Noceboeffekt: Wenn der Beipackzettel krank macht
Angenommen, Ihre Hausärztin hat Ihnen ein neues Medikament gegen Rückenschmerzen verschrieben. Gewissenhaft lesen Sie im Beipackzettel nach, wie Sie es einnehmen müssen. Dabei fällt Ihr Blick auf die möglichen Begleiterscheinungen: Kopfschmerzen, Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Übelkeit, Erbrechen – es scheint kein Ende zu nehmen. »Das hat ja mehr Nebenwirkungen als Wirkung!«, mag ein spontaner Gedanke sein. »Welche Beschwerden werden wohl bei mir auftreten?« Eine halbe Stunde später wird Ihnen übel. Und ziemlich müde sind Sie plötzlich auch. Das kommt doch alles sicher vom neuen Medikament, oder?
Möglich ist das durchaus. Arzneimittel und Therapien können verschiedene Nebenwirkungen hervorrufen. Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass diese im Beipackzettel aufgeführt werden. Begleiterscheinungen treten aber eher selten auf. Ihr Medikament gegen Rückenschmerzen beispielsweise verursacht nur bei einem kleinen Bruchteil von Patienten Müdigkeit und Übelkeit. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Arznei diese Symptome ausgerechnet bei Ihnen hervorgerufen hat, ist also ziemlich gering. Könnte Ihr Unwohlsein einen anderen Grund haben?
Vielleicht geht es Ihnen nur deshalb nicht gut, weil Sie Ihre Beschwerden erwartet haben, und nicht, weil der Wirkstoff sie verursacht hat. Viele Menschen haben diesen Noceboeffekt schon einmal erlebt: Wurde man vom Arzt ausführlich über mögliche Begleiterscheinungen eines Medikaments informiert, hat man im Internet oder in der Zeitung von schweren Nebenwirkungen einer Therapie gelesen oder berichtet ein Freund davon, wie schlecht es ihm nach der Coronaimpfung ging, ist man schnell verunsichert, besorgt oder ängstlich – und der Körper reagiert den Befürchtungen entsprechend.
Das Wort »nocebo« stammt aus dem Lateinischen und bedeutet »ich werde schaden«. Der Noceboeffekt ist der »böse Zwilling« des besser bekannten Placeboeffekts, der genau umgekehrt wirkt: Die Kopfschmerzen schwinden, weil man glaubt, die eingenommene Pille enthalte einen starken Wirkstoff, und das Kind hört auf zu weinen, sobald sein Vater ein Pflaster auf die Schürfwunde geklebt hat. Beide Effekte haben gemeinsam, dass sie auf Erwartungen beruhen. Doch während der Placeboeffekt das Wohlbefinden fördert oder zur Genesung beiträgt, ist der Noceboeffekt unangenehm oder sogar gefährlich, wenn er Komplikationen hervorruft oder krank macht. Er kann auch dazu führen, dass Patienten für sie wichtige Behandlungen abbrechen, indem sie beispielsweise Medikamente ohne Rücksprache mit ihrer Ärztin oder ihrem Arzt absetzen. Es ist schwierig abzuschätzen, wie häufig der Noceboeffekt ist und wie stark er wirkt, da er in der Praxis mit der »echten« Wirkung von Medikamenten interagieren kann.
Zahnschmerzen durch Erinnerungen
Der Noceboeffekt tritt auch auf, wenn man eine Behandlung mit unangenehmen Empfindungen verknüpft hat. So kann das Geräusch eines Bohrers viele Jahre nach einer Wurzelbehandlung Zahnschmerzen hervorrufen oder der Geruch von Desinfektionsmittel Übelkeit auslösen, wenn er Erinnerungen an eine schwere Magen-Darm-Grippe wachruft. Das Phänomen basiert also auch auf eigenen Erfahrungen. Es wirkt wie eine selbsterfüllende Prophezeiung, die sich aus – bewussten oder unbewussten – Sorgen oder Ängsten speist.
Zudem reagieren Menschen sehr unterschiedlich: Nicht alle sind gleich anfällig für den Noceboeffekt. Bei ängstlichen und pessimistischen Personen kommt er im Durchschnitt häufiger vor. Beobachten Patienten körperliche Veränderungen besonders genau, kann das zu so genannten Fehlattributionen führen: Häufig auftretende Alltagssymptome wie Müdigkeit oder Kopfschmerzen werden dann auf eine Behandlung zurückgeführt, obwohl kein kausaler Zusammenhang besteht.
Laut einer aktuellen Metaanalyse hat die viel diskutierte Coronaimpfung offenbar zahlreiche Noceboreaktionen ausgelöst. Wissenschaftler um Julia Haas vom Programm für Placebostudien der Harvard Medical School in Boston schlossen zwölf Studien mit insgesamt mehr als 45 000 Versuchspersonen in ihre Berechnungen ein. Rund die Hälfte der Männer und Frauen hatten einen Impfstoff erhalten, die übrigen nur ein Scheinpräparat – eine Injektion mit wirkungsloser Kochsalzlösung.
Nach der ersten Injektion berichteten rund 35 Prozent der Teilnehmer mit Scheinbehandlung von Nebenwirkungen, nach der zweiten Dosis waren es 32 Prozent. Das waren zwar signifikant weniger als bei den Geimpften, von denen 46 Prozent nach der ersten und 61 Prozent nach der zweiten Dosis von Nebenwirkungen berichteten. Doch die Studie offenbart die potenziellen Ausmaße des Noceboeffekts: Den Analysen der Forscher zufolge sind etwa zwei Drittel aller Symptome nach einer echten Impfung gegen Corona negativen Erwartungen geschuldet. Dieser hohe Anteil könnte darauf zurückzuführen sein, dass die möglichen Beschwerden besonders ausgiebig in den Medien thematisiert wurden.
Unangenehme Symptome treten besonders häufig auf, wenn viele Menschen davor warnen, wie ein Team um den Neurowissenschaftler Fabrizio Benedetti von der Università di Torino in Italien in einer Studie von 2014 feststellte. Verglichen mit einer Kontrollgruppe ohne Vorinformation litten Menschen häufiger an Höhenkopfschmerzen, wenn sie vor einer Bergbesteigung auf dieses Risiko aufmerksam gemacht wurden. Die Wahrscheinlichkeit war umso größer, je mehr Personen der Gruppe sich in der darauffolgenden Woche untereinander über das Risiko austauschten.
Der Noceboeffekt ist real und messbar
Bilden sich dabei die Menschen ihre Symptome einfach ein? Auf keinen Fall! Doch zum Noceboeffekt gibt es weitaus weniger Forschung als zum verwandten Placeboeffekt – und er ist auch noch nicht so lange bekannt. Fachleute sind sich inzwischen einig, dass negative Erwartungen reale und messbare Auswirkungen auf den Körper haben. Das offenbarte ebenfalls die Studie von Benedetti: Die über Höhenkopfschmerzen informierten Bergsteiger hatten mehr Prostaglandine und Thromboxane im Speichel als die Kontrollgruppe – Substanzen, die Schmerzen im Körper verstärken.
Am besten untersucht ist der Noceboeffekt in der Schmerzforschung. Ein spannendes Beispiel ist eine unserer Studien aus dem Jahr 2011 mit dem potenten Schmerzmittel Remifentanil. Versuchspersonen erhielten das Medikament unter drei verschiedenen Bedingungen: Sie erwarteten entweder eine schmerzstillende, eine schmerzverstärkende oder gar keine Wirkung. Anschließend wurden sie schmerzhaften Hitzereizen am Unterarm ausgesetzt, während ein Magnetresonanztomograf ihre Hirnaktivität aufzeichnete. Das spannende Ergebnis: Im Vergleich zu Menschen, die keine Wirkung erwarteten, verdoppelte sich bei solchen mit positiver Erwartung (weniger Schmerzen) der schmerzstillende Effekt. Gleichzeitig waren bei ihnen Hirnregionen aktiv, die für die Schmerzmodulation verantwortlich sind. Bei Versuchsteilnehmern mit negativer Erwartung (mehr Schmerzen) hingegen verlor das Medikament seine Wirkung. In diesem Fall wurden Hirnareale aktiviert, die bei der Verarbeitung von Emotionen wie Angst eine wichtige Rolle spielen. Das verdeutlicht, dass der Noceboeffekt nicht nur Scheinbehandlungen beeinflusst, sondern auch echte Medikamente schlechter wirken lassen kann.
Angst aktiviert unter anderem den somatosensorischen und den zingulären Kortex – Areale, die für die Schmerzwahrnehmung verantwortlich sind. Die negative Erwartungshaltung verstärkt Schmerzimpulse bereits im Rückenmark und verändert den Hormonstoffwechsel im Körper. So verringert sich etwa die Konzentration von Opioiden, die Schmerzen normalerweise unterdrücken. Auch das dopaminerge System ist weniger aktiv, das bei Belohnungen und positiven Gefühlen eine Rolle spielt. Cholecystokinin hingegen wird vermehrt ausgeschüttet. Dabei handelt es sich um ein Hormon des Magen-Darm-Trakts, das zudem als Botenstoff im Gehirn wirkt und die schmerzstillenden Opioide hemmt. Sind wir ängstlich und angespannt, nehmen wir Schmerzen also verstärkt wahr.
Versuchsteilnehmer gesucht!
Trotz einiger wichtiger Erkenntnisse wissen Forscher insgesamt noch wenig über den Noceboeffekt, vor allem über die ihm zu Grunde liegenden neurobiologischen und neuropsychologischen Mechanismen. Wieso halten sich Noceboeffekte so hartnäckig? Beruhen sie auf ähnlichen Mechanismen wie Placeboeffekte? Der transregionale Sonderforschungsbereich Treatment Expectation (SFB/TRR 289) sucht Frauen und Männer, die an Studien teilnehmen möchten. Weitere Informationen finden Sie unter
Durch Angst und Stress steigt auch die Aktivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse, weshalb mehr »Stresshormone« wie Kortisol ausgeschüttet werden. Ob chronischer Stress empfänglicher für Noceboeffekte macht, wird derzeit noch untersucht. Bekannt ist, dass das Stresssystem Ungeborener bereits im Mutterleib geprägt wird, und die individuelle Veranlagung scheint mit der Anfälligkeit für Noceboeffekte bei Erwachsenen zusammenzuhängen.
Noceboeffekte halten sich recht hartnäckig. Es ist schwer, ihnen entgegenzuwirken – schließlich müssen Ärzte ihre Patienten über mögliche Nebenwirkungen aufklären. Und schlechte Erfahrungen kann man nicht so ohne Weiteres ausblenden. Wer nach der Einnahme eines bitter schmeckenden Hustensafts schon einmal starke Bauchkrämpfe bekommen hat, vergisst das nicht so leicht. Und selbst wenn man ahnt, dass die erlebten Symptome dem Noceboeffekt geschuldet sind, verschwinden sie deshalb nicht einfach. Was also kann man tun?
Gespräche sind wichtig
Ein wesentlicher Teil der Verantwortung liegt beim medizinischen Personal. Zwar wird der Noceboeffekt in der aktuellen Approbationsordnung für angehende Ärztinnen und Ärzte aufgeführt. Dennoch spielt die Kommunikation in Kliniken und Praxen bislang eine eher untergeordnete Rolle. Von einem systematischen Einsatz von Kommunikationsstrategien zur »Noceboprävention« ist man daher noch weit entfernt.
Dabei kann allein die Wortwahl die Erwartungshaltung entscheidend beeinflussen, wie beispielsweise ein Team um Anna Seewald von der Philipps-Universität Marburg herausfand. In der Studie von 2022 hörten Versuchspersonen einer Patientin zu, die wenig begeistert von ihrer Psychotherapie berichtete: Diese habe ihr nicht besonders gut bei der Bewältigung von Stress geholfen. So weckten die Wissenschaftler eine negative Erwartungshaltung. Anschließend präsentierten sie ihren Probanden und Probandinnen ein zweites Video. Nun betonte ein Therapeut die positive Wirkung von Psychotherapie bei Stress. Dafür variierte Seewald die Kompetenz und emotionale Wärme, die der Behandelnde ausstrahlte.
Heraus kam, dass beides einen entscheidenden Einfluss auf die Erwartungshaltung hatte: Wirkte der Therapeut herzlich und fähig, stimmte das die Versuchsteilnehmer zuversichtlicher. Vermutlich wirkt die Ausstrahlung von Behandelnden nicht nur in Psychotherapien, sondern ebenso zum Beispiel bei Hüftgelenksoperationen oder bei der Behandlung von Migräne.
Es sei wichtig, dass Ärzte ihre Patienten nach Erfahrungen mit Therapien fragen und realistische Erwartungen vermitteln, meint Yvonne Nestoriuc von der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Die klinische Psychologin hat sich in einer Übersichtsarbeit mit Noceboeffekten bei Absetzen von Antidepressiva beschäftigt. Ähnlich wie bei den Coronaimpfungen halten sich auch hier Gerüchte um negative Begleiterscheinungen. Das liegt teilweise an mangelnder Aufklärung, wenn Patienten ihre Medikamente ohne ärztliche Begleitung absetzen. Zwar können Beschwerden wie Schwindel, Schlaflosigkeit und Reizbarkeit durchaus auftreten, doch bei einer begleiteten, schrittweisen Verringerung der Dosis sind diese Symptome meist mild und klingen bald wieder ab.
Nestoriuc betont, dass es nicht darum gehe, mögliche Begleiterscheinungen zu beschönigen oder gar zu verschweigen. Vielmehr sei es entscheidend, die negativen Informationen angemessen zu gewichten und richtig zu »verpacken«. Statt den Patientinnen und Patienten mitzuteilen, dass etwa ein Medikament »bei zwei von zehn Menschen Kopfschmerzen hervorruft«, könne man ihnen sagen, dass »acht von zehn Patienten den Wirkstoff gut vertragen«. Ebenso wichtig sei das Gefühl, bei seinem Arzt oder seiner Ärztin gut aufgehoben zu sein. Das gelingt beispielsweise durch eine patientenzentrierte Aufklärung: Sätze wie »Diese Untersuchung brauchen wir für eine reliable Diagnose« verunsichern, während Aussagen wie »Die Untersuchung hilft, die richtige Behandlung für Sie zu finden« das Vertrauen fördern.
Ehrlichkeit überzeugt
Ebenso wichtig ist Ehrlichkeit, davon ist der Placeboforscher Ted Kaptchuk von der Harvard Medical School in Boston überzeugt. Wenn Ärzte Informationen verschweigen, reagieren Patienten verunsichert. Wissen die Betroffenen hingegen über mögliche Nebenwirkungen Bescheid, dann können sie diese korrekt zuordnen und nehmen sie künftig als weniger bedrohlich wahr.
Ein deutscher Fachartikel des Mediziners Ernil Hansen vom Universitätsklinikum Regensburg aus dem Jahr 2020 gibt hilfreiche Hinweise für die richtige Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten. Vieles ist einfach umzusetzen: Neben der angemessenen Gewichtung positiver Wirkungen und möglicher Nebenwirkungen sowie der Ehrlichkeit und Verständlichkeit geht es um einen sensiblen Umgang mit Ängsten und Fragen. Wenn Ärzte ihre Patientinnen und Patienten an Entscheidungen über Behandlungen teilhaben lassen, fördert das bei diesen eine aufgeschlossene und zuversichtliche Haltung. Gleichzeitig wächst das Gefühl der Selbstwirksamkeit: Man hat das Gefühl, das eigene Schicksal in der Hand zu haben.
Sie können dem Noceboeffekt auch selbst etwas entgegensetzen. Sind Sie vor einer Behandlung verunsichert? Fragen Sie bei Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt genau nach: Was soll mit der Behandlung erreicht werden? Wie wirkt das Medikament? Wann ist mit einer Besserung zu rechnen? Wie ordnet man die mit einer bestimmten statistischen Wahrscheinlichkeit auftretenden Nebenwirkungen für sich selbst korrekt ein?
Auch eine eigene Recherche beugt Fehlinformationen vor – jedoch sollte man dubiose Quellen unbedingt meiden, die vor allem im Internet weit verbreitet sind. Der Einfluss der Berichterstattung zeigte sich 2017 in Neuseeland, als landesweit nicht mehr das Originalpräparat Venlafaxin als Antidepressivum verordnet wurde, sondern ein pharmakologisch identisches Generikum (Enlafax). Ein Team um die Gesundheitspsychologin Kate MacKrill von der University of Auckland stellte fest, dass mehr Patienten Begleiterscheinungen meldeten, nachdem bestimmte Medien die Risiken und Nebenwirkungen des Generikums thematisiert hatten. Dabei war der Einfluss von Fernsehbeiträgen stärker als der von Printmedien. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass Journalisten hier eine besondere Verantwortung haben.
Auch mit Informationen aus dem Bekanntenkreis sollte man vorsichtig sein und im Zweifelsfall noch mal nachfragen, wenn jemand von Beschwerden nach einer Behandlung berichtet. Könnten diese womöglich dem Noceboeffekt geschuldet sein?
Insgesamt gilt: Negative Erwartungen sollte man minimieren und positive maximieren. Vielleicht machen Sie sich als Patientin oder Patient bei der nächsten Einnahme eines Medikaments also bewusst, was beispielsweise die »sehr häufige« Nebenwirkung »Übelkeit« bedeutet: nämlich dass neun von zehn – also die allermeisten – Behandelten das Medikament in klinischen Prüfungen gut vertragen haben. Statt des Noceboeffekts ist uns allen doch ein Besuch seines Gegenstücks, des Placeboeffekts, viel lieber.
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