Ökosystem Seegras: Wenn das Meer mit Bällchen wirft
An den Küsten weltweit, von den Tropen bis zum nördlichen Polarkreis, wiegen sich im flachen Wasser die abertausenden leuchtend grünen Halme einer Unterwasser-Prärie: Seegraswiesen. Ihr Dickicht aus Blättern und Wurzelballen ist ein einzigartiges Ökosystem, in dem mikroskopisch kleine Algen wie mächtige Seekühe schweben. Zitronengelbe Seepferdchen klammern sich mit ihren Greifschwänzen fest und saugen Flohkrebse ein, daneben weiden winzige Schnecken den Algenaufwuchs ab. Mini-Seesterne gehen auf winzigen Saugfüßchen langsam ihrer Wege, umstelzt von transparenten kleinen Garnelen.
In der dichten Blättermatte der Seegraswiesen finden viele Meereswesen Schutz, Sitzplätze, Verstecke und Nahrung. Die Unterwasserwiesen sind aber auch Ingenieure ihrer Umwelt: Sie fangen Sediment ein, verringern die Strömungsgeschwindigkeit, bremsen Erosion und produzieren Sauerstoff. Ohne Seegras würden die Küsten unter und über Wasser dramatisch anders aussehen. Nun sind die mediterranen Seegras-Ökosysteme mit all ihren Bewohnern besonders gefährdet.
Bedrohte Wiese des Poseidon
Seegräser blühen nur selten, sie vermehren sich nicht oft sexuell. Meistens reproduzieren sie sich über horizontale Wurzelsprosse, also genetisch identische Klone. Solche Bestände wachsen langsam, können aber sehr groß und sehr alt werden – im Mittelmeer erreichen sie teils mehr als 15 Kilometer Ausdehnung und sind bis zu 80 000 Jahre alt! Das Gras der Unterwasserwiesen ist dabei botanisch gar keins: Die insgesamt 16 Gattungen der Seegräser mit ihren vielen Arten gehören zu den Froschlöffelgewächsen (Alismatales). Aus jeder Pflanze sprießen zwei bis sechs schmale, lange Blätter dem Sonnenlicht an der Meeresoberfläche entgegen. Unten verankern sie sich im Sandgrund stabil mit Rhizomen und verzweigten Wurzeln und bilden diese Wurzeln auf felsigen Untergründen in Haftscheiben um.
- Sie stabilisieren mit ihrem verfilzten Wurzelwerk weiche Meeresböden und schützen als Wellenbrecher Küsten vor Erosion,
- sie nehmen viel CO2 auf und geben Sauerstoff ab,
- sie bieten vielen Arten Schutz als Kinderstube für Fische und andere Meerestiere, darunter wichtige Nahrungsressourcen für Menschen,
- sie filtern Sedimentpartikel und andere Schwebstoffe aus dem Wasser und verbessern die Wasserqualität, und
- sie fangen Mikroplastik ein und rollen es mitunter zurück an Land.
Weil es langsam wächst, kann sich Seegras nicht schnell an neue Umweltbedingungen anpassen. Dazu kommt die geringe genetische Variabilität der Klon-Communitys, bei denen eine Pflanze wie jede andere auf Störungen wie die Schwankungen von Temperatur oder Salzgehalt reagiert. Mit der Meereserwärmung und ihren Folgen kommt die Klongemeinschaft bloß schwer zurecht: Im westlichen Mittelmeer sprossen sie nach zwei Hitzewellen und durch den Temperaturanstieg insgesamt deutlich gebremst – und gerade das nur im Mittelmeer vorkommende Seegras Posidoniareagiert besonders empfindlich.
Dort, an den touristisch stark genutzten Küsten, sind die Seegraswiesen zusätzlich durch mechanische Zerstörungen bedroht, die durch illegales Ankern verursacht werden. Die langsam wachsenden Froschlöffelgewächse können die dabei entstehenden Verwüstungen nicht kompensieren. Gleichzeitig erfahren sie gerade zunehmend starke Konkurrenz von invasiven Großalgen, die durch den Sueskanal aus dem Roten Meer einwandern – diese wachsen schneller und tolerieren auch Wärme besser.
Seegräser filtern Plastik aus dem Meer und rollen es zurück an Land
Das allmähliche Verschwinden des Seegrases dürfte Folgen haben. Wohl auch solche, an die man vielleicht zunächst nicht denkt. Ein Beispiel ist die Umweltverschmutzung mit Plastikmüll, ein erhebliches Problem an der spanischen Mittelmeerküste und um die Balearen. In der spanischen Region Almeria nimmt es seit den 1970er Jahren zu, als man mit dem industriellen Anbau von Obst und Gemüse unter Plastikplanen begann: UV-Strahlung und Wind zersetzen die großflächig aufgespannten Folien, zerfetzen sie und verwehen sie durch die Landschaft. Die Kunststoffstücke zerfallen in immer kleinere Stücke und landen schließlich mit Wind, Regen oder über Wasserläufe im Meer; darunter viele Partikel von unter fünf Millimeter Größe: Mikroplastik.
Ein spanisches Forscherteam um Anna Sanchez-Vidal von der Universität Barcelona ist den Wegen von Mikroplastik im Meer in den Seegrasgürteln der Balearen-Inseln nachgegangen. Hier wachsen zwischen Formentera und Ibiza die größten zusammenhängenden Seegrasbestände des Mittelmeers im seit 1999 als UNESCO-Weltnaturerbe geschützten Parque Natural de Ses Salines d'Eivissa i Formentera. Gleich nebenan, vor Mallorca, fanden die Biologen erhebliche Ansammlungen winziger Kunststoffpartikel zwischen den dicht stehenden Halmen und verzweigten Wurzelballen der Seegrasbestände. Offensichtlich fangen sie diese zusammen mit den natürlichen Sedimentpartikeln ab, bevor Wellen und Strömungen sie ins offene Meer weitertransportieren können. Die Meereswiesen verringern damit also den Mikroplastikeintrag ins Meer – eine bisher wenig bekannte Leistung des Ökosystems.
Wirklich Erstaunliches geschieht dann aber im Herbst, wenn die große Seegras-Waschmaschinentrommel anspringt und den Mikroplastikmüll zumindest teilweise zurück ans Land rollt. Der Vorgang beginnt, wenn die Seegräser wie üblich in den gemäßigten Zonen ihre Blätter abwerfen – das Unterwasser-Herbstlaub trudelt zu Boden und verfängt sich größtenteils im Wurzelgeflecht und zwischen den Wellenrippeln des Meeresbodens. Die mechanische Kraft der rollenden Wellen bewegt die Pflanzenteile nun wie in einer Waschmaschine, bis nur noch die widerstandsfähigen Zellulose- und Ligninfasern übrig bleiben – und Kunststoff. Die Wellen rollen und verfilzen die pflanzlichen und künstlichen Bestandteile immer weiter, bis aus dem Wust kompakte Bällchen werden: Neptunsbällchen oder Aegagropilae. Besonders kräftige Wellen, etwa bei Sturm, rollen die Bällchen dann bis an den Strand, wo sie im Spülsaum liegen bleiben.
Die eingefangenen Polymerfilamente, -fasern und -fragmente bestehen aus Polyethylenterephthalat (PET) und anderen Kunststoffen: »Ein Kilogramm Pflanzenfasern kann bis zu 1470 Plastikpartikel mitnehmen«, erklärt Sanchez-Vidal. »Nach ersten Schätzungen könnten Aegagropilae bis zu 867 Millionen Kunststoffteilchen pro Jahr einsammeln.«
Meereswiesen binden besonders viel CO2
Die Ozeane sind eine der größten Kohlenstoffsenken der Erde, sie absorbieren jährlich etwa 25 Prozent des ausgestoßenen Kohlenstoffs. Besonders effektiv sind die großen Pflanzenbestände der Seegraswiesen, Mangrovenwälder und Salzmarschen. Alle drei Ökosysteme wachsen in flachen Küstengewässern und sind daher durch menschliche Aktivitäten stark bedroht, ihre Bestände werden stetig kleiner. Der Weltklimarat sieht in ihnen dringend schutzbedürftige Werkzeuge gegen die Klimakrise mit enormer Wirkung. So bedecken Seegraswiesen weltweit in allen Ozeanen nur etwa 0,1 Prozent der Meeresböden, sie speichern aber 27 Millionen Tonnen CO2 – etwa 10 bis 18 Prozent des von den Meeren aufgenommenen Kohlendioxids.
»Blue Carbon« heißt diese hohe Klimaschutzleistung von Seegras, Mangroven und Marschbewohnern. Wenn Landpflanzen absterben, werden sie von sauerstoffzehrenden Bakterien zersetzt, der in den Pflanzen gespeicherte Kohlenstoff wird wieder freigesetzt. Bei Seegras und anderen Meerespflanzen hingegen wird sehr viel des Kohlenstoffs im Wurzelwerk gespeichert und verbleibt auch nach dem Absterben zum größten Teil im Sediment. Dort gibt es wenig Sauerstoff und somit nur geringe Bakterienaktivität. Der im abgestorbenen Seegras-Rhizom gespeicherte Kohlenstoff kann dann über viele hundert oder tausend Jahre sicher im Meeresboden eingeschlossen bleiben. Bloß ein kleiner Teil der Pflanzenleichen wird an Land gespült und gibt beim Verrotten CO2 an die Atmosphäre ab. Zusätzlich filtern die Seegrasgürtel mit ihren bis zu zwei Meter langen Blättern organische Schwebteilchen aus dem Wasser und lagern auch den darin enthaltenen Kohlenstoff ein.
Seegras in Nord- und Ostsee
Im Atlantik sowie in der Nord- und der Ostsee bilden das Echte und das Zwergseegras (Zostera marina und Z. noltei) die Unterwasserwiesen, ihre Blätter sind deutlich kürzer als die von Posidonia. In der erdgeschichtlich jungen Ostsee sind auch die Pflanzenbestände nicht ganz so alt – Wissenschaftler des GEOMAR schätzten einen Zostera-Bestand vor den Åland-Inseln zwischen Schweden und Dänemark auf 800 bis 1600 Jahre.
Auch die baltischen Meereswiesen sind Hot Spots der biologischen Vielfalt: Die mit den Seepferdchen verwandten Seenadeln stehen mit ihren langen, dünnen Körpern kopfüber im Seegras, ihre braun-grünliche Färbung vervollkommnet die perfekte Tarnung. Wie die Seepferdchen saugen auch sie mit ihrer schmalen Schnauze Plankton ein. Im Greifswalder Bodden zählten Fischereibiologen neben den schlangenartigen Seenadeln im Unterwasser-Dickicht 40 verschiedene Kleinfisch-Arten. Dazu kam noch der Nachwuchs größerer Fische wie der wirtschaftlich wichtigen Heringe und Hornhechte – die heften ihre Eier an die Zostera-Blätter und bieten ihrem Nachwuchs damit Versteck und Nahrung direkt nebeneinander.
Früher wuchsen die baltischen Seegrasbestände bis in über 17 Meter Tiefe, heute bekommen sie unterhalb von sechs Metern meist nicht mehr genug Sonnenlicht. Vor allem der starke Nährstoffeintrag durch landwirtschaftliche Abwässer führt zur massenhaften Vermehrung winziger Grünalgen und trübt das Binnenmeer.
Die dänische Meeresökologin und Seegras-Expertin Marianne Holmer von der Universität Odense erforscht die Folgen der Eutrophierung auf diese Meerespflanzen. Die Nährstofflast und die Erwärmung erzeugen gerade in der sommerlichen Ostsee immer wieder Todeszonen mit Sulfiden statt Sauerstoff – tödlich für die meisten Tiere und Pflanzen. Manche Seegräser haben allerdings spezielle Mechanismen gegen eindringende Sulfide entwickelt: Gerade Zostera hat sich als sehr robust erwiesen, während Posidonia im Sulfid-Regime nur mickrig wächst. Holmer und ihre Arbeitsgruppe haben mit dem Einsatz sulfidreduzierender Bakterien eine Kur entwickelt, die die geschwächten Seegraswiesen stärken und wiederherstellen soll.
Wenn die anderen Belastungen wie Düngemitteleinträge und mechanische Zerstörungen reduziert werden, so Holmer, könnten die Meereswiesen den weltweiten Temperaturanstieg vielleicht überleben. Die widerstandsfähigen Zostera-Arten könnten dabei eine Schlüsselfunktion einnehmen.
Neben Holmers Arbeitsgruppe experimentieren jetzt weltweit viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit der submarinen Aufforstung. Das interdisziplinäre SeaArt-Projekt der TU Braunschweig will mit Hilfe von Geflechtmatten zerstörte Meereswiesen wiederaufbauen: Auf dem nackten Meeresboden verlegt es zunächst das biologisch abbaubare Flechtwerk wie einen Rollrasen, dann setzt es neue kleine Zostera-Pflanzen ein, die dort Halt und Schutz finden. So kann schließlich ein neues Seegras-Biotop entstehen.
Mittlerweile haben Gemeinden von Ostseebädern auch noch weitere positive Seiten des Seegrases wiederentdeckt: Sah man vor 20 Jahren im stinkend-gammelnden Pflanzen-Wirrwarr an den Badestränden vor allem ein Ärgernis, wird es jetzt wieder als preiswerter Bio-Rohstoff gesammelt und genutzt: als Füllstoff für Möbelpolster und Dämmstoff beim Hausbau, wie vor der Plastik-Ära. Seegras hat exzellente Dämmeigenschaften, ist wegen des hohen Silikatgehalts nicht leicht entflammbar und so salzig, dass Fäulnis, Pilze und Schädlinge wie Hausstaubmilben keine Chancen haben. Damit sind Seegräser ein besonders prägnantes Beispiel für den hohen sozioökonomischen Wert mariner Ökosysteme – ihr Schutz ist eine Win-win-Strategie für alle, von der Seenadel bis zum Lokalpolitiker.
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