Wale: Orcas, die Jachten rammen
Victoria Morris wurde als eine der ersten Seglerinnen auf ihrer Jacht von Schwertwalen angegriffen. Im Sommer 2020 war das, und für die Biologin war es ein traumatisches Erlebnis, wie sie später der britischen Zeitung »The Guardian« erzählte. Als sie »Mayday: Orca Attack!« funkte, hätten die erfahrenen Seeleute der Küstenwache zunächst an einen Scherz geglaubt. Doch die Wale hätten ihre Aktion mit schrillen Pfiffen koordiniert, was in Kombination mit Rammstößen, Wind und Wellenschlag eine beängstigende Geräuschkulisse ergeben habe, berichtete Morris weiter. Es sollte nicht das einzige Ereignis dieser Art bleiben.
Auf die Attacke am 29. Juli 2020 folgen bis Mitte Juni 2022 235 weitere. Das geht aus einer Statistik von »Iberian Orca« hervor. Die Arbeitsgruppe hatten Forscherinnen und Forscher nach den ersten Vorfällen gegründet, um das neue Verhalten zu protokollieren, zu analysieren und die wesentlichen Fragen zu beantworten: Was steckt hinter dem Verhalten der Schwertwale (Orcinus orca) und wie geht man am besten damit um?
Die Orcas greifen zumeist größere Segelboote an
Zwar geraten Orcas und Boote immer mal wieder aneinander – etwa im Südpolarmeer oder vor der Küste Alaskas und Britisch-Kolumbiens. Doch bis 2020 gab es weltweit nur zwei Berichte von Schwertwalen, die Boote angriffen: Im Jahr 1972 hatte eine Walgruppe nahe der Galapagosinseln eine Jacht versenkt, ein ähnlicher Vorfall wiederholte sich 1976 vor der Küste Brasiliens. Da diese Tiere allerdings nicht versucht hatten, Schiffe abzudrängen, gelten die Gibraltar-Schwertwale als die erste Population, die in der Gruppe koordiniert Boote an der Weiterfahrt hindert.
Die meisten Zwischenfälle ereignen sich in der Straße von Gibraltar, weitere in portugiesischen und spanischen Gewässern bis vor Galicien. Im Jahr 2022 ging es im Januar los, Ende Mai 2022 gab es innerhalb von 24 Stunden gleich zwei. Die Vorfälle dauerten zwischen 30 Minuten und zwei Stunden. Vor allem auf größere Segelboote haben die Tiere es abgesehen.
Steckbrief: Schwertwale
Schwertwale (Orcinus orca) werden durchschnittlich sieben bis acht Meter lang und können mehr als sechs Tonnen wiegen. Die Orcas der Straße von Gibraltar und des Golfs von Cádiz sind die südlichste Unterpopulation der Nordostatlantik-Schwertwale.
Orcas leben in matrilinearen Familiengruppen: Ein altes Weibchen – die Matriarchin – führt ihre Gruppe aus ihren Söhnen und Töchtern sowie den Nachkommen der Töchter. Diese Familiengruppen bleiben über lange Zeiträume hinweg stabil, irgendwann verlässt eine der Töchter mit ihren Nachkommen die Gruppe.
Der Bestand der Straße von Gibraltar besteht aus fünf Familien mit etwa 50 Mitgliedern. Genetische Untersuchungen haben gezeigt, dass sie zwar zum nordöstlichen Atlantikbestand gehören, aber schon lange isoliert sind. Auch die Foto-Identifikations-Kataloge zeigen, dass zwischen den iberischen Familien und anderen kaum Austausch besteht.
Alle Augenzeugen berichten übereinstimmend, die Orcas hätten zu keinem Zeitpunkt versucht, einen Menschen anzugreifen oder ein Boot zu versenken – offensichtlich wollten sie die Boote bloß zur Umkehr bewegen. Die schnellen Wale hätten sich von achtern angepirscht, die Jacht anschließend gerammt und dabei gezielt die Ruderanlage angegriffen, heißt es. Forschende fanden außerdem Zahnspuren an Kiel und Bug.
»Disruptives Verhalten« nennen dies die Meeresbiologin Ruth Esteban vom Madeira-Walmuseum und der Meereswissenschaftler Alfredo López von der University of Santiago, die zu »Iberian Orcas« gehören. Steuerten die Bootsinsassen gegen, veranlasste das die Meeressäuger, stärker zu agieren – ähnlich wie Hunde, die zunächst nur bellen und allmählich zuschnappen, erklärt Esteban. Außerdem scheinen die Wale die Funktion des Ruders zu verstehen, sagt López.
Eine mögliche Ursache: Der Kampf um Futter
Weshalb die Angriffe zwischen Januar und Oktober stattfinden, ist schnell erklärt: Auf der Suche nach Nahrung tauchen die Zahnwale regelmäßig ab Januar in der Gegend auf. Dann nämlich kommt der Rote Tunfisch (Thynnus thunnus) aus dem Atlantik durch die Straße von Gibraltar zur Fortpflanzung ins Mittelmeer. Nach der Tunfisch-Saison im Oktober verschwinden die Wale wieder im offenen Atlantik.
Auch ist bekannt, welche Tiere den Konflikt suchen. Die Interaktionen mit den Jachten gehen von zurzeit 14 Walen aus vier unterschiedlichen Familiengruppen aus, erklärt López. Diese von den Biologen GLADIS genannte Gruppe besteht aus einer Großmutter, zwei Müttern, deren Nachwuchs und zwei weiteren Individuen.
Offensichtlich haben die Familien voneinander gelernt, sagt Alfredo López. Diese Art des Lernens – »horizontales Lernen« genannt – innerhalb einer Gesellschaft sei eine kulturelle Leistung. López betont, das Verhalten der GLADIS-Gruppe sei nicht aggressiv. Die Tiere wollten weder Menschen verletzen noch Boote versenken. Dass es dazu kommt, sei ein Versehen, davon ist López überzeugt. So hatte im Mai 2022 ein marokkanischer Fischer erstmals sein kleines Boot verloren: Nachdem Orcas ihn angerempelt hatten, schlug das mutmaßlich marode Boot leck und sank, während seine Kollegen ihn abschleppten. Die eigentliche Absicht der Schwertwale sei es, bestimmte Bootstypen an der Weiterfahrt zu hindern.
Die Beobachtungen führen zurück zu der übergeordneten Frage, warum einige Tiere zum Angriff übergegangen sind. Eine Vermutung: Die Orcas erleben die Fischer und damit größere Boote mittlerweile als starke Nahrungskonkurrenten um Tunfisch. Zwar wird in der Region seit Jahrhunderten gefischt und die Gibraltar-Orcas haben sich mit den Fischern arrangiert; einige Walfamilien haben etwa gelernt, den Fang beim Einholen der Leinen direkt von den Haken zu pflücken. Doch Tunfisch wird immer beliebter, was die Bestände gefährdet.
Forschende sind sich weitgehend einig, dass die Gibraltar-Schwertwale unter starkem Stress stehen. Die Orcas werden von Fischerbooten gestört oder verletzt, manchmal verlieren sie sogar ihre Kälber, weil diese sich in den Netzen verfangen. Erboste Fischer versuchen zudem, die schwarz-weißen Meeresjäger mit Steinwürfen, manchmal sogar mit Elektroschockern, die eigentlich zur Betäubung der Tunfische am Haken dienen, zu vertreiben, wie Jörn Selling von der Stiftung firmm schon häufiger gehört hat. Er ist
Achtung, Orca – ein Verhaltenskodex für Bootsführer
Also was tun? Ein Team um den Meereswissenschaftler Neus Perez Gimeno hatte wegen der Überfischung und der gleichzeitig steigenden Anzahl von Whale-Watching-Touren bereits 2014 empfohlen, einen Plan zum Schutz der bedrohten iberischen Orca-Population zu erarbeiten. Zwei Jahre lang geschah nichts.
Im Jahr 2016 forderte eine Gruppe um Ruth Esteban und Andy Foote die spanische Regierung daher erneut auf, einen Managementplan zu erstellen, um ein saisonales Schutzgebiet einzurichten, in dem Aktivitäten, die Unterwasserlärm verursachen, eingeschränkt sind. Außerdem sollten diese Orcas auf der Internationalen Roten Liste der Weltnaturschutzorganisation in die Kategorie »gefährdet« eingestuft werden, um stärkere Schutzmaßnahmen zu ermöglichen. Und die Biologen forderten einen stärkeren Schutz des Roten Thuns, um die Nahrungsgrundlage der Wale zu sichern.
Die spanische Regierung kommt diesen Forderungen nur teilweise nach, etwa mit der saisonalen Schließung des Seegebiets, in dem die meisten Orca-Jacht-Interaktionen stattfanden, und der Überwachung der spanischen Fischer.
López und weitere Forschende betonen: Man sollte endlich die Nutzung dieses Seegebiets und die Auswirkungen der menschlichen Aktivitäten auf die Orcas kritisch überdenken und gegen illegale Fischerei und Aktivitäten vorgehen.
Seit 2020 warnt die spanische Küstenwache via Radio kleinere Boote vor Orca-Aktivitäten. Werden Orcas gesichtet, werden Bootsführer beispielsweise aufgefordert, sich nicht zu nähern und den Tieren ausreichend Freiraum zu gewähren. Im Sommer 2020 und 2021 hatten die spanischen Behörden das Seegebiet nach zu vielen Jacht-Wal-Aufeinandertreffen schließlich für kleine Boote gesperrt. Damit Bootsführer sicher durch die Gewässer kommen und die Tiere nicht zusätzlich gefährdet sind, haben die Iberian-Orca-Wissenschaftler einen Verhaltenskodex für Bootsführer entwickelt.
Ein Rat lautet etwa, das Boot zu stoppen und das Steuer sofort loszulassen. Außerdem sollten Skipper die Tiere nicht anschreien oder anfassen und keine Gegenstände nach ihnen werfen, sondern sie fotografieren, damit die Meereswissenschaftler und Biologinnen von Iberian Orca sie anschließend identifizieren können. Zudem sei es wichtig, die spanischen und portugiesischen Behörden zu kontaktieren, telefonisch unter 112 oder über UKW-Kanal 16.
Eine Lösung: Mit Schwertwalen kooperieren statt konkurrieren
Die Behörden beobachten die Entwicklung weiterhin. Falls nötig, würden sie wieder Sicherheitsmaßnahmen verhängen, sagt Alfredo López. Die teilweise reißerische Berichterstattung beobachtet der Biologe derweil mit Sorge. Statt Angst zu schüren und von »Killerwalen« zu schreiben, wäre es sinnvoller, sachliche Informationen zum Umgang mit den gestressten Walen wie den Verhaltenskodex für Bootsführer zu kommunizieren. Ein weiterer Ansatz wäre, widerstandsfähigere Boote zu nutzen, um die Besatzungen zu schützen. Dann würden Menschen bei solchen Begegnungen vielleicht nicht mehr panisch reagieren, sondern sie als einzigartige Begegnung erleben, sagt López.
Außerdem, schreiben Ruth Esteban, Alfredo Lopez und andere Orca-Forschende in der Fachzeitschrift »Marine Mammals Science«, braucht es mehr Forschung, um das Verhalten der Schwertwale besser verstehen zu können. Zudem gelte es, eine Strategie zu entwickeln, damit das Seegebiet auch für kleine Boote weiterhin nutzbar bleiben kann.
Nicht nur Segler, auch Fischer würden von einem friedlichen Miteinander profitieren. Jörn Selling berichtet von Beobachtungen, wie Orcas nahe dem Küstenort Zahara de los Atunes mit Hilfe der Fischer Tunfische einkreisen und dabei Wale und Menschen mehr Tunfische erbeuten.
Kooperation statt Konkurrenz heißt also das Stichwort. Sich aufeinander einzulassen, soll ein friedliches Miteinander von Menschen und Meeressäugern ermöglichen – dann hätten allerdings noch immer die Tunfische das Nachsehen.
Anm. d. Red.: In einer früherenn Version dieses Artikel hieß es, die Attacke habe »1000 Meilen östlich der Galapagosinseln« stattgefunden. Wir haben das korrigiert.*
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