Angewandte Kartografie: Neue Blickwinkel
Die Erde ist rund - sehr zum Leidwesen von Kartografen. Denn versuchen sie, unseren Planeten auf zweidimensionalen Karten abzubilden, müssen sie immer Kompromisse schließen hinsichtlich der Abbildungstreue der Realität. Sollen dann auch noch thematische Inhalte eindrücklich dargestellt werden, kann eine kleine Anleihe in der Strömungsphysik helfen.
Haben Sie gerade einen Atlas zur Hand? Dann vergleichen Sie doch einmal die Fläche von Grönland und Indien. In den meisten Fällen wird Ihnen je nach Projektion die Insel im Norden um ein Mehrfaches, zumindest aber irgendwie größer erscheinen als der asiatische Staat – und das, obwohl Indien fast drei Millionen Quadratkilometer umfasst, während es Grönland nur auf gut zwei Millionen bringt. Oder Gabun und Island: Wirklich groß scheint der Unterschied nicht. Dabei bedeckt der afrikanische Staat die zweieinhalbfache Fläche.
All das ist die Folge, wenn man wie beim Schälen einer Orange die einzelnen, gekrümmten Segmente in die Ebene zu pressen versucht. Seit den ersten realitätsnahen Kartenwerken aus dem 16. Jahrhundert haben sich Kartografen weltweit den Kopf zerbrochen, wie sie die immer entstehende Verzerrung möglichst gering halten können. Dürfen sie sich dabei auf Ausschnitte wie die Polargebiete oder einzelne Kontinente beschränken, fällt das weniger schwer. Die Abbildung der gesamten Weltkugel jedoch gehört in die Rubrik Herausforderung. Über 400 Kartennetzentwürfe wurden vorgestellt, weniger als fünfzig werden tatsächlich verwendet.
Beliebt sind inzwischen Darstellungen, in denen die Meridiane – die längs verlaufenden Gradnetzlinien – elliptisch und die Breitenkreise entweder parallel oder sich zu den Polen hin leicht krümmend abgebildet sind. Im Vergleich zu einer typischen Zeitzonenkarte wird schnell klar, warum: Sie beruht meist auf einem Zylinder, der um den Äquator gelegt und dann abgewickelt wird. Das führt zu massiven Verzerrungen in den höheren Breiten – zum Beispiel eben zu einem Grönland, das beinahe die zehnfache Fläche von Indien zu haben scheint, wenn nicht der Abstand der Breitenkreise angepasst wird.
Doch abgesehen von Längen-, Winkel- oder Flächentreue – Verzerrungen betreffen nicht nur rein politische oder physisch-geografische Darstellungen. Beispiel Malaria: Eine Karte, die schlicht die Verbreitung der Krankheit abbildet, wird dem Problem nicht gerecht – es erscheint räumlich relativ begrenzt und verharmlost damit die ungeheure Zahl der Betroffenen. Dieser Eindruck bleibt selbst dann noch bestehen, wenn ein Kartograf eine Relation zur Bevölkerungszahl über Farbskalen herstellt.
Dies führte zu der Idee, einfach die äußere Form der Landflächen in Abhängigkeit beispielsweise von der Einwohnerzahl, Investitionsvolumen oder Analphabetismus zu verändern. Allerdings erzeugt dies gerade bei sehr starken globalen Unterschieden wiederum immense Verzerrungen. Wie also lässt sich erreichen, dass der Betrachter noch erkennt, welches Land er vor sich hat?
2004 stellten Michael Gastner und Mark Newman, damals noch beide an der Physik-Fakultät der Universität von Michigan, eine einfache und schnelle Möglichkeit vor, dichteabhängige Inhalte auf so genannten Kartogrammen darzustellen. Die Methode entlehnten sie der Strömungsphysik: Sie beruht auf Diffusion [1]. Dahinter steckt der Gedanke, dass bei Karten, die Länder in Abhängigkeit von ihrer Bevölkerungszahl abbilden, letztendlich überall dieselbe Bevölkerungsdichte erreicht wird – man erlaubt also den Populationen, sich von Zentren hoher Dichte wegzubewegen und so einen allgemeinen Ausgleich zu schaffen. Physiker beschreiben so etwas als linearen Diffusionsprozess, für den sie natürlich auch entsprechendes Formel-Handwerkszeug entwickelt haben.
Um nun ein solches Kartogramm zu erzeugen, werden die einzelnen Staaten gerastert und die Bevölkerungszahlen gleichmäßig auf die entsprechenden Kästchen aufgeteilt. Dann startet der Diffusionsprozess, der je nach Ausgleichsbewegung die Ländergrenzen vor sich herschiebt. Den Meeren und der Antarktis wird die mittlere globale Bevölkerungsdichte zugeordnet, um so das vertraute Bild der Kontinente in den Ozeanen einigermaßen zu erhalten. Das Ergebnis: China und Indien dominieren den Anblick, während die Flächenriesen Russland und Kanada zu arktischen Pufferzonen schrumpfen und Australien hinter seinem Nachbar Indonesien fast verschwindet.
Das Worldmapper-Team hat noch viel vor. Über hundert Karten wollen die Forscher in den nächsten Monaten den globalen Todesursachen widmen, wie sie die Weltgesundheitsorganisation für das Jahr 2002 ermittelt hat. Auch Todesraten in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht stehen auf der Liste – die sie vergleichen wollen mit einer Karte, in der Mortalität nach Alter und Geschlecht global überall gleich angesetzt wird.
"Für beinahe die gesamten vergangenen fünf Jahrhunderte haben 'wissenschaftliche' Ansichten des Menschen und der Welt unser Denken in eine bestimmte Richtung gelenkt. Sie haben rein technische Lösungen vorgegaukelt, Aufklärung vorausgesetzt, und eine Weltanschauung gefördert, derzufolge Fortschritt nur immer genaueres Verstehen benötigt statt Überdenken, Visionen und ein verstärktes Miteinander und Mitgefühl", beklagt Dorling. Vor 500 Jahren haben Kartografen wie Gerard Mercator und Co mit ihren Karten die Sicht der Welt verändert. Ob das Newman, Dorling und ihren Kollegen auch gelingt?
All das ist die Folge, wenn man wie beim Schälen einer Orange die einzelnen, gekrümmten Segmente in die Ebene zu pressen versucht. Seit den ersten realitätsnahen Kartenwerken aus dem 16. Jahrhundert haben sich Kartografen weltweit den Kopf zerbrochen, wie sie die immer entstehende Verzerrung möglichst gering halten können. Dürfen sie sich dabei auf Ausschnitte wie die Polargebiete oder einzelne Kontinente beschränken, fällt das weniger schwer. Die Abbildung der gesamten Weltkugel jedoch gehört in die Rubrik Herausforderung. Über 400 Kartennetzentwürfe wurden vorgestellt, weniger als fünfzig werden tatsächlich verwendet.
Beliebt sind inzwischen Darstellungen, in denen die Meridiane – die längs verlaufenden Gradnetzlinien – elliptisch und die Breitenkreise entweder parallel oder sich zu den Polen hin leicht krümmend abgebildet sind. Im Vergleich zu einer typischen Zeitzonenkarte wird schnell klar, warum: Sie beruht meist auf einem Zylinder, der um den Äquator gelegt und dann abgewickelt wird. Das führt zu massiven Verzerrungen in den höheren Breiten – zum Beispiel eben zu einem Grönland, das beinahe die zehnfache Fläche von Indien zu haben scheint, wenn nicht der Abstand der Breitenkreise angepasst wird.
Doch abgesehen von Längen-, Winkel- oder Flächentreue – Verzerrungen betreffen nicht nur rein politische oder physisch-geografische Darstellungen. Beispiel Malaria: Eine Karte, die schlicht die Verbreitung der Krankheit abbildet, wird dem Problem nicht gerecht – es erscheint räumlich relativ begrenzt und verharmlost damit die ungeheure Zahl der Betroffenen. Dieser Eindruck bleibt selbst dann noch bestehen, wenn ein Kartograf eine Relation zur Bevölkerungszahl über Farbskalen herstellt.
Dies führte zu der Idee, einfach die äußere Form der Landflächen in Abhängigkeit beispielsweise von der Einwohnerzahl, Investitionsvolumen oder Analphabetismus zu verändern. Allerdings erzeugt dies gerade bei sehr starken globalen Unterschieden wiederum immense Verzerrungen. Wie also lässt sich erreichen, dass der Betrachter noch erkennt, welches Land er vor sich hat?
2004 stellten Michael Gastner und Mark Newman, damals noch beide an der Physik-Fakultät der Universität von Michigan, eine einfache und schnelle Möglichkeit vor, dichteabhängige Inhalte auf so genannten Kartogrammen darzustellen. Die Methode entlehnten sie der Strömungsphysik: Sie beruht auf Diffusion [1]. Dahinter steckt der Gedanke, dass bei Karten, die Länder in Abhängigkeit von ihrer Bevölkerungszahl abbilden, letztendlich überall dieselbe Bevölkerungsdichte erreicht wird – man erlaubt also den Populationen, sich von Zentren hoher Dichte wegzubewegen und so einen allgemeinen Ausgleich zu schaffen. Physiker beschreiben so etwas als linearen Diffusionsprozess, für den sie natürlich auch entsprechendes Formel-Handwerkszeug entwickelt haben.
Um nun ein solches Kartogramm zu erzeugen, werden die einzelnen Staaten gerastert und die Bevölkerungszahlen gleichmäßig auf die entsprechenden Kästchen aufgeteilt. Dann startet der Diffusionsprozess, der je nach Ausgleichsbewegung die Ländergrenzen vor sich herschiebt. Den Meeren und der Antarktis wird die mittlere globale Bevölkerungsdichte zugeordnet, um so das vertraute Bild der Kontinente in den Ozeanen einigermaßen zu erhalten. Das Ergebnis: China und Indien dominieren den Anblick, während die Flächenriesen Russland und Kanada zu arktischen Pufferzonen schrumpfen und Australien hinter seinem Nachbar Indonesien fast verschwindet.
Inzwischen haben Newman und Forscher von der Universität Sheffield die Methode auf weitere Fragestellungen ausgedehnt: Im Rahmen des Projektes Worldmapper stellten sie Daten zu den verschiedensten Themen von Gesundheit über Ressourcen, Transport, Kommunikation bis hin zu Armut, Gewalt und Umweltverschmutzung zusammen. Ihre Karten verdeutlichen weit mehr als jede Farbskalendarstellung, welche Ungleichheiten auf unserem Planeten herrschen.
Danny Dorling, Geograf an der Universität Sheffield, erläutert den Einsatz solcher Kartogramme in der Medizin und öffentlichen Gesundheit [2]. Vergleicht man beispielsweise die Darstellungen zu privaten und öffentlichen Ausgaben im Gesundheitsbereich, blähen sich erwartungsgemäß die Industrieländer des Nordens auf zu wahren Fesselballons, während Südafrika an einem verschwindenden Fädchen des restlichen Schwarzen Kontinents hängt. Kaum anders präsentiert sich das Kartogramm zur Zahl medizinischen Fachpersonals. Der pure Gegensatz bietet sich dafür, betrachtet man die Sterblichkeit Neugeborener: Während der nordamerikanische Kontinent, Australien und Europa beinahe verschwinden, beherrschen nun Afrika und Indien das Bild. Und im Fall HIV/Aids, noch deutlicher aber bei Malaria, platzt Afrika sogar fast aus allen Nähten, während die restliche Welt nur noch in Form einzelner Strichfiguren auftaucht.
Und wozu das Ganze? Um endlich den Problemen ins Auge zu sehen, um das nötige Umdenken anzuregen, ohne das die Ungleichheiten dieser Welt zu zögerlich angepackt werden, erklärt Dorling, der die klassischen Kartenwerke auch gern mit anatomischen Zeichnungen von menschlichen Körpern vergleicht – beides entstand zur selben Zeit, beide hatten das Ziel, ein Objekt möglichst detailgenau und realitätstreu darzustellen. Doch: "Ein anatomisch korrektes technisches Abbild des Planeten oder unseres Körpers reichen nicht aus zu lernen, wie wir besser miteinander leben können und andere Individuen oder weit entfernt lebende Gruppen als Menschen zu sehen", so Dorling. "Traditionelle illustrierende Anatomie wie wissenschaftliche Kartografie können entmenschlichen."
Das Worldmapper-Team hat noch viel vor. Über hundert Karten wollen die Forscher in den nächsten Monaten den globalen Todesursachen widmen, wie sie die Weltgesundheitsorganisation für das Jahr 2002 ermittelt hat. Auch Todesraten in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht stehen auf der Liste – die sie vergleichen wollen mit einer Karte, in der Mortalität nach Alter und Geschlecht global überall gleich angesetzt wird.
"Für beinahe die gesamten vergangenen fünf Jahrhunderte haben 'wissenschaftliche' Ansichten des Menschen und der Welt unser Denken in eine bestimmte Richtung gelenkt. Sie haben rein technische Lösungen vorgegaukelt, Aufklärung vorausgesetzt, und eine Weltanschauung gefördert, derzufolge Fortschritt nur immer genaueres Verstehen benötigt statt Überdenken, Visionen und ein verstärktes Miteinander und Mitgefühl", beklagt Dorling. Vor 500 Jahren haben Kartografen wie Gerard Mercator und Co mit ihren Karten die Sicht der Welt verändert. Ob das Newman, Dorling und ihren Kollegen auch gelingt?
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