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Insektensterben: Pestizide schaden auch in geringsten Mengen

Was bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln nicht berücksichtigt wird: Selbst in geringen, nicht tödlichen Dosen verändern Pestizide das Verhalten von Insektenlarven und beeinträchtigen ihre Entwicklung.
Person in Schutzanzug sprüht Pestizide auf Feld
Als Pestizide werden viele unterschiedliche Stoffe bezeichnet, die als Pflanzenschutzmittel eingesetzt werden. Sie richten sich gegen Pflanzen (Herbizide), Insekten (Insektizide) oder Pilze (Fungizide).

Die Vielfalt an Insekten nimmt weltweit ab, was wahrscheinlich auf den Klimawandel und den Einsatz von Pestiziden zurückzuführen ist. Wie genau sich bereits geringe (nicht tödliche) Mengen gängiger Agrochemikalien auswirken, wurde bisher noch nicht systematisch untersucht. Eine Gruppe um Justin Crocker vom European Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Heidelberg testete nun ausgiebig, wie Taufliegen, Schmetterlinge und Stechmücken auf solche Substanzen reagieren. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie in der Fachzeitschrift »Science«.

Dank der großen chemischen Datenbank des EMBL konnten die Wissenschaftler den Einfluss von mehr als 1000 Insektiziden, Fungiziden, Herbiziden und Pflanzenwachstumshemmer auf Insekten erproben. Sie fütterten die Gifte entweder einzeln oder als Gemisch an Larven der Taufliege (Drosophila melanogaster), die von verschiedenen geografischen Standorten stammten. Per Video analysierte das Team ihr Verhalten. Außerdem interessierte es, aus wie vielen der Larven sich nach 10 Tagen adulte Fliegen entwickeln würden.

»Selbst kleine Verhaltensänderungen können sich auf die Fitness auswirken«Justin Crocker, Biologe

Als am tödlichsten stellten sich Insektizide heraus. Nichtdestotrotz veränderten 57 Prozent aller getesteten Stoffe das Verhalten der Larven – selbst in geringsten, nichttödlichen Mengen und auch solche, die sich eigentlich nicht gegen Insekten richten. Dabei hing abnormes Umherwandern der Larven am stärksten mit einer geringen Überlebensfähigkeit zusammen. Molekularbiologische Analysen deuteten darauf hin, dass ausgewählte Chemikalien, darunter Glyphosat, die physiologische Stressantwort triggern.

Temperaturerhöhungen verstärkten die negativen Effekte der Pestizide, wie die Fachleute in einem weiteren Experiment herausfanden. Dazu drehten sie die Temperatur in den Inkubatoren schrittweise hoch. Bei einer Erhöhung von 25 auf 29 Grad waren nun doppelt so viele Chemikalien akut tödlich. Die Forscher geben zu bedenken, dass es sich hierbei um sommerliche Temperaturbereiche in weiten Teilen der Welt handelt.

»Darüber hinaus haben wir einige der am häufigsten in der Luft vorkommenden Chemikalien in ökologisch relevanten Dosen gemischt und Larven erneut exponiert«, sagt Justin Crocker in einer Pressemitteilung. »Wir beobachteten daraufhin einen Einbruch der Legeraten um 60 Prozent, was auf einen Rückgang der Populationen hindeutet.« Auch beobachtete das Team häufigeres »Buckeln«: Hierbei krümmt sich die Larve in übertriebener Weise und rollt sich ein. »Oberflächlich betrachtet mag das unbedeutend erscheinen, aber selbst kleine Verhaltensänderungen können sich auf die Fitness auswirken, indem sie etwa die Nahrungsaufnahme, die Paarung und die Migration beeinträchtigen«, so Crocker weiter.

»Die Studie liefert wichtige erste Hinweise darauf, dass Pflanzenschutzmittel vielleicht noch mehr Nebenwirkungen haben könnten, als bisher vermutet.«Christoph Scherber, Ökologe

Die Ergebnisse bestätigten sich auch bei zwei medizinisch und ökonomisch relevanten Arten, nämlich dem Moskito (Anopheles stephensi) sowie einem wichtiger Bestäuber – dem Distelfalter (Vannesa cardui). »Insekten – selbst solche, die wie Schädlinge erscheinen – sind für unseren Planeten von entscheidender Bedeutung. Sie bestäuben die Pflanzen, die wir essen, und sind ein wichtiger Teil des Nahrungsnetzes«, sagt Erstautor Lautaro Gandara. Die nächste Generation von Pestiziden sollten den Autoren zufolge umfassend auf nichttödliche Effekte bei verschiedenen Arten getestet werden.

»Diese Studie ist eine der ersten ihrer Art, und das Team hat entsprechend vorsichtig formuliert – aber die Bedeutung der Ergebnisse unter Realbedingungen werden erst in zukünftigen Studien aufgezeigt werden können. Zunächst einmal liefert die Studie wichtige erste Hinweise darauf, dass Pflanzenschutzmittel vielleicht doch noch mehr Nebenwirkungen haben könnten, als bisher vermutet. Es liegt also noch viel Arbeit vor uns«, äußerte sich Christoph Scherber, Leiter des Zentrums für Biodiversitätsmonitoring am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels, Bonn, gegenüber dem Science Media Center.

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