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Nationalpark Berchtesgaden: Die Wucht des Wandels

Echte Wildnis ist in Deutschland fast unerreichbar. Genau deshalb gedeiht sie so prächtig um das Watzmann-Massiv, wo die Natur selbst mit roher Kraft schalten und walten darf. Teil 1 unserer Serie über Wildnis in Deutschland.
Blick über eine Hochgebirgslandschaft im Nebel
Wild, unberührt – und schwer zu erreichen: Genau deshalb kann das zerklüftete Alpengebiet im Nationalpark Berchtesgaden so viel Wildnis bieten wie kaum eine andere Landschaft in Deutschland. Die zahlreichen Seitentäler des Watzmann-Massivs bilden ein Netzwerk von untereinander verbundenen Lebensräumen.

Die Schiffsflotte in Schönau am Königssee kann richtig was wegschaffen. 19 Boote für je 93 Passagiere sind in der Hochsaison im Einsatz. Gefahren wird nach Bedarf. Ist ein Boot voll, legt es ab. Von Hochsaison kann zwar keine Rede sein. Die Temperaturen sind gerade eben zweistellig. Es regnet beständig und die Wolken hängen so tief, dass vom Watzmann-Massiv, das sich mehr als 2000 Meter über den See erhebt, nicht viel zu sehen ist. Trotzdem füllt sich das Boot schnell und die Fahrt beginnt: Auf der linken Seite sieht man weiß auf grau zwischen dem Grün der Buchen die Gischt des Königsbach-Wasserfalls Richtung Tal rauschen. Vor ein paar Jahren haben Influencer die Wasserbecken an den steilen Hängen als Fotomotiv für sich entdeckt. Natürliche Infinitypools mit grandioser Aussicht. Die Folgen waren verheerend: Immer wieder kam es zu schweren Unfällen. 2019 ertranken zwei junge Männer im eiskalten Schmelzwasser. Weil Touristen sich unnötig in Gefahr bringen, weil sie Unmengen an Müll hinterlassen und die geschützte Vegetation des Nationalparks Berchtesgaden zertrampeln, ist der Bereich rund um die Steinbecken seit 2021 für Besucher gesperrt. Auf halber Strecke hält der Bootsführer kurz an, um ein Lied auf der Trompete zu spielen. Die Besucher lauschen andächtig, wie die Töne von der berühmten Echowand zurückgeworfen werden. Applaus, der Hut geht rum und weiter geht's.

Der See im südöstlichsten Zipfel Bayerns ist ein sehr touristischer Ort. Jedes Jahr lockt das spektakuläre Bergpanorama mehr als 500 000 Besucher aus aller Welt an. St. Bartholomä, die Wallfahrtskirche aus dem 17. Jahrhundert, ist das Ziel der Touristenpilgerfahrt und droht dabei zum Klischee ihrer selbst zu verkommen: »Dort sehen Sie das berühmte Bild der Kirche St. Bartholomä«, sagt jedenfalls der Kapitän und zeigt auf die Kirche, deren rote Zwiebeltürme sich im Wasser spiegeln. So, als sei die Kirche gar keine echte Kirche mehr, sondern irgendwann, irgendwie durch die tausenden Ablichtungen selbst zur Postkartenansicht mutiert. Schließlich legt das Boot an und die allermeisten Besucher und Besucherinnen zieht es schnurstracks in den neben der Kirche gelegenen Biergarten.

Serie: Wildnis in Deutschland

Vom Südzipfel der Republik bis in den hohen Norden – überall findet man sie inzwischen wieder, die Landschaften, in denen der Mensch die Natur Natur sein lässt. Nach Jahrhunderten der Nutzung finden sie nur langsam zu ihrem ursprünglichen Selbst zurück.

Fünf von ihnen hat unser Autor Ralf Stork für diese Serie bereist. Sie zeigen, wie wirksam Wildnis sein kann angesichts allgegenwärtiger Umweltzerstörung. Und wie weit der Weg zu mehr gesunden Lebensräumen noch ist. Das selbst gesteckte Ziel, zwei Prozent der Landesfläche in Wildnisgebiete umzuwandeln, hat Deutschland weit verfehlt. Aktuell sind es gerade einmal 0,6 Prozent.

Der wäre mit Sicherheit ein guter Ort, um über das verkorkste Verhältnis der Menschen zur Natur zu sprechen: über Missverständnisse und gekappte Verbindungen, über die Sehnsucht – trotz allem – nach unberührter Natur und Wildnis und darüber, wie auch diese Sehnsucht die letzten unberührten Flecken in Gefahr bringt.

Wer will, kann von diesem von Touristen beinahe überrannten Ort aber auch zu einem echten Kurztrip in die Wildnis aufbrechen: Von St. Bartholomä führt eine Wanderroute hoch in die Berge zur Eiskapelle – einem permanenten Eisfeld unterhalb der Watzmann-Ostwand. Da endet der Weg. Dahinter, in der Unzugänglichkeit der Berge, liegt die Wildnis. Einen kleinen Vorgeschmack gibt es schon am Anleger: Als die Besucher von Bord gehen, ist ein Rumpeln zu hören, so als würde ein Rollkoffer übers Kopfsteinpflaster gezogen. Nur tiefer und nicht zu verorten. »Das sind Lawinen, die weiter oben von den Flanken des Watzmanns abgehen«, sagt Michael Maroschek. Er ist im Nationalpark Berchtesgaden für das Sachgebiet Forschung und Monitoring zuständig und hat sich für diesen Tag als Begleiter und fachkundiger Ansprechpartner in Sachen Wildnis angeboten.

Im Nationalpark geht es steil bergauf

Wenige hundert Meter hinter St. Bartholomä wird der Weg steiler. In Kehren geht es durch einen Buchenwald, der auf den ersten Blick ziemlich ursprünglich aussieht. Er gehört zur Kernzone des Nationalparks, in der es keine Eingriffe durch den Menschen mehr gibt. Stürzt ein Baum um, bleibt er liegen und schafft Raum, Nährstoffe und Licht für neue Bäume und andere Organismen. Seit der Gründung des Nationalparks darf sich der Wald hier frei entwickeln. 1978 war das. Und trotzdem hat sich bis heute kein natürlicher Wald eingestellt, ist die Altersstruktur immer noch unnatürlich homogen.

Auf dem Weg zum Urwald | Abgestorbene Bäume sind für viele Tier- und Pflanzenarten eine wertvolle Ressource, die rar geworden ist in Deutschland. Auch die Kadaver von Großtieren fehlen häufig als Nahrungsquelle.

Bei dem regnerischen Wetter ist sonst niemand unterwegs. Aber der Weg, der durch den Wald führt, ist bestens ausgebaut und wird in der Hochsaison täglich auch von einigen hundert Wanderern genutzt. Kann ein Wald bei so viel Durchgangsverkehr überhaupt natürlich sein? Und wird ein Gebiet automatisch zur Wildnis, sobald die Menschen es verschonen?

»Unter Wildnis versteht ja ohnehin jeder etwas anderes«, sagt Maroschek. Doch Erreichbarkeit und Infrastruktur eines Gebiets hätten Einfluss darauf, wie naturnah die einzelnen Bereiche sind. Das lässt sich gut an den Farbmarkierungen der Wanderwege ablesen: Blau steht für leicht, Rot für mittel, Schwarz für schwer. Je weiter entfernt der Parkplatz und je schwerer der Wanderweg, desto ursprünglicher und naturnäher die Umgebung. Wer Wildnis will, sollte sich also eher an die schwarzen Wanderwege halten.

Schon bei der Entstehung des Nationalparks spielte es eine wichtige Rolle, die Unzugänglichkeit bestimmter Bereiche zu bewahren: In den 1970er Jahren gab es Überlegungen der Gemeinde Ramsau, des Fremdenverkehrsverbands Berchtesgadener Land und der Marktgemeinde Berchtesgaden, den Watzmann-Gipfel mit einer Seilbahn zu erschließen. Parallel dazu hatte der Freistaat Bayern bereits konkrete Planungen für einen Nationalpark Berchtesgaden ausgearbeitet. Als dieser im August 1978 gegründet wurde, waren alle Seilbahnpläne auf einen Schlag Makulatur. Entsprechend skeptisch bis ablehnend wurde der Park in den Jahren nach seiner Gründung beäugt. Mittlerweile ist das Großschutzprojekt aber fest in der Region verankert und akzeptiert.

Gratwanderung im Watzmann-Massiv

Der Urkonflikt zwischen Bewahrung und Nutzung ist symptomatisch für das Verhältnis der Bevölkerung zu vielen großen Naturschutzprojekten. Ein Nationalpark oder Wildnisgebiet ist gerade bei der Etablierung mit Nutzungseinschränkungen verbunden. Für die Freiheit der Natur müssen die Freiheiten der Menschen eingeschränkt werden. Anders als eine Seilbahn, ein neuer Aussichtsturm oder eine attraktive Mountainbike-Strecke lassen sich unberührte Natur und Wildnis allerdings nicht unmittelbar verwerten für den Menschen – ja, noch nicht einmal für den sanften Tourismus, wenn der Zutritt in manchen Teilen strikt untersagt ist. In einem Großschutzgebiet geht es deshalb immer auch um die Gratwanderung, die Natur einerseits erlebbar zu machen, andererseits jedoch für genügend Ruhezonen für Tiere und Pflanzen zu sorgen.

Königsee von Norden | Rechts von St. Bartholomä (Bildmitte) sieht man das Geröllfeld, das der Eisbach in die Landschaft gerissen hat. Das Wasser – als Bach, als Schnee- oder als Gerölllawine – schafft fortwährend neue Nischen.

Der Weg zur Eiskapelle ist ein gutes Beispiel dafür: Es gibt ihn. Der Wald, die Eiskapelle und eben die grandiose Watzmann-Ostwand werden für Besucher so erlebbar. Von den stark frequentierten Bereichen halten sich die Wildtiere naturgemäß fern, wenn auch nicht immer und jederzeit, wie die Losung von Rotwild und Gämsen selbst in unmittelbarer Nähe von St. Bartholomä zeigt. Wichtig aber ist zugleich, dass es weiter oben große Flächen gibt, in denen die Natur ungestört bleibt.

Maroschek deutet nach vorne, wo der Wald sich öffnet und den Blick auf ein etwas tiefer gelegenes Geröllfeld frei gibt, das der Eisbach geformt hat. Keine 30 Meter entfernt döst eine Gams auf dem steinigen Untergrund am Bach. Beim Näherkommen der Menschen springt sie ohne Eile, fast schwerelos, davon. Das schmale Tal liegt zwischen Watzmann-Ostwand und den Hachelköpfen. Der Weg durch das Geröllfeld ist der einzige, den es hier gibt. Und der endet an der Eiskapelle, dem ewigen Schneefeld, das im Schatten der Berge auch im Sommer nicht schmilzt. Doch an diesem Tag ist die Eiskapelle nicht zu erreichen, zu groß ist das Risiko von Lawinen.

Die Flanken des Watzmanns und seiner Nachbarn sind steil, aber nicht zu steil für Tiere. Die unteren Bereiche am Rand des Bachbetts sind sogar noch bewaldet. Darüber folgt eine Zone mit niedriger Vegetation, die dann in schroffere Hänge übergeht. Zwischen den Bäumen fühlt sich Rotwild wohl, in den Schichten darüber die Gämsen: Ein paar äsen in den bewachsenen Flächen, andere liegen bäuchlings in einem der vielen Schneefelder, um sich abzukühlen. Hier, wo der Lebensraum der Menschen endgültig endet, leben auch Schneehasen, Schneehühner und Steinböcke. Seit ein paar Jahren werden Bartgeier wieder ausgewildert.

In den unwirtlichen Landschaften gedeiht die Natur

Hirsche, Rehe und Gämsen besuchen zwar regelmäßig die saftigen Wiesen im Talgrund um St. Bartholomä, doch bevorzugt halten sie sich in den kargen, unwirtlichen Berglandschaften auf, die sich über viele hundert Hektar erstrecken und über steile Seitentäler mit anderen kargen, ähnlich großen unwirtlichen Berglandschaften verbunden sind. Mehr unberührte Wildnis geht nicht in Deutschland.

Da ist das komische Rollkoffergeräusch wieder. Oben auf dem Geröllfeld ist das Rumpeln der Lawinen lauter. »Sie gestalten die Landschaft aktiv mit«, sagt Maroschek. Wo sie abgehen, reißen sie Schneisen in die bestehende Vegetation und öffnen so den Raum für Pionierpflanzen wie Grünerlen und verschiedene Gräser und Kräuter. Schlamm- und Gerölllawinen – so genannte Muren – haben einen ähnlichen Effekt. An den Seiten des Bachbetts haben sich teils hohe Schuttbänke gebildet, die langsam erodieren, und auch der Bach selbst, dessen Lauf mäandert und der das Geröll immer wieder in andere Richtungen schiebt, prägt die Landschaft. »Die vielen unterschiedlichen Strukturen, die hier aufeinandertreffen und sich immer wieder verändern und verzahnen, machen das Gebiet so besonders und artenreich«, sagt Maroschek.

Ewiges Eis im Bergschatten | In der Eiskapelle hält sich der Schnee auch im Sommer. Der Schmelzwasserabfluss hat dabei eine Art Höhle geschaffen. Die kargen Hänge mit ihrer niedrigen Vegetation sind bevorzugter Lebensraum der Gämsen.

Ein letzter Blick auf die Gämsen in ihrem unerreichbaren Lebensraum, dann geht es zurück Richtung Bootsanleger. Im Wald führt Michael Maroschek querfeldein die Böschung hinunter zu einem Metallgerät, das wie ein überdimensionierter weißer Champignon aus dem Boden ragt. Ein Messgerät unter anderem für Luft- und Bodenfeuchte. »An vier verschiedenen Stellen im Nationalpark führen wir ein intensives Wald-Monitoring durch, wo wir auf einem Hektar alle Bäume erfassen, um zu sehen, wie sich der Wald ohne menschlichen Einfluss entwickelt«, sagt Maroschek. Schon jetzt lässt sich sagen, dass der Wald, in dem das Totholz stehen und liegen bleiben darf – der also grundsätzlich in Ruhe gelassen wird –, eine Vielzahl zusätzlicher Arten anzieht. Darunter zum Beispiel der Rindenschröter, ein kleiner Käfer, der auf den Abbau von altem, liegendem Totholz spezialisiert ist und auf der Roten Liste als stark gefährdete Art geführt wird. Der ebenfalls stark gefährdete Weißrückenspecht und der Dreizehenspecht machen sich eher über Insekten her, die in stehendem Totholz leben. Davon gibt es in Deutschlands intensiv bewirtschafteten Forsten nur wenig, geeignete Habitate sind darum rar für die Vögel.

Ein uralte Ressource kommt wieder

In den allermeisten Fällen entwickelt sich Natur dann am besten, wenn sie sich selbst überlassen bleibt. Wie stark der Mensch in die natürlichen Abläufe eingreift, zeigt sich an einem weiteren Projekt, das in Berchtesgaden und anderen Nationalparks seit ein paar Monaten versuchsweise durchgeführt wird. »An ausgesuchten Stellen legen wir die Kadaver von Rehen und Gämsen aus«, sagt Michael Maroschek. Dass Tiere sterben oder gerissen werden und ihre Kadaver dann über einen längeren Zeitraum in der Landschaft liegen bleiben, sollte eigentlich absolute Normalität sein. Aber Jäger nehmen die Tiere mit, die sie erlegt haben, meist verbleiben nur die Eingeweide im Wald. Und auch Förster werden einen Kadaver wahrscheinlich entsorgen, wenn sie im Wald auf ihn stoßen. So wird der Natur eine wichtige Nahrungs- und Rohstoffquelle vorenthalten, die Hunderte spezialisierter Arten anziehen könnte.

Auf dem Rückweg schlägt Maroschek kurz vor den Wiesen von St. Bartholomä eine etwas andere Route ein und geht nach rechts Richtung Eisbach. Im Lauf der Zeit hat der schmale Bach auch dort ein überraschend breites Geröllfeld geformt. Daneben erstreckt sich eine flache Ebene, die bloß spärlich mit Sträuchern und Bäumen bewachsen ist. »Die Bäume können sich nicht richtig entfalten, weil der Bach immer wieder mal über die Ufer tritt und den aufkommenden Wald unter Wasser setzt«, sagt der Experte. Ein ganz normaler Vorgang. Wie oben an der Eiskapelle sorgen natürliche Prozesse dafür, dass die Landschaft sich immer wieder verändert. Diese Möglichkeit eines Wandels, die Wucht und Unkontrolliertheit, mit der er sich vollziehen kann, ist ebenfalls ein wichtiger Indikator für Wildnis. Und hat absoluten Seltenheitswert. Denn fast überall sorgt der Mensch dafür, dass ein Fluss nicht frei mäandern, dass das Meer die Küste nicht überfluten, dass kein Brand im Wald Platz für neues Leben schaffen kann. Aber ein statischer Lebensraum ist immer artenärmer als ein Lebensraum, in dem die Kräfte der Natur sich frei entfalten können.

Ein paar hundert Meter weiter, und der Anleger ist wieder erreicht. Viele Ausflügler warten schon auf das nächste Boot, das sie zurück nach Schönau bringen kann. In Trippelschritten geht es über den Steg. Dass hinter der Postkartenkulisse nur eine kurze Wanderung entfernt die echte Wildnis beginnt, ist ein Gedanke, so schön wie ein gut gehütetes Geheimnis.

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