Naturmedizin: Wie Honig wirkt
»Fasern, mit Weihrauch und Honig durchtränkt. Werde daran gegeben 14 Tage lang.« So lautet ein Rezept aus dem Papyrus Ebers mit der Überschrift »Heilmittel für das Gesundmachen einer Wunde«. Datiert ist die Schriftrolle auf den Zeitraum zwischen 1525 und 1504 vor unserer Zeitrechnung. Mit 776 Rezepten, 44 Lehrtexten und etlichen Zaubersprüchen gehört sie zu den ältesten medizinischen Schriften überhaupt. Insgesamt 313-mal wird Honig im Ebers-Papyrus erwähnt, unter anderem als Mittel »zum Veranlassen, dass man ausscheidet«, »zum Abtöten von Krankheitsauslösern« oder »zum Verschaffen von Linderung (am) Hintern«.
Nicht nur die alten Ägypter schrieben Honig heilende Wirkungen zu. In seiner Geschichte der Tiere (»Historia animalum«) schrieb Aristoteles im Jahr 350 v. Chr.: »Weißer Honig … ist gut als Salbe für entzündete Augen und Wunden.« Und im 1. Jahrhundert n. Chr. empfahl der römische Philosoph Plinius der Ältere Honig als Mittel zu Behandlung von Ohrproblemen. Auch in der Sure 16 »Über die Bienen« des Koran (620-622 n. Chr.) findet sich der Vers: »Aus ihren Leibern kommt ein Getränk von unterschiedlichen Farben, in dem Heilung für die Menschen ist.«
So reihen sich historische Quellen über die heilende Wirkung von Honig bis in unsere Zeit. Erst mit dem Erfolg der Antibiotika rückte das süße Bienenprodukt im 20. Jahrhundert zwar nach und nach in die Ecke der Folklore-Medizin. Doch wenn so viele historische Quellen übereinstimmend vom seinem Nutzen sprechen, ist dann vielleicht doch etwas dran?
Wunden heilen mit Honig
»Ich war anfangs auch sehr skeptisch«, sagt Bahram Biglari, Chefarzt im Querschnittzentrum der BG Kliniken in Ludwigshafen. »Bis ich selbst einige Patienten mit Honig behandelt habe.« Viele dieser Patienten litten an fortschreitenden Druckgeschwüren. Weil sie an den betroffenen Körperstellen keine Schmerzempfindung haben, entwickeln sich die Stellen manchmal zu offenen Wunden, die nicht verheilen wollen.
»Aus einer medizinischen Zeitschrift habe ich vor etwa zehn Jahren vom Einsatz von Honig in der Wundbehandlung gelesen und habe es einfach ausprobiert«, sagt Biglari. Das Resultat verblüffte Biglari. »Die Wunden wurden schnell sauber, stanken nicht mehr und schlossen sich. Auch die Narben wurden außergewöhnlich weich und stabil.«
»Die Wunden wurden schnell sauber, stanken nicht mehr und schlossen sich«Bahram Biglari
Diese Ergebnisse beeindruckten Biglari derart, dass er eine Multi-Center-Studie an neun deutschen und einem österreichischen Krankenhaus auf den Weg brachte. Über einen Zeitraum von zwei Jahren behandelten die Ärzte insgesamt 121 Wunden, ein Drittel davon bei Krebspatienten. Wieder waren die Resultate positiv: Die Wundgröße nahm während der Studienzeit signifikant ab, viele Wunden heilten nach relativ kurzer Zeit ganz aus und wiesen am Ende deutlich weniger Schorf oder Nekrose auf.
Ihre Ergebnisse veröffentlichten Biglari und seine Kollegen im Jahr 2012 in der Fachzeitschrift »International Wound Journal«. In einer zweiten Studie, die im selben Jahr in der Fachzeitschrift »Spinal Cord« erschien, zeigten Biglari und Kollegen aus Ludwigshafen und von den Unikliniken Bonn und Heidelberg, dass Druckwunden von 20 Patienten mit Querschnittslähmung nach einer einwöchigen Behandlung völlig keimfrei waren. Aber wie konnte das sein? Haben wir alle zu Hause eine Art Superantibiotikum im Schrank stehen, ohne es zu wissen?
Zucker und Säure stören Bakterien
»Die grundlegenden antibakteriellen Eigenschaften von Honig kommen von seinem hohen Zuckergehalt und niedrigen pH-Wert«, sagt Birgit Lichtenberg-Kraag, Leiterin der Abteilung für Honiganalyse am Länderinstitut für Bienenkunde in Hohenneuendorf bei Berlin. »Honig besteht zu rund 80 Prozent aus Zucker und zu etwa 20 Prozent aus Wasser.« Eine derart starke Zuckerlösung entziehe Wunden und damit den darin lebenden Bakterien das Wasser, was sie schädigt — ein Mechanismus, der beim Einlegen von Früchten genutzt wird.
Laut einem Review im Journal »Wounds« von 2015 gibt es aber noch einen zweiten Effekt des Zuckers: Wenn die Blutzirkulation unter der Wunde ausreicht, um die aus den Zellen verlorene Flüssigkeit zu ersetzen, führt die osmotische Wirkung des Zuckers an der Oberfläche zu einem Abfluss von Lymphe, der für den Heilungsprozess vorteilhaft ist. »Hinzu kommt, dass Honig chemisch betrachtet eine Säure ist«, sagt Lichtenberg-Kraag. »Die meisten Honigsorten haben einen pH-Wert zwischen 3,5 und 4,5.« Das saure Milieu verändert die Protonenkonzentration zwischen dem Zellinneren und -äußeren von Bakterien so, dass ihre Enzyme nicht mehr effizient arbeiten können.
Dass Honig auch über Zuckergehalt und pH-Wert hinaus eine antibakterielle Wirkung entfalten kann, wurde erstmals in den 1930er Jahren vermutet. In der »Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten« argumentierte der Bakteriologe Hermann Dold im Jahr 1937, dass »in allen bisher untersuchten Körpersekreten antibakterielle (…) Hemmstoffe (so genannte Inhibine) nachweisbar sind«. Dold hatte eine bakterienhemmende Wirkung etwa beim Speichel und bei der Tränenflüssigkeit von Menschen gefunden. Da Naturhonig ebenso aus Sekreten von Pflanzen und Bienen bestehe, so Dold, sei die Annahme gerechtfertigt, dass auch im Honig derartige Hemmstoffe existieren können. Also ließen Dold und seine Kollegen von der Universität Freiburg eine Reihe verschiedener Bakterien auf Nährmedien wachsen, die in unterschiedlicher Konzentration mit Honig getränkt waren.
»Die antibakteriellen Eigenschaften von Honig kommen von seinem hohen Zuckergehalt und niedrigen pH-Wert«Birgit Lichtenberg-Kraag
Dabei beobachteten sie, dass das Wachstum der Bakterien umso stärker gehemmt wurde, je höher die Honigkonzentration war. Wie bei den anderen Körpersekreten verschwand diese Wirkung, wenn der Honig eine halbe Stunde lang über 56 Grad erhitzt oder mehrere Stunden lang in grellem Licht stehen gelassen wurde. Es musste also Stoffe geben, so der Schluss der Freiburger Forscher, die über den Zucker und Säuregehalt hinaus antibakteriell wirken. Nur welche, war unklar.
Was im Honig wirkt
»Heute können wir über 200 Inhaltsstoffe im Honig nachweisen«, sagt Lichtenberg-Kraag. »Wir finden zum Beispiel organische Säuren wie Glukonsäure, Ameisensäure, Oxalsäure, Bernsteinsäure, Aminosäuren, so genannte Flavonoide, Enzyme oder Mineralstoffe.« Diese Bestandteile stammten entweder direkt aus dem Nektar oder dem Honigtau oder sie werden im Honigmagen der Bienen beigemischt. Wieder andere entstehen im Rahmen der Honigreifung in der geschlossenen Wabe. So wird der Zucker Saccharose aus Nektar oder Honigtau bei der Nektaraufnahme mit dem Enzym Invertase aus der Futtersaftdrüse der Bienen vermischt und später in der Wabe in die beiden Hauptzucker Glukose und Fruktose verwandelt.
Die freie Fruktose macht den Honig zusätzlich so außergewöhnlich süß. Die Glukose wiederum wird von einem anderen Bienenenzym, der Glukoseoxidase, zu Glukonsäure umgewandelt, eine der Säuren, die den Honig sauer macht. Dabei wird auch Wasserstoffperoxid freigesetzt, das die DNA von Bakterien schädigt. Flavonoide wiederum sind sekundäre Pflanzenstoffe. Sie und andere phenolische Komponenten des Honigs greifen die Zellwände von Bakterien an und hemmen ein Enzym, das die Ablesbarkeit ihrer DNA steuert.
In den 1950er und 1960er Jahren stellte sich heraus, dass die Wirkung von Honig und seine Anfälligkeit für Licht und Hitze stark von einer Sorte zur anderen schwankt. Unklar blieb jedoch der Ursprung dieser Schwankungen. Während einige Autoren den Anteil von Wasserstoffperoxid verdächtigten, vermuteten andere Unterschiede in der Konzentration bisher nicht identifizierter Pflanzenstoffe.
Der antibiotische Manuka-Honig
Im Jahr 1988 veröffentlichten der Biochemiker und Zahnforscher Peter Molan und seine Kollegen von der University of Waikato in Neuseeland einen ersten großen Vergleich des antimikrobiellen Potenzials von 64 neuseeländischen Honigsorten. Für ihre Experimente ließen die Forscher das Bakterium Staphylococcus aureus in Petrischalen wachsen, in die mehrere mit Honiglösungen gefüllte Vertiefungen eingelassen waren.
Nach einer Nacht verglichen die Forscher, wie weit der Honig die Bakterien von den Vertiefungen ferngehalten hatte. Während einige Honige, etwa der aus Gurkenkrautnektar (Borago officinalis), den Bakterienkolonien nichts anhaben konnten, waren andere geradezu antibiotisch, darunter vor allem der aus der Südseemyrte Manuka (Leptospermum scoparium).
Im Jahr 2008 identifizierten Forscherinnen und Forscher von der Universität Dresden dann auch den Wirkstoff, der dem Manuka-Honig seine hohe Wirksamkeit verleiht. Der Blütennektar der Manukapflanze enthält eine hohe Konzentration des Kohlenhydrats Dihydroaceton, ein Stoff der unter anderem in Bräunungscremes genutzt wird, weil er sich unter Lichteinfluss leicht mit Aminosäuren zu braunen Maillard-Produkten verbindet.
In einer ähnlichen Reaktion entsteht im Manuka-Honig die Verbindung Methylglyoxal, der die Kontakt- und Schwimmhärchen – Fimbrien und Flagellen – und die Zellmembran von Bakterien schädigt. Das macht Manuka-Honig zu einem der stärksten antimikrobiellen Honige überhaupt. So ist auch der medizinische Honig, den Ärzte wie Biglari heute zur Wundbehandlung nutzen, Manuka-Honig – allerdings eine keimfreie Variante, die für die Anwendung in der Medizin zugelassen ist. Lichtenberg-Kraag weist darauf hin, dass man diesen medizinischen Honig nicht mit dem Manuka-Honig aus dem Reformhaus verwechseln sollte.
Heute ist Honig Standardtherapie
»Peter Molan war der Vater der Honigtherapie«, sagt Biglari. »Er konnte zeigen, dass Manuka-Honig viele Keime abtöten kann, darunter auch Krankenhauskeime, die gegen Antibiotika resistent sind, wie Pseudomonas aeruginosa.« Laut einer Übersichtsstudie im Fachjournal »Antibiotics« vom Dezember 2019 ist bis heute kein Bakterium bekannt, das gegen die Wirkung von Manuka-Honig resistent ist. Die Autoren des Reviews vermuten den Grund dafür in der Vielzahl wirksamer Komponenten im Honig, die gleichzeitig aktiv sind. »Zu Beginn wurden Leute wie wir oder Molan noch belächelt«, sagt Biglari. »Aber mittlerweile gehört Honig zur Standardtherapie in der Wundbehandlung.« Heute würden auch Brandwunden immer häufiger mit medizinischem Honig behandelt.
»Zu Beginn wurden Leute wie wir oder Molan noch belächelt«Bahram Biglari
Dieser Erfolg gibt aber auch dubiosen Angeboten und verwunderlichen Experimenten Auftrieb. Eine Suche im Register klinischer Studien liefert für das Stichwort Honig 151 Ergebnisse. Neben solchen zur Wundbehandlung findet man Studien zu »Metabolischen Effekten von Honig bei Diabetes Typ 1«, als »Nahrungsergänzungsmittel bei Kindern mit Hepatitis A«, zur »Verbesserung der Schlafqualität« oder auch zur »Behandlung von Patienten mit dem neuen Coronavirus«. Die Qualität solcher Forschungsprojekte sei aber oft nicht ausreichend, um zuverlässige Aussagen abzuleiten, sagt Lichtenberg-Kraag, die über viele Jahre redaktionelle Mitarbeiterin eines Fachjournals war. »Der einzige wirklich gut belegte Nutzen liegt in der Wundbehandlung«, sagt sie.
So gleichen die Heilsversprechen mancher Angebote eher den Zaubersprüchen auf dem Ebers-Papyrus. Man kann zum Beispiel Honig kaufen, dem andere Bienenprodukte wie Propolis (ein Kittstoff aus Baumharz), Pollen und Bienenbrot (die Eiweißnahrung aus Pollen) oder Gelée Royale (der Futtersaft für Bienenköniginnen) beigemischt sind. Zwar haben sie wie alle Bienenprodukte nachgewiesene antibakterielle Wirkungen. Allerdings sind Pollen und Propolis auch starke Allergene.
Vorsicht vor falschen Heilsversprechen
Auch bei der Eigenbehandlung mit Honig vom Imker sollte man Vorsicht walten lassen. Zwar überleben — wie wir nun wissen — keine Bakterien in ihm, dafür aber ihre Sporen. Zum Beispiel die von Clostridien. Einmal über die Wunde aufgenommen, könnten sie sich im Körper vermehren und Neurotoxine produzieren, die zum Teil lebensgefährliche Lähmungen hervorrufen. »Eine Honigbehandlung sollte deshalb immer professionell und mit medizinischem Honig durchgeführt werden«, sagt Biglari.
Die Erfahrungen in der Medizin zeigen also, dass Honig weit mehr ist als nur Zucker. Bei der Wundbehandlung übertreffen seine pharmakologischen Eigenschaften sogar klassische Ansätze. Vorsicht geboten ist dennoch, nicht nur bei anderen Heilsversprechen, sondern auch bei bestimmten Honigsorten. Etwa beim türkischen Wildhonig aus dem Nektar der Rhododendronpflanze Rhododendron ponticum, den man im Internet erwerben kann.
Dessen Wirkung beschrieb bereits der griechische Feldherr Xenophon in seinem Werk »Anabasis«. Demnach fanden Xenophons Soldaten im Jahr 401 v. Chr. auf dem Rückzug von der Schlacht von Kunaxa »Unterkunft in zahlreichen Dörfern, die Vorräte im Überfluss enthielten. Im Allgemeinen gab es nichts, was ihre Verwunderung erregte, aber die Zahl der Bienenstöcke war erstaunlich. Und so waren die Eigenschaften des Honigs«, schreibt Xenophon.
»Die Soldaten, die von dem Honig kosteten, verloren den Verstand, erbrachen, hatten Durchfall und konnten sich nicht auf den Beinen halten. (…) So lagen hunderte regungslos auf dem Boden, als ob es eine große Niederlage gegeben hätte«, heißt es in dem Bericht weiter. Das Abenteuer endete für die griechischen Söldner allerdings glimpflich. »Aber am nächsten Tag war noch niemand gestorben; und fast zur gleichen Stunde des Tages, an dem sie gegessen hatten, erholten sich ihre Sinne, und am dritten oder vierten Tag kamen sie wieder auf die Beine.«
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