Mangelhafte Genstudien: Fehlerjäger finden falsche Gensequenzen in hunderten Publikationen
Die DNA- und RNA-Sequenzdaten in aktuellen Veröffentlichungen aus der Humangenetik enthalten erstaunlich oft Mängel, wie eine nachträgliche computergestützte Analyse belegt. Ein Team von Fehler suchenden Forschern kommt zu diesem Schluss, nachdem es rund 12 000 Veröffentlichungen untersucht und in mehr als 700 Studien festgestellt hat, dass die DNA- oder RNA-Sequenzen der dort eingesetzten Versuchsreagenzien keine korrekten Ergebnisse liefern konnten.
Damit seien sie auf »ein Problem alarmierenden Ausmaßes« gestoßen, sagt die Krebsforscherin Jennifer Byrne von der University of Sydney in Australien, unter deren Leitung die auf »BioRxiv« vorveröffentlichte Studie durchgeführt wurde. Beunruhigend große Teile von Untersuchungen über menschliche Gene seien demnach wohl nicht zuverlässig. Die Fehler könnten sich per Zufall eingeschlichen haben, mutmaßen die Forscher, sie könnten im Einzelfall aber auch auf Betrug hindeuten.
Byrne arbeitet bereits seit 2015 daran, Fehler in genetischen Studien zu finden. Damals war sie auf einen kurzen DNA-Abschnitt zur Inaktivierung eines Gens in Krebszellen aufmerksam geworden, der in fünf Arbeiten zu einem Experiment auftauchte. In diesen Studien waren jedoch falsche Nukleotidsequenzen im Methodenteil zu den Experimenten aufgeführt; zudem fielen in den Publikationen ähnliche Formulierungen und Datensätze auf. Die Vermutung lag nahe, dass die Studien auf Anfrage in einer kommerziell arbeitenden Publikationsfabrik entstanden sind. Vier der Studien sind seitdem zurückgezogen worden.
In der Folge deckte das Team um Byrne ähnliche Fehler in weiteren Publikationen auf. Bis 2017 entwickelten die Forscher mit dem Informatiker Cyril Labbé von der Université Grenoble Alpes das Softwaretool »Seek & Blastn« zur Fehlersuche in Gendaten. Es extrahiert automatisiert kurze Nukleotidsequenzen aus Dokumenten und gleicht mit der öffentlich zugänglichen Nukleotiddatenbank »Blastn« ab, ob die eingesetzte Zielsequenz überhaupt zu einem menschlichen Gen passt. Jede dabei automatisch markierte Fehlanpassung wird anschließend manuell überprüft.
Mit diesem Ansatz hat das Team nun erneut Studien in wissenschaftlichen Zeitschriften untersucht, in denen fehlerhafte Studien publiziert worden waren: so zum Beispiel 7400 in den Jahren 2007 und 2018 veröffentlichte Orginalarbeiten im Magazin »Gene« und alle zwischen 2014 und 2018 publizierten Open-Access-Arbeiten aus »Oncology Reports«. Bei der manuellen Überprüfung fanden sich dabei in zwölf Prozent der »Oncology Reports«-Paper Nukleotidsequenzfehler; in »Gene« dagegen nur in zwei Prozent der Fälle. Insgesamt wiesen etwa sechs Prozent aller untersuchten Arbeiten aus 78 Fachzeitschriften Fehler in den Sequenzen ihrer Nukleotidreagenzien auf. Zum Zeitpunkt ihrer Vorveröffentlichung sind lediglich elf der insgesamt 712 als fehlerhaft aufgefallenen Studien zurückgezogen worden, bei dreien wurden Bedenken geäußert, so Byrne.
Das Team der Fehlersucher hatte alle Redakteure der betreffenden Zeitschriften oder Verlage mit bekannten Kontaktdaten angeschrieben. In einigen Fällen sollen die Arbeiten demnach nun untersucht werden. Auf Nachfrage der Nachrichtenredaktion von »Nature« hat der Chefredakteur von »Oncology Reports« Demetrios Spandidos erklärt, er sei bereits von Byrne kontaktiert worden, habe aber noch nicht genug Zeit gehabt, um alle im Manuskript beschriebenen Daten zu bewerten. Der Chefredakteur von »Gene«, der Molekularbiologe Andre Van Wijnen, reagierte bislang nicht mit einer Stellungnahme. 29 der möglicherweise problematischen Studien erschienen in Zeitschriften, die vom Verlag »Springer Nature« herausgegeben werden (zu dem auch »Spektrum.de« und das Nachrichtenteam von »Nature« gehören, beide arbeiten redaktionell unabhängig vom Herausgeber). »Springer Nature« hat mitgeteilt, dass die fraglichen Arbeiten untersucht werden.
Fehler kommen, den Analysen zufolge, in Arbeiten zu ganz bestimmten Teilbereichen der Krebsgenetik prozentual häufiger vor: Fehlerhaft waren zum Beispiel mehr als ein Viertel von rund 600 untersuchten Arbeiten, welche sich mit der Wirksamkeit einer bestimmten microRNA, der Anwendung zweier spezieller Medikamente gegen Krebszellen oder mit dem Ausschalten bestimmter Gruppen von möglichen Tumorgenen beschäftigt haben.
Fehler könnten unbeabsichtigt passiert sein, sagt Byrne, allerdings seinen auch viele kaum plausibel erklärbare Ungenauigkeiten aufgefallen. So kamen etwa in manchen Fällen Reagenzien für Polymerase-Kettenreaktionen (PCR) zur Vervielfältigung von DNA zum Einsatz, die nicht auf bekannte menschliche Gene oder Sequenzen abzielten. Viele der problematischen Arbeiten haben Autoren verfasst, die mit chinesischen Krankenhäusern in Verbindung standen. Die Studien aus diesem Umfeld sind schon früher in Verdacht geraten, aus so genannten Publikationsfabriken zu stammen; Hunderte solcher Studien wurden im Jahr 2020 zurückgezogen. Byrne vermutet, dass einige der von ihrem Team entdeckten Arbeiten ebenfalls darunterfallen könnten.
Das Team um Byrne fokussierte sich bei den Analysen besonders auf eine bestimmte Untergruppe von humangenetischen Krebsstudien. Daher ist unklar, ob die Ergebnisse repräsentativ für die gesamte Genetikliteratur sind, sagt Olavo Amaral, ein Forscher, der sich mit der Reproduzierbarkeit und anderen Aspekten der wissenschaftlichen Praxis an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro in Brasilien beschäftigt. Allerdings müsse man dies als Warnung vor Problemen verstehen, die dringend angegangen werden müssen.
»Solche Fehler können durch automatisierte Prozesse aufgedeckt werden. Das zeigt meiner Meinung nach, dass die regulären Peer-Review-Prozesse sehr schlecht darin sind, leicht zu entdeckende Fehler zu erkennen. Systematischere Formen der Qualitätskontrolle wären hier geeigneter«, sagt Amaral. Es sei »dringend notwendig, gemeinschaftliche Standards und Best-Practice-Richtlinien zu entwickeln, um eine qualitativ hochwertige und zuverlässige Genfunktionsforschung zu gewährleisten«, ergänzt der Biostatistiker Xihong Lin von der Harvard University. Einige Zeitschriften – etwa »Gene« – schlagen den Herausgebern bereits vor, eingereichte Manuskripte mit »Seek & Blastn« auf Fehler zu überprüfen, sagt Byrne. Dies sei wünschenswert, so die Krebsforscherin, die mit dem Softwaretool weiterhin Publikationen aus anderen Zeitschriften analysiert. Dabei seien die Ergebnisse teilweise sogar »noch einmal aufrüttelnder«, sagt sie.
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