nun erstmals bekannt gegeben, wie oft es dabei zu Antineutrinooszillationen kommt. Und siehe da: Auch die Daten dieses Experiments deuten auf ein abweichendes Verhalten der Antiteilchen hin, wie Mayly Sanchez von der Iowa State University berichtete.

Der weite Weg zu 5 Sigma

Der Raum für statistischen Zufall ist hier jedoch ebenfalls noch groß, zumindest für die strengen Maßstäbe der Teilchenphysik. Von einem unumstößlichen Nachweis sprechen Forscher erst ab einer Signifikanz von »5 Sigma«, also einer Fehlerwahrscheinlichkeit von 1 zu 3,5 Millionen.

Statistische Zweifel hin oder her: Gemeinsam wirken die Ergebnisse der Experimente jedoch wie eine spannende Fährte, meinten Experten auf der Neutrinokonferenz. »Es sieht so aus, als würde sich sowohl hier als auch da ein Signal aus den Daten herausschälen«, kommentiert Werner Rodejohann vom Max-Planck-Institut für Kernphysik. Und auch Morgan Wascko vom Imperial College London, einer der Leiter von T2K, gab sich bei der Präsentation der Daten optimistisch: »Die CP-Verletzung im Neutrinosektor ist in Reichweite.«

Die Forscher haben jedoch noch viele Jahre Arbeit vor sich, um den Unterschied zwischen Neutrinos und Antineutrinos dingfest zu machen. T2K wird momentan aufwändig modernisiert, und auch bei NOvA stehen Verbesserungen an. Vermutlich wird man frühestens Mitte der 2020er Jahre genügend Daten für einen sicheren Nachweis der CP-Verletzung haben – sofern die jeweiligen Ausbauten wirklich finanziert werden und die mutmaßlichen Signale nicht wieder im statistischen Rauschen verschwinden.

Ein weiteres Puzzleteil fehlt noch

Und vollständig erklären könnte man die Materiedominanz im frühen Universum auch mit der CP-Verletzung bei Neutrinos noch nicht, selbst wenn diese den größtmöglichen Wert annimmt. Dazu müsste man auch noch beweisen, dass der so genannte »Seesaw«-Mechanismus in der Natur vorkommt. Er gilt als das plausibelste Szenario für den Ursprung der Masse der Neutrinos, die viel geringer ist als die aller anderen bekannten Teilchen.

Demnach gab es kurz nach dem Urknall noch andere Arten von Neutrinos und Antineutrinos, welche bei der Gewichtsverteilung im frühen Universum den deutlich größeren Anteil abbekommen haben und so die Masse ihrer Geschwister klein hielten. Diese schweren Neutrino- und Antineutrinovarianten müssten jedoch instabil gewesen und rasch in andere Partikel zerfallen sein. Würden sie die CP-Symmetrie in ähnlichem Maße wie die leichteren Neutrinos verletzen, wäre das eine elegante Erklärung für den Materieüberschuss im heutigen Weltall, finden Physiker.

Die große Majorana-Frage

So weit die Theorie. Damit der Seesaw-Mechanismus stattfinden kann, müssen Neutrinos jedoch noch eine andere Eigenschaft haben: Sie müssen so genannte Majorana-Partikel sein, die sich von ihren Antiteilchen praktisch nicht mehr unterscheiden lassen. In diesem Fall käme es in manchen Atomkernen zu einem sehr seltenen radioaktiven Zerfall, dem »neutrinolosen Doppel-Betazerfall«, nach dem Experimentatoren seit Jahren denn auch fieberhaft suchen.

All diese Naturmechanismen lägen außerhalb des Standardmodells der Teilchenphysik, mit dem Wissenschaftler seit Jahrzehnten sehr erfolgreich den Mikrokosmos beschreiben – das sie aber verzweifelt durch eine noch umfassendere Theorie ersetzen wollen. Von Neutrinos erhoffen sich die Physiker daher wichtige Impulse in der Frage, wie diese aussehen könnte.

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