Ozeane: Ungeheure Vielfalt
Zehn Jahre wurde geforscht, nun liegt das große Zwischenfazit vor: Das Leben in den Ozeanen ist vielfältiger, als sich Biologen je erträumt hatten.
Vor 140 Jahren begann die systematische Erforschung des Meeres: Am 21. Dezember 1870 stach die HMS Challenger vom englischen Hafen Portsmouth aus in See, um in den nächsten dreieinhalb Jahren kreuz und quer durch alle Weltmeere zu fahren. Ihr Ziel: mehr über das Leben und seine Grundlagen in den Ozeanen herauszufinden. Bis dahin beschränkte sich das Wissen über die Meere vor allem auf küstennahe Gebiete, die leicht zu erreichen waren. Die Tiefsee galt dagegen als Mare incognita, in der allenfalls gefährliche Monster hausen, die es zu meiden galt.
Im Verlauf der Reise holten die Wissenschaftler an Bord unzählige Proben mit ihren Schleppnetzen aus der Tiefe – randvoll mit damals sensationellen Funden: Sie entdeckten stammesgeschichtlich uralte Tiefseekorallen, Seelilien, Fische oder Kraken. In den Netzen verfingen sich Manganknollen, die heute die Begehrlichkeiten von Rohstofffirmen wecken. Und die Lotungen zeigten, wie ausgedehnt die Tiefseebecken sind. Insgesamt katalogisierte die Expedition über 4700 Arten, was John Murray – einer der führenden Ozeanforscher der damaligen Zeit und Teilnehmer der Fahrt – entsprechend enthusiastisch würdigte: "Wir haben den größten Wissensgewinn über unseren Planeten erzielt seit den gefeierten Entdeckungen des 15. und 16. Jahrhunderts."
Konzertierte Aktion
Hunderte von Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen trugen staatenübergreifend die weltweit verstreuten Daten zusammen, gingen gemeinsam auf Forschungsfahrten und fischten neues Arbeitsmaterial aus allen Welt- und Nebenmeeren. "Der Zensus brachte endlich Ordnung ins Chaos der zuvor weit verstreuten Daten", meint Patricia Miloslavich von der Universidad Simon Bolivar in Caracas. Und das nicht zu früh, wie Mark Costello von der University of Auckland und einer der Hauptautoren des jetzt vorgelegten, ersten großen Zwischenberichts betont: "Diese Inventur war aus zwei Gründen dringend nötig: Da Taxonomen zunehmend seltener werden, schwinden unsere Möglichkeiten, neue Arten zu entdecken und zu beschreiben. Und zum anderen haben viele Meereslebewesen auf Grund menschlicher Einflüsse schon dramatische Bestandseinbußen erlitten."
Rund um den blauen Planeten registrierten die Beteiligten, wie sehr die Menschheit die Meere verschmutzt, überfischt, mit eingeschleppten Arten belastet, durch Überdüngung erstickt oder durch Kohlendioxidemissionen übersäuert. "Die Ozeane sind schwer unter Druck geraten, und ihre Bewohner haben keine Stimme in nationalen oder internationalen Gremien. Doch sie leiden und müssen gehört werden", fasst es Nancy Knowlton von Smithsonian Institution in Washington in dramatische Worte.
Bedrohte Nebenmeere
Gerade die Nebenmeere wie die Ostsee, das Mittelmeer oder der Golf von Mexiko, die von dicht besiedelten Landmassen umschlossen sind, leiden unter der kombinierten Wirkung schädlicher Einflüsse. So tummeln sich zwischen der Straße von Gibraltar und dem Bosporus bereits über 600 exotische Tier- und Pflanzenarten, die dort ursprünglich nicht vorkamen. Ein Teil davon eroberte das Mittelmeer über den Sueskanal vom Roten Meer aus. Andere stammen wie die indopazifische Alge Caulerpa taxifolia – die mancherorts die wertvollen Seegraswiesen im westlichen Mittelmeer überwuchert – aus Aquarien oder wurden mit Schiffen in die Region verschleppt. Auf der anderen Seite stehen die großen Haie der Region ebenso wie der Rote Tunfisch vor der Ausrottung, weil sie überfischt werden. Und immer noch strömen riesige Mengen an Abwasser ins östliche Mittelmeer aus Mangel an Kläranlagen vor Ort.
Füllhorn neuer Arten
Doch trotz dieser für die Forscher teils schockierenden Funde, überwogen insgesamt die erfreulichen Entdeckungen. "Auch wenn sich in den Jahrzehnten meiner wissenschaftlichen Arbeit auf und im Meer sehr viel verändert hat, so bleiben die Ozeane doch eine wundersame und anregende Welt", so Knowlton.
Mittlerweile haben die am Zensus beteiligten Forscher mehr als 230 000 unterschiedliche Tier- und Pflanzenarten zusammengetragen und in einer Datenbank erfasst. Doch dürfte dies nur die Spitze des Eisbergs sein, schätzt William Eschmeyer von der California Academy of Sciences in San Francisco: "Wir kennen nun rund 17 000 Meeresfischarten und entdecken 100 bis 150 neue Arten pro Jahr. Wir schätzen, dass es da draußen noch mindestens 5000 unbekannte Spezies gibt." Und bei anderen Gruppen sieht es noch gravierender aus – völlig unbekannt sind zum Beispiel die Dimensionen, die mikrobielles Leben im Ozean einnehmen könnte.
Unbekannte Mehrheit
Bei den höheren Lebewesen könnten auf jede wissenschaftlich beschriebene Art weitere vier kommen, die es noch zu entdecken gilt. In der Antarktis, der Tiefsee oder rund um Australien sind womöglich zwischen 50 und 80 Prozent aller Lebewesen unbekannt. Allein in neuseeländischen Gewässern harren noch 4100 Spezies ihrer Beschreibung, obwohl sie bereits in den Archiven der Museen lagern – tausende weitere Kreaturen dürften sich noch rund um die Inseln verbergen.
Dank an die Technik
Dennoch lieferte der Zensus dank modernster Technologie auch bei den größeren und bekannteren Arten völlig neue Einblicke in das Leben der Tiere: Mit Hilfe kleiner Sender und Kameras konnten die Biologen dokumentieren, dass Albatrosse mit Schwertwalen jagen gehen, wie Seeelefanten im Wasser ruhen oder wo sich Hammerhaie versammeln, um sich fortzupflanzen. Durch die internationale Kooperation wurde zudem ein völlig unerwarteter Kosmopolit enttarnt: Der Viperfisch Chauliodus sloani tauchte bislang in einem Viertel aller untersuchten Meeresbecken auf. Andere Arten beschränken sich dagegen auf räumlich eng begrenzte Lebensräume: Besonders viele Endemiten leben zum Beispiel rund um Australien, Neuseeland, Südafrika oder die Antarktis, während in der Ostsee nur die Braunalge Fucus radicans einzigartig ist.
Geht es weiter?
Charles Wyville Thomson, der Expeditionsleiter der "Challenger" betrachtete die dunklen Weiten zwischen der Meeresoberfläche und dem Tiefseeboden als leblose Einöde, verglichen mit den Küsten oder dem Grund. Ein Irrtum: Genau hier jagen Riesenmaulhaie und Riesenkraken oder wabern geleeartige Quallen und Salpen durch die Wassersäule. "Im offenen Wasser der Tiefsee wimmelt es nur so von Leben", sagt Tom Webb von der University of Sheffield.
Webb und seine Kollegen hoffen nun, dass der Zensus in welcher Form auch immer 2011 weitergeht, nachdem sein offizielles Ende für dieses Jahr vorgesehen ist. Ron O’Dor von der University of Sheffield bringt es auf eine kurze Formel: "Wir wissen jetzt, wie es geht. Nun benötigen wir nur das Bekenntnis von Politik und Öffentlichkeit, dass wir unsere Arbeit rund um die Erde fortsetzen können."
Im Verlauf der Reise holten die Wissenschaftler an Bord unzählige Proben mit ihren Schleppnetzen aus der Tiefe – randvoll mit damals sensationellen Funden: Sie entdeckten stammesgeschichtlich uralte Tiefseekorallen, Seelilien, Fische oder Kraken. In den Netzen verfingen sich Manganknollen, die heute die Begehrlichkeiten von Rohstofffirmen wecken. Und die Lotungen zeigten, wie ausgedehnt die Tiefseebecken sind. Insgesamt katalogisierte die Expedition über 4700 Arten, was John Murray – einer der führenden Ozeanforscher der damaligen Zeit und Teilnehmer der Fahrt – entsprechend enthusiastisch würdigte: "Wir haben den größten Wissensgewinn über unseren Planeten erzielt seit den gefeierten Entdeckungen des 15. und 16. Jahrhunderts."
Doch trotz ihres Eifers kratzten auch Murray und seine Kollegen, die Geheimnisse der Tiefsee nur oberflächlich an – ein Zustand, der bis ins 21. Jahrhundert angehalten hat. Aus diesem Grund initiierte 1999 eine internationale Gruppe renommierter Ozeanforscher ein einmaliges Projekt: den "Census of Marine Life". Innerhalb von zehn Jahren sollte diese "Volkszählung im Meer" unser "vorhandenes Wissen bündeln und neues sammeln", wie Antje Boetius vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven erklärt (siehe Interview).
Konzertierte Aktion
Hunderte von Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen trugen staatenübergreifend die weltweit verstreuten Daten zusammen, gingen gemeinsam auf Forschungsfahrten und fischten neues Arbeitsmaterial aus allen Welt- und Nebenmeeren. "Der Zensus brachte endlich Ordnung ins Chaos der zuvor weit verstreuten Daten", meint Patricia Miloslavich von der Universidad Simon Bolivar in Caracas. Und das nicht zu früh, wie Mark Costello von der University of Auckland und einer der Hauptautoren des jetzt vorgelegten, ersten großen Zwischenberichts betont: "Diese Inventur war aus zwei Gründen dringend nötig: Da Taxonomen zunehmend seltener werden, schwinden unsere Möglichkeiten, neue Arten zu entdecken und zu beschreiben. Und zum anderen haben viele Meereslebewesen auf Grund menschlicher Einflüsse schon dramatische Bestandseinbußen erlitten."
Rund um den blauen Planeten registrierten die Beteiligten, wie sehr die Menschheit die Meere verschmutzt, überfischt, mit eingeschleppten Arten belastet, durch Überdüngung erstickt oder durch Kohlendioxidemissionen übersäuert. "Die Ozeane sind schwer unter Druck geraten, und ihre Bewohner haben keine Stimme in nationalen oder internationalen Gremien. Doch sie leiden und müssen gehört werden", fasst es Nancy Knowlton von Smithsonian Institution in Washington in dramatische Worte.
Bedrohte Nebenmeere
Gerade die Nebenmeere wie die Ostsee, das Mittelmeer oder der Golf von Mexiko, die von dicht besiedelten Landmassen umschlossen sind, leiden unter der kombinierten Wirkung schädlicher Einflüsse. So tummeln sich zwischen der Straße von Gibraltar und dem Bosporus bereits über 600 exotische Tier- und Pflanzenarten, die dort ursprünglich nicht vorkamen. Ein Teil davon eroberte das Mittelmeer über den Sueskanal vom Roten Meer aus. Andere stammen wie die indopazifische Alge Caulerpa taxifolia – die mancherorts die wertvollen Seegraswiesen im westlichen Mittelmeer überwuchert – aus Aquarien oder wurden mit Schiffen in die Region verschleppt. Auf der anderen Seite stehen die großen Haie der Region ebenso wie der Rote Tunfisch vor der Ausrottung, weil sie überfischt werden. Und immer noch strömen riesige Mengen an Abwasser ins östliche Mittelmeer aus Mangel an Kläranlagen vor Ort.
Ostsee und Golf von Mexiko kämpfen dagegen vor allem mit Überdüngung, weil ihre Zuflüsse zu viele Nährstoffe ins Wasser tragen: Sie lösen starke Algenblüten aus, die nach ihrem Absterben den gesamten im Wasser gelösten Sauerstoff aufzehren – und Todeszonen entstehen lassen, in denen kein Fisch überlebt. Zwischen China und Japan wiederum machten Quallenplagen Schlagzeilen: Durch Überfischung war das Ökosystem durcheinandergeraten und mangels Fressfeinden konnten sich die Glibberwesen ungehemmt ausbreiten. Bald verstopften sie die Netze der Fischer.
Füllhorn neuer Arten
Doch trotz dieser für die Forscher teils schockierenden Funde, überwogen insgesamt die erfreulichen Entdeckungen. "Auch wenn sich in den Jahrzehnten meiner wissenschaftlichen Arbeit auf und im Meer sehr viel verändert hat, so bleiben die Ozeane doch eine wundersame und anregende Welt", so Knowlton.
Mittlerweile haben die am Zensus beteiligten Forscher mehr als 230 000 unterschiedliche Tier- und Pflanzenarten zusammengetragen und in einer Datenbank erfasst. Doch dürfte dies nur die Spitze des Eisbergs sein, schätzt William Eschmeyer von der California Academy of Sciences in San Francisco: "Wir kennen nun rund 17 000 Meeresfischarten und entdecken 100 bis 150 neue Arten pro Jahr. Wir schätzen, dass es da draußen noch mindestens 5000 unbekannte Spezies gibt." Und bei anderen Gruppen sieht es noch gravierender aus – völlig unbekannt sind zum Beispiel die Dimensionen, die mikrobielles Leben im Ozean einnehmen könnte.
Unbekannte Mehrheit
Bei den höheren Lebewesen könnten auf jede wissenschaftlich beschriebene Art weitere vier kommen, die es noch zu entdecken gilt. In der Antarktis, der Tiefsee oder rund um Australien sind womöglich zwischen 50 und 80 Prozent aller Lebewesen unbekannt. Allein in neuseeländischen Gewässern harren noch 4100 Spezies ihrer Beschreibung, obwohl sie bereits in den Archiven der Museen lagern – tausende weitere Kreaturen dürften sich noch rund um die Inseln verbergen.
Neben den Fischen dominieren in den Listen bislang Weichtiere wie Schnecken, Muscheln oder Tintenfische sowie Krustentiere – Krebse, Garnelen, Krill oder Seepocken –, während Würmer, Algen oder Stachelhäuter wie Seeigel, Seesterne oder Seegurken noch unterrepräsentiert sind. Säugetiere, Vögel oder Reptilien fallen demgegenüber deutlich ab, sie stellen weniger als zwei Prozent der ozeanischen Artenvielfalt.
Dank an die Technik
Dennoch lieferte der Zensus dank modernster Technologie auch bei den größeren und bekannteren Arten völlig neue Einblicke in das Leben der Tiere: Mit Hilfe kleiner Sender und Kameras konnten die Biologen dokumentieren, dass Albatrosse mit Schwertwalen jagen gehen, wie Seeelefanten im Wasser ruhen oder wo sich Hammerhaie versammeln, um sich fortzupflanzen. Durch die internationale Kooperation wurde zudem ein völlig unerwarteter Kosmopolit enttarnt: Der Viperfisch Chauliodus sloani tauchte bislang in einem Viertel aller untersuchten Meeresbecken auf. Andere Arten beschränken sich dagegen auf räumlich eng begrenzte Lebensräume: Besonders viele Endemiten leben zum Beispiel rund um Australien, Neuseeland, Südafrika oder die Antarktis, während in der Ostsee nur die Braunalge Fucus radicans einzigartig ist.
Nach jetzigem Zwischenstand gelten die Meere um Australien und Japan mit je 33 000 Arten als die vielfältigsten, gefolgt vom Chinesischen und vom Mittelmeer sowie dem Golf von Mexiko. Allerdings warten die Wissenschaftler noch gespannt auf die Auswertungen für Indonesien – wo das extrem vielfältige Korallen-Dreieck neue Höchstwerte erwarten lässt –, Madagaskar und das Arabische Meer. Und immer noch verlangt die Tiefsee nach weiterer Aufklärungsarbeit – trotz der zahlreichen Studien, die während des Zensus über sie gemacht wurden.
Geht es weiter?
Charles Wyville Thomson, der Expeditionsleiter der "Challenger" betrachtete die dunklen Weiten zwischen der Meeresoberfläche und dem Tiefseeboden als leblose Einöde, verglichen mit den Küsten oder dem Grund. Ein Irrtum: Genau hier jagen Riesenmaulhaie und Riesenkraken oder wabern geleeartige Quallen und Salpen durch die Wassersäule. "Im offenen Wasser der Tiefsee wimmelt es nur so von Leben", sagt Tom Webb von der University of Sheffield.
Webb und seine Kollegen hoffen nun, dass der Zensus in welcher Form auch immer 2011 weitergeht, nachdem sein offizielles Ende für dieses Jahr vorgesehen ist. Ron O’Dor von der University of Sheffield bringt es auf eine kurze Formel: "Wir wissen jetzt, wie es geht. Nun benötigen wir nur das Bekenntnis von Politik und Öffentlichkeit, dass wir unsere Arbeit rund um die Erde fortsetzen können."
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