Kinder und Trauer: "Oma, wann stirbst du denn?"
Am Ende einer ruhigen Straße steht das Einfamilienhaus, inmitten eines Wohngebiets einer Kleinstadt nahe dem hessischen Darmstadt. Im Garten steht eine Schaukel, auf dem Rasen liegt ein Fußball – Reminiszenzen an ein glückliches Familienleben, das vor drei Tagen ein jähes Ende genommen hat. Der Familienvater ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Zurück bleiben die 39 Jahre alte Ehefrau und der acht Jahre alte Sohn des Paars, Tristan. Um ihn geht es in dieser Geschichte. Wie verkraftet ein Kind den Tod eines nahen Angehörigen? Wie kann man ihm am besten helfen? Tristans Mutter ist unsicher, wie sie mit ihrem Sohn umgehen, wie sie mit ihm über das Unfassbare sprechen soll: dass sein Vater tot ist. Dass er nie wieder kommt. Deshalb hat sich die 39-Jährige an den Malteser Hilfsdienst gewandt und um Unterstützung gebeten. Die Malteser bieten neben Trauergruppen für Kinder von 8 bis 14 Jahren auch Einzelbegleitung für 6- bis 18-Jährige in den Familien an.
Die Unterstützung kommt nun in Person von Christine Hass-Schuster zu Tristan und seiner Mutter nach Hause. Hass-Schuster ist qualifizierte Trauerbegleiterin. Diesen Titel darf nicht jeder führen: Sie hat dafür über eineinhalb Jahre hinweg eine anerkannte Ausbildung absolviert, Hausarbeiten zum Thema geschrieben und eine Abschlussarbeit verfasst. "Kinder trauern anders als Erwachsene", erläutert die Expertin. Der größte Unterschied besteht darin, dass Kinder die Welt jeden Tag ein Stückchen mehr entdecken. "Sie sind es gewöhnt, sich auf unsicherem Terrain zu bewegen", sagt Hass-Schuster. "Erwachsene hingegen glauben, alles in der Hand zu haben." Wenn sie dann vom Verlust eines Menschen betroffen sind, ziehe ihnen das schnell den Boden unter den Füßen weg.
"Kinder sind es gewöhnt, sich auf unsicherem Terrain zu bewegen"Christine Hass-Schuster
Das heißt, Kinder wenden sich auch mal einem Spiel zu und sind fröhlich. "Auf Erwachsene wirkt das, als würden sie nicht trauern oder seien gleichgültig." Auch Tristans Mutter wundert sich über das Verhalten ihres Sohnes. Er kann lachen und den Tod seines Vaters völlig ausblenden – als ob nichts passiert wäre. Doch Erwachsene sollten sich davon nicht täuschen lassen. Damit verarbeitet das Kind seine Trauer: "Es versucht, sein seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen", erklärt Hass-Schuster. Tristans Mutter hat sie versichert, dass Tristans Verhalten völlig normal ist. "Die Seele lässt nur so viel zu, wie sie verkraftet." Kinder hüpfen von Trauerpfütze zu Trauerpfütze, Erwachsene waten durch einen Trauerfluss. Mal weinen trauernde Kinder, mal lachen sie, mal sind sie wütend, störrisch oder haben Angst. Auch deshalb ist es hilfreich, wenn professionelle Trauerbegleiter hinzugezogen werden. "Wir sind emotional nicht involviert und haben den nötigen Abstand", so Hass-Schuster.
Als die Trauerbegleiterin das Kinderzimmer betreten habe, habe Tristan auf dem Teppich gekniet und gerade einen Turm aus bunten Lego-Steinen vollendet, erinnert sich die Trauerbegleiterin: "Guck mal, was ich gebaut habe", habe der Achtjährige stolz gesagt und gestrahlt. "Das ist ein Hochhaus, und nachher baue ich noch einen Parkplatz." Nach der herzlichen Begrüßung setzt sich Christine Hass-Schuster zu dem Jungen auf den Boden. In den kommenden zwei Stunden wird sie versuchen, mit Tristan über seinen Verlust und den Schmerz zu sprechen, soweit der Junge es zulässt.
Trauernde Kinder brauchen keine Therapie
Gemeinsam räumen sie die Spielsachen beiseite. Dann öffnet Hass-Schuster den Koffer, den sie mitgebracht hat. Tristan hilft ihr beim Ausräumen. Zum Vorschein kommen unter anderem eine Kerze und ein Stein. Das ist der Sprechstein. Den erhält derjenige, der redet. Nachdem sie die Kerze für den Verstorbenen entzündet haben, sprechen die beiden über ihre Woche. Auch Hass-Schuster erzählt, was sie erlebt hat. "Wir müssen uns ebenfalls öffnen, damit das Kind Vertrauen aufbaut." Aus dem gleichen Grund haben Trauerbegleiter eine Schweigepflicht. Dieser unterliegt alles, was das Kind erzählt – außer es ist Gefahr in Verzug. "Wenn das Kind sich zum Beispiel selbst verletzt, handeln wir", sagt Hass-Schuster. Wenn die Situation es erfordert, holen sich Trauerbegleiter Rat von einem Psychologen und arbeiten mit ihm Hand in Hand. "Das passiert aber selten", erklärt Hass-Schuster. Generell sei therapeutische Begleitung von trauernden Mädchen und Jungen nicht nötig. Dennoch schicken manche Erwachsene Kinder nach dem Verlust einer engen Bezugsperson zu einem Therapeuten. "Das ist schade", findet Hass-Schuster. Denn es suggeriert den Kindern, mit ihnen sei etwas nicht in Ordnung. Dabei ist Trauer etwas Natürliches. "Der Tod gehört zum Leben. Kinder sollten die Chance bekommen, ein normales Verhältnis dazu zu entwickeln." Dazu gehört das Sprechen über den Verstorbenen und die Erinnerung an die gemeinsame Zeit. Dafür hat Hass-Schuster in der Ausbildung Methoden gelernt, aber für den Umgang mit trauernden Kindern gibt es keine Schablone. "Jeder Fall ist anders, jedes Kind verarbeitet den Verlust unterschiedlich schnell."
Erkenntnisse der Trauerforschung haben gezeigt: Wie Kinder trauern, ist vor allem abhängig von ihrem Alter, denn das wiederum bestimmt das Verständnis von Sterben und Tod. Kinder können den Tod mit allen seinen Konsequenzen erst mit zunehmendem Alter begreifen. Drei- bis Sechsjährige kennen zwar schon den Begriff "tot sein", verstehen aber noch nicht seine Endgültigkeit. Tod bedeutet in diesem Alter vielmehr fort sein, weggehen oder schlafen. Das heißt, die Kinder erwarten die Rückkehr des Verstorbenen. Daher kann man die wütend ausgesprochenen Todeswünsche von Kindern dieses Alters besser verstehen: "Du sollst tot sein" bedeutet "Du sollst weggehen". Auch beziehen Kinder den Tod nicht auf sich selbst: Tot sein können nur andere.
Kinder im Alter von sechs bis neun Jahren erkennen, dass der Tod alle Menschen treffen kann, auch ihnen sehr nahestehende und auch sie selbst. Mögliche Gefahren werden ihnen bewusster, und sie entwickeln ein größeres Sicherheitsbedürfnis. Sie haben ein sachlich-nüchternes Interesse am Tod. Trotzdem verstehen sie nicht alles und können deshalb Verlust- und Trennungsängste entwickeln. Jugendliche haben verstandesmäßig dieselben Vorstellungen vom Tod wie Erwachsene. Sie stellen sich die großen Sinnfragen, fürchten sich vor dem Sterben und vor Schmerzen. Oft empfinden sie Angst und Unsicherheit beim Gedanken an den Tod. Oft haben sie Schwierigkeiten, Gefühle auszudrücken, die den Tod betreffen.
Angehörige sollten den Tod nicht beschönigen
Auch wenn kleinere Kinder den Tod nicht begreifen: Sie spüren, dass etwas nicht stimmt. "Für ihre Umgebung haben sie sehr feine Antennen", erklärt Hass-Schuster. Das Wichtigste im Umgang mit trauernden Kindern und Jugendlichen ist deshalb Offenheit und Ehrlichkeit. "Sonst machen sich die Kinder ihre eigenen Gedanken", sagt Hass-Schuster. Und die Fantasie ist mitunter schlimmer als die Realität. Das ist auch der Grund, warum Kinder mit zur Beerdigung genommen werden sollen. Weiterhin spricht nichts dagegen, Kindern den aufgebahrten Leichnam zu zeigen. Hinterbliebene sollten die Mädchen und Jungen miteinbeziehen und ihnen die Wahrheit sagen – altersgerecht in kleinen Dosen. "Angehörige sollten nicht beschönigen und nicht drum herumreden." Ein Satz wie "Opa ist eingeschlafen" kann Angst vor dem Einschlafen auslösen. Eine ebenso fatale Wirkung kann es haben, wenn Hinterbliebene dem Kind sagen "Papa ist von uns gegangen". "Das Kind denkt dann, der Vater habe es verlassen", erklärt Hass-Schuster. Daraus kann einerseits die Hoffnung entstehen, Papa komme irgendwann wieder zurück. Andererseits kann das Kind Schuldgefühle entwickeln, nach dem Motto: Wäre ich lieb gewesen, wäre Papa nicht gegangen.
"Wenn der Opa gestorben ist, kann es schon sein, dass das Kind irgendwann fragt: 'Oma, du bist doch auch alt, wann stirbst du denn?'"Christine Hass-Schuster
Tristan hat man solche Sätze nicht gesagt. Mit dem Tod kam der Junge schon in Berührung: Vor einem Jahr starb sein geliebtes Meerschweinchen Porky. Mit seinen Eltern hat sich Tristan von dem Tier verabschiedet, im Garten haben sie es beerdigt. An der Stelle steht noch heute ein kleines Holzkreuz, das Tristan mit seinem Vater gebastelt hat. "Der Tod eines Haustiers kann eine Chance sein, mit Kindern über den Tod ins Gespräch zu kommen", erklärt Hass-Schuster. Grundsätzlich können Erwachsene die natürliche Neugier der Kinder nutzen. Dabei mögen auch skurrile Situationen entstehen. "Wenn der Opa gestorben ist, kann es schon sein, dass das Kind irgendwann fragt: 'Oma, du bist doch auch alt, wann stirbst du denn?'" Das sei keinesfalls böse gemeint, sondern ein Zeichen dafür, dass das Kind sich mit dem Thema auseinandersetzt. "Kinder können in den Tod mit all seiner Bedeutung hineinwachsen", sagt Hass-Schuster. Sie zu schützen, führt deshalb in die falsche Richtung, "denn dann können sie ihren eigenen Schutzmechanismus nicht entwickeln, um Krisen zu überwinden".
Durch die regelmäßigen Treffen mit Christine Hass-Schuster hat Tristan gelernt, seine Gefühle auszudrücken. Nach zweieinhalb Monaten – so lange dauert eine Trauerbegleitung bei den Maltesern in der Regel – kann Tristan mit seinem Schmerz schon viel besser umgehen. Seinem Vater malt er regelmäßig Bilder oder schreibt Briefe in ein Trauertagebuch, das Hass-Schuster ihm gegeben hat. "Lieber Papa", heißt es darin, "ich vermisse dich sehr. Ich wollte noch ganz oft im Garten mit dir Fußball spielen. Mama kann nicht so gut kicken wie du." Der große Schock ist liebevoller Erinnerung gewichen. Gleichwohl ist der Verlust eines geliebten Menschen stets ein Lebensthema. Tristan wird sein Vater noch oft fehlen: beim Abschlussball, beim Schulabschluss, bei der Hochzeit. "Vor allem in solchen Momenten kann es einen Rückfall in die Trauer geben", betont Hass-Schuster. Doch Tristan hat gelernt, damit umzugehen. Irgendwann wird der brennende Schmerz ein dumpfer sein.
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