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Ökologie: Erst starb der Geier, dann der Mensch

Ein Musterbeispiel für das Verschwinden sogar sehr häufiger Arten ist das Geiersterben in Indien. Es hatte auch für die Menschen fatale Folgen.
Eine größere Gruppe bräunlicher Geier mit nacktem Kopf und Hals sitzt an einem verdeckten Kadaver vor grüner Vegetation. Die Vögel bilden eine ziemliche aktive Gruppe und sind aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen.
Ein Bild aus der Vergangenheit: Eine größere Gruppe an Weißrücken- und Schmalschnabelgeiern sitzt an einem Kadaver in Indien. Heute sind beide Arten fast ausgestorben.

Bis in die 1990er Jahren gehörten die indischen Geierspezies zu den häufigsten Greifvögeln der Erde: Viele Millionen kreisten am Himmel über dem Südkontinent und entsorgten verlässlich jedes Aas. Dann setzte jedoch ein massenhaftes Sterben ein, das zu einem kompletten Bestandszusammenbruch und nur wenigen tausend überlebenden Individuen führte. Eine Kettenreaktion setzte ein, die allein zwischen 2000 und 2005 schließlich auch eine halbe Million Menschen früher als erwartet das Leben kostete. Das haben Eyal Frank und Anant Sudarshan von der University of Chicago in einer Studie berechnet, die im »American Economic Review« erscheinen soll.

Auslöser des Massensterbens war das Schmerzmittel Diclofenac, das indische Bauern ihren Kühen verabreichten. Starben die Rinder, blieben sie meist in der Landschaft liegen, wo die Geier sie entsorgten. Diclofenac verursacht jedoch bei diesen Greifvögeln (ebenso wie bei Adlern) ein tödliches Nierenversagen. Wegen der massenhaften Anwendung des Medikaments, das den Vögeln selbst in niedriger Dosis schadet, setzte schnell und großflächig der Niedergang der Aasfresser ein. An ihre Stelle traten andere Konsumenten wie verwilderte Hunde oder Ratten, die sich folglich stark vermehrten – und somit häufiger Krankheiten wie die Tollwut weitergaben. Diese wurde von den Hunden durch Bisse auf Menschen übertragen, die in vielen Fällen daran starben. Oft landeten Rinderkadaver auch in Flüssen, um sie zu entsorgen, was die Wasserqualität zusätzlich verschlechterte.

Um genauere Zahlen zu menschlichen Todesfällen zu erhalten, korrelierten Sudarshan und Frank unter anderem die frühere Verbreitung der Geier mit Karten indischer Distrikte und analysierten deren Sterberegister zusammen mit Daten zur örtlichen Gesundheitsversorgung, Wasserqualität und zum damaligen Wetter. Vor 1994 und dem Geiersterben lag die Sterblichkeitsrate in den untersuchten Bezirken bei durchschnittlich zirka 11,5 pro 1000 Einwohner und Jahr. Bis Ende 2005 stieg sie in den Gebieten, in denen traditionell viele Geier gelebt hatten, auf etwa 12 pro 1000 Einwohner und Jahr, was einer Zunahme um etwas mehr als 4 Prozent entspricht. Auf das gesamte ehemalige Verbreitungsgebiet der Geier hochgerechnet, bedeutete das knapp 105 000 zusätzliche Toten pro Jahr. Parallel dazu zeigte sich in den Daten eine wachsende Häufigkeit von Tollwutfällen und verminderte Wasserqualität. In den Bezirken dagegen, in denen vor und nach der Nutzung von Diclofenac keine Geier gelebt und daher als Aasverwerter keine Rolle gespielt hatten, blieb die Sterberate stabil.

Neben den menschlichen Tragödien berücksichtigten die beiden Ökonomen auch den wirtschaftlichen Schaden: Etwa 70 Milliarden US-Dollar könnte der Verlust der Vögel die indische Wirtschaft gekostet haben. Seit 2006 ist Diclofenac aus der Tiermedizin in Indien verbannt und läuft ein Erhaltungszuchtprogramm für die Geier. Ihr Bestand hat sich immerhin auf sehr niedrigem Niveau stabilisiert, doch zu einstiger Verbreitung werden sie wahrscheinlich nie mehr zurückkehren – und damit auch nicht mehr zu ihrer früheren Rolle als Gesundheitspolizei.

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